651. Der grünende Peitschenstock.765

[612] Wo die Huyberge in einen Kranz von Hügeln verlaufen, tritt inmitten das fleißige Städtchen Schwanebeck aus den fruchtbaren Gefilden hervor. Im Jahre 1334 war daselbst aus der Pfarrkirche ein Kästchen mit sieben geweihten Hostien gestohlen worden. Als bald nachher ein Knecht auf einem dem Kloster St. Burchard zu Halberstadt gehörigen Ackerstück unweit dem Städtchen pflügte, fielen plötzlich die Pferde nieder und waren durch nichts wieder zum Aufstehen zu bringen. Der Knecht, etwas Wunderbares ahnend, steckte, um die Stelle zu bezeichnen, den Peitschenstock in die Erde, eilte nach Schwanebeck und erzählte den Geistlichen, was er eben Erstaunliches erlebt habe. Auch diese ahnten sogleich ein Wunder, zogen in feierlicher Prozession mit der Gemeinde auf dem nachmals so genannten Herrgotts-Grasewege hinaus, und siehe! der Peitschenstock grünte und die Pferde knieeten andächtig noch immer daneben. Unter andächtigem Singen und Beten wurde nun nachgegraben und man fand das Kästchen mit den geweihten Hostien. Der Pfarrer meldete hierauf die wunderbare Begebenheit sogleich dem Bischof von Halberstadt Albert II., und dieser ließ an dem Wunderort eine Kapelle aufbauen und selbige in einiger Entfernung mit einer hohen Mauer umziehen. Neben der Kanzel ward ein Gemälde aufgehangen, welches darstellte, wie die Pferde knieen und der Knecht vergebens sie mit Peitschenhieben zum Aufstehen zwingen will. Darunter standen mehrere vom Bischof unterschriebene Verse in lateinischer Sprache, in welchen dieses wunderbare Ereigniß mit dem von Bileams Esel verglichen wird. Alsbald nach der bischöflichen Einweihung begannen die Wallfahrten aus allen Theilen Deutschlands nach der Herrgotts-Kapelle[612] und es ereigneten sich Wunder über Wunder. Ein Verzeichnis derselben mit den Namen der Geheilten und ihrer Wohnorte war hinter dem Altar zu lesen. Blinde wurden sehend, Taube hörend, Lahme gehend und den Gefangenen fielen die Fesseln ab. So lagen unter andern hinter dem Altare schwere Ketten, die einst in der Türkei ein gefangener Pilgrim getragen und von denen derselbe Kraft der in hiesiger Kapelle für ihn gehaltenen Gebete frei geworden war. Da überdies den Wallfahrern 1087 Tage Ablaß auf 64 Jahre in Aussicht gestellt war, so erhob sich die Kapelle bald zu einem der berühmtesten und besuchtesten Wallfahrtsorte. Besonders 14 Tage vor Pfingsten, am Frohnleichnamsfeste geschah die große, und 14 Tage nach Ostern die kleine Wallfahrt. Fahnen voraus sah man die Schaaren paarweise geordnet und singend umherziehen. Sobald eine solche Schaar vom Thurme der Kapelle wahrgenommen wurde, begrüßte sie das helle Glöcklein, der Küster ging ihr mit der Kirchenfahne und ein Chorknabe mit dem Crucifix entgegen. So wurden die Bürger unter Sang und Klang in die Kapelle eingeführt, stellten ihre Fahnen in der Nähe des Altars auf, verrichteten vor einem Marienbilde ihre Andacht und legten vor demselben ihre Geschenke, bestehend in Flachs, feiner Leinwand, Geld etc. nieder. An den oben genannten Hauptfesten wurde Prozession, Messe und Predigt gehalten. Zur Feier der Hauptfeste und auch sonst wohl erschienen der Propst, die Aebtissin und einige Nonnen des Burchardiklosters, um die Gaben in Empfang zu nehmen. Allmälig gelangte die Kapelle zum Besitz mehrerer Hufen Landes, eines Baumgartens und Fischteiches, allein im Jahre 1810 ward sie säcularisirt und ihre Besitzungen eingezogen.

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S. Sagen aus der Vorzeit des Harzes S. 253.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 612-613.
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