608. Der Bielstein.715

[559] Ein junger Bauerbursch hatte sich bei Lautenthal verloren und konnte sich nicht wiederfinden. Nach vielem Bergauf- und Bergabklettern kommt er dahin, wo der Bach herunterfließt, er wird die Laute genannt, da wo die hohen Felsen stehen. Immer weiß er noch nicht, wo er ist; es wird schon finster und die Vögel haben auch die Köpfe schon unter die Flügel gesteckt und fangen an zu schlafen. Da hört er mit einem Male eine Rabenstimme, die krächzte ganz gefährlich. Er wendet sich um und sieht einen großen, großen Raben, der hat ein goldenes Halsband und auf dem Rücken ein allerliebstes Mädchen. Das Mädchen steigt von dem Raben ab, der Bergbursche hin nach ihm und das niedliche Kind kommt auf ihn zu und reicht ihm die Hand und spricht, er solle mit ihm gehen. Natürlich er thut es und geht mit. Es führt ihn an den Felsen, zieht ein Stöckchen aus dem[559] Busen und klopft dreimal an den Stein, da thut sich der Felsen auf und sie gehen mit einander hinein. »Ach, mein Lieber«, sagte das Mädchen, »willst Du mir einen Gefallen thun und mich unglückliches Geschöpf erlösen? Ich bin von einer bösen Hexe verwünscht und kann nur alle hundert Jahre einmal drei Tage Mensch werden. Jetzt ist schon der zweite Sag vorbei, morgen ist der letzte, dann muß ich wieder hier in diesem dunkeln Felsen sitzen und hundert Jahre warten, ehe ich wieder Mensch werde, wenn mich Keiner bis morgen erlöst.« – »Ja«, sagte der Bergbursch, »womit kann ich Dich denn erlösen?« – »Ach«, spricht sie ganz traurig und betrübt, »komm morgen mit drei weißen Rosen hierher, die Höhle wird offen sein; Du mußt Dich aber nicht fürchten, auch bei Leibe nicht sprechen. Dann machst Du ein Feuer hier auf dieser Stelle an, das Holz mußt Du mit hereinbringen, und wirfst die drei Rosen in's Feuer, daß sie verbrennen, dann bin ich erlöst und Du wirst reich und glücklich.« Der Bergbursche verspricht ihr, er will Alles thun. Nun stehen da große Truhen voll Gold und schöner Edelsteine. »Hier«, sagt sie, »nimm Dir einstweilen so viel Du willst, damit Du siehst, ich meine es treu, und Du bist gewiß auch treu und hältst Wort.« Er schwört sogar, daß er Wort halten will; darauf steckt er sich die Taschen voll Gold und Edelsteine, dann bringt ihn das Mädchen auf den rechten Weg, daß er sich nach Haus finden kann. Er ist gar nicht weit von Lautenthal gewesen und weiß nun gleich Bescheid. Des andern Morgens läuft er in ganz Lautenthal herum und kann erst keine einzige, viel weniger drei weiße Rosen kriegen, denn es ist Winter gewesen, wo man keine weißen Rosen hat. Endlich kriegt er doch noch seinen Willen und freut sich wie ein König, daß er noch drei weiße Rosen kriegt; es ist schon Dämmerung gewesen und die höchste Zeit. Nun läuft er gleich hin nach dem Felsen, jetzt nennt man's den Bielstein, der ist offen. Er sucht sich erst einen Arm voll Aeste; Stahl, Stein und Schwamm und Schwefelstücken hat er auch mit und geht in die Höhle. Es ist noch Alles wie gestern, nur das hübsche Mädchen ist nicht da. Er legt nun das Holz zurecht und macht Feuer. Wie er aber den Schwefelstock anstecken will, so kommt ein furchtbarer großer Kerl und giebt ihm eine Ohrfeige, daß ihm die Gedanken vergehen und er besinnungslos zur Erde fällt. Wie lange er dagelegen hat, das weiß er nicht, endlich macht er sich auf und kriecht heraus und nach Hause. Von der Zeit an hat er nur alle Tage ein Paar Worte sprechen können, sonst ist er stumm gewesen. Da hat er denn nach und nach die Geschichte erzählt. Zu arbeiten hat er nicht gebraucht, denn er hat von dem Geschenk doch genug zu leben gehabt. Alt ist er aber nicht geworden, und von dem hübschen Mädchen hat Keiner wieder was gehört. Sie sitzt wahrscheinlich noch im Bielstein.

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S.A. Ey, Harzmärchenbuch. Stade 1862 in 8°. S. 35.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 559-560.
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