604. Silberhohl.710

[553] In der Gegend zwischen Seesen und dem neuen Krug liegt eine Stätte, Silberhohl geheißen; sie ist beinahe rund und mehrere Fuß tiefer als der Boden rings umher, ganz von Sumpfmoosen überwuchert, an dieser ist es nicht ganz richtig. Vor vielen Jahrhunderten stand hier eine stattliche Burg, auf welcher es immer hoch herging mit Trinken und Spielen und Jubiliren. Die adligen Herren darauf thaten, als ob die ganze Welt ihnen gehöre, und Manches gehörte ihnen auch, alles das nämlich, was sie durch Raub und Plündern erreichen konnten, denn sie lebten vom Stegreife und waren gefürchtet rings umher ihrer Grausamkeit und Rohheit wegen. Man konnte auch wirklich sagen, daß auf der ganzen Burg nicht ein einziges frommes Herz schlug, als das des jungen Fräuleins Jutta. Die liebte man in der ganzen Gegend, weil sie so gut war, und oft, wenn das wüthende Heer ausgezogen war, still zu den Armen und Kranken, selbst zu den Beraubten hinging und ihnen Nahrung, ersparte Goldstücke und Kleinodien brachte. Darum verehrten sie auch alle Dürftigen wie eine Heilige.

Einst hatten die Ritter ein ungeheures Bubenstück begangen; mit dem Blute friedlicher Menschen bespritzt, deren Habe sie geraubt hatten, kehrten sie zurück in die Burg; bald standen die vollen Humpen auf den eichenen Tafeln und das unzüchtige Gelage begann. Da rollte auf einmal ein ungeheurer Donner am Gewölbe des Himmels dahin, ein gewaltiger Blitzstrahl zuckte nieder, die Erde bebte, öffnete sich, die Mauern der Burg wankten, der Thurm krachte nieder und mit einem entsetzlichen Getöse, das man meilenweit hörte, stürzte Alles in den gähnenden Abgrund hinab, der sich plötzlich wieder schloß. Nur eine Vertiefung blieb, dem Wanderer Kunde zu geben von dem versunkenen Raubschlosse. Aus der Nähe und Ferne kamen Manche, die Stätte des göttlichen Strafgerichts zu schauen, und nicht selten hörte man das unter Seufzen gesprochene Wort: »Ach die arme Jutta!« Nicht lange darauf lag in einem benachbarten Dorfe eine arme Frau auf dem Krankenbette, eine Wittwe. Sie hatte eben recht herzlich geweint, denn sie hatte sehen müssen, wie sich ihre drei Kindlein hungrig auf ihr hartes Lager gelegt hatten. Nun schliefen sie sanft; der Engel des Herrn hatte ihnen die Aeuglein zugedrückt und wachte über sie und gab ihnen süße Träume in[553] das Herz. Die Mutter faltete die Hände und betete für die Kinder und sprach dann: »Ach, wenn die liebe Jutta noch lebte!«

Da öffnete sich leise die Thür und herein schwebte eine leichte Gestalt in weißem Schleier, um ihr Haupt schlang sich ein Strahlendiadem, das ein wunderbares Licht über das Lager der Kranken goß. »Jutta!« rief diese, und die Gestalt winkte mit der Hand und blickte freundlich auf die Kinder hin, setzte dann ein eigenthümlich geflochtenes Körbchen auf den Tisch, schlug ein Kreuz über die Mutter und verschwand dann leise, wie sie gekommen war.

Ein tiefer Schlaf überfiel plötzlich die kranke Wittwe; als sie am andern Morgen erwachte, war sie frisch und gesund, es däuchte ihr Alles wie ein Traum und nur, als sie das wundersame Körbchen in die Hand nahm, das gefüllt mit Goldstücken auf dem Tische stand, nur da erkannte sie, daß der Geist der lieben frommen Jutta bei ihr gewesen, und sie sank auf die Kniee und dankte dem Herrn und seinen Heiligen. So ist die liebe Jutta noch vielen leidenden Frauen erschienen und hat ihnen Segen und Freude gebracht.

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Nach Hoffmann S. 109. u. Sagen u. Gesch. aus der Vorzeit des Harzes S. 499 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 553-554.
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