300. Der Traum des Fischerknaben Benjamin Kohl.366

[246] An der rechten Ecke des Durchgangs vom alten zum neuen Fischerufer zu Magdeburg steht ein Haus, in welchem zur Zeit der Erstürmung und Zerstörung Magdeburgs die Eltern eines damals ohngefähr 10jährigen Knaben, Sohnes des Fischers Kohl, wohnten. Am 10. Mai des Jahres 1631 lagen schon am frühen Morgen alle Schüler in den Schulen auf den Knieen und beteten mit ihren Lehrern, daß der liebe Herr Gott die Erstürmung der Stadt und den voraussichtlich darauf folgenden Untergang derselben in Gnaden abwenden wolle. Noch vor 8 Uhr aber verkündigte der Lärmschlag mit den Sturmglocken, daß der Feind im Einrücken begriffen und die Stadt übergeben sei. Der eisgraue Lehrer, deß Namen nicht auf die Nachwelt gekommen ist, entließ die Kinder auf Nimmerwiedersehen und die armen Kinder eilten nun sämmtlich die Bücher unter dem Arm nach Hause zu den Ihrigen. Die Straßen aber waren von fliehenden Einwohnern und fremdem Kriegsvolk so voll gestopft, daß obgedachter Kohl unmöglich durchkonnte, er flüchtete sich also aus dem Getümmel und Gemetzel in kleine entlegene Gassen, und kam endlich auch in ein Brauhaus, wo er aber auch nicht blieb, sondern sich in den Hof flüchtete und sich dort in ein großes Braufaß verkriechen wollte, aber in demselben bereits einen Insassen fand, eine schöne Jungfrau, die ihn flehentlich bat, ihr doch um Gotteswillen männliche Kleidungsstücke zu bringen, sie wolle ihn reich dafür belohnen. Er entfernte sich auch, gerieth unter die Kroaten und ward von diesen genöthigt, ihnen einen schweren Korb mit erbeuteten Kostbarkeiten bis in ihr Quartier, das neben dem Hause seiner Eltern befindlich war, zu tragen. Von hier aus gelang es ihm auch, in letzteres zu gelangen, er fand aber Niemanden mehr darin und überhaupt Alles verwüstet und zerwühlt, allein er entdeckte auch einige alte als werthlos zurückgelassene Mannskleider, die er eilig aufraffte und damit dem Brauhofe zueilte. Mittlerweile war aber derselbe mit den andern Nachbarhäusern in Brand gerathen und er hoffte schon nicht mehr auf das Wiederfinden der Jungfrau, als er sich vom Hofe aus rufen hörte und sah, wie das Mädchen aus einem alten Fasse herauskroch. Er händigte ihr nun die erbetenen Kleidungsstücke ein, das Mädchen legte sie an und bat ihn, er möge sie für seinen Bruder ausgeben. Sie verließen nun zusammen die Brandstätte und flüchteten für die Nacht in das wüste Haus seiner Eltern, eins der wenigen (139) Häuser, die überhaupt an jenem Schreckenstage nicht in Flammen aufgegangen waren. Am andern Morgen fielen aber Beide abermals den Kroaten in die Hände, welche sie zu den niedrigsten Diensten gebrauchten, jedoch am Leben ließen und am Abend mit ins Lager nahmen. Dort blieben sie einige Tage, wo[246] es ihnen dann auf ihr Bitten glückte, nach Wanzleben zu entkommen, an welchem Orte ein Vetter des Knaben Schlosser war. Bei diesem angekommen, entdeckte die Jungfrau der Schlossersfrau ihr Geschlecht und ihre Herkunft und blieb auch in diesem Hause in der männlichen Kleidung eines Schlosserlehrlings, bis endlich ein vornehmer Cavalier, ein schwedischer Offizier, der wie sich später ergab, der Bruder des Mädchens war, sich hier einstellte und nach gehaltener heimlicher Unterredung dieselbe, welche mittlerweile wieder weibliche Tracht angelegt hatte, mit sich in einem Wagen fortführte, den Fischerknaben aber, ihren Retter, als ihren Diener mitnahm. So kamen sie bis Wolmirstädt, wo sie einige Tage blieben, aber plötzlich wieder schnell aufbrechen mußten, weil die von Gustav Adolph bei Werben geschlagenen Kaiserlichen sich der Stadt näherten. Allein es half ihnen nichts, kaiserliche Reiter überfielen sie auf der Flucht, plünderten sie aus und nahmen sie sämmtlich gefangen, wiewohl es bald darauf dem Knaben gelang, in der Finsterniß zu entschlüpfen. Es gelang demselben auch, auf Umwegen die Stadt Wanzleben wieder zu erreichen und unversehrt zu seinen Verwandten zu gelangen.

Eine Woche ohngefähr mochte vergangen sein, da träumte dem Knaben: ein Engel im weißen Kleide mit Goldflügeln stehe an seinem Lager und rufe ihn. Als er nach diesem sehr lebhaften Traume erwachte, sah er sein kleines Schlafzimmer hell erleuchtet. Die Stubenthür stand weit offen und von der ziemlich geräumigen Hausflur, von woher das Licht helle in sein Zimmer drang, tönte der Gesang des Chorals: »Jesus meine Zuversicht« herein. Dem Knaben war genau bekannt, daß im Hause Niemand gestorben sei, den man etwa beerdigen könne; daher glaubte er noch immer zu träumen, bis er aus dem Bette aufstand, sich der Thür näherte und neugierig hinausblickte. Aber wie erschrack er, als er mitten im Hausflur die schwarze Bahre, darauf der Sarg mit einer schön geschmückten Leiche und rund herum schwarzgekleidete Männer und Frauen, auch darunter einen Priester sah, welcher die aufgeschlagene Bibel in der Hand hielt. Die Leiche, die umstehenden Männer und Frauen kamen ihm alle bekannt vor, nur das Gesicht des Priesters war ihm fremd. In der Leiche erkannte er schon die Jungfrau, welche er aus dem Brauhofe gerettet hatte. Bleich und mit geschlossenen Augen lag sie im offenen Sarge, die blonden Flechten ihres schönen Haares reichten an beiden Seiten der Wangen bis auf den Busen herab, in den über dem Schooße gefalteten Händen hielt sie einen halbzerrissenen Myrthenkranz mit Rosen durchwebt, aber o Wunder! aus dem Kranze keimten Wurzeln empor, welche in einen vollkommenen, mit grünen Zweigen und Blättern versehenen Baum ausliefen, der wie ein Christbaum anzusehen und mit bunten Lichtern geschmückt war. Er trug aber statt des Zuckerwerkes und der vergoldeten Aepfel und Nüsse, die man gewöhnlich an einem solchen Baume zu erblicken pflegt, lauter Waffen und kriegerische Geräthe, als Trommeln, Pfeifen, Pauken, Schwerter, Lanzen, Musketen, oben aber an der Spitze zwei schwarz und weiße Fahnen. Die umstehenden Trauerleute waren aber sein Vater, seine Mutter, sein Bruder, sein Lehrer und andere Bekannte aus seiner Vaterstadt, lauter Personen, die schon lange hinübergegangen waren ins Himmelreich. Als der leise Gesang derselben vorüber war und die Frauen und Männer ihre Gesangbücher zusammenklappten, da trat der Priester einen[247] Schritt näher an den Sarg und schien sprechen zu wollen, als zwischen die ganze Gesellschaft der Engel im weißen Kleide mit den glänzenden Goldflügeln schritt, den er kurz vorher im Traume gesehen hatte. Die goldenen Flügel des Engels verbreiteten aber einen so überaus hellen Glanz, daß der Knabe auch das kleinste Stäubchen hätte erkennen können, und siehe, er sah, daß die Züge des Engels dieselben waren, wie die des jungen Cavaliers, der die Jungfrau von Wanzleben abgeholt hatte. Noch ehe aber der Priester zum Sprechen kam, trat der Engel zwischen ihn und die Leiche, legte den rechten Zeigefinger auf die Stirn des Mädchens und sagte: »Das Mägdlein ist nicht todt, sondern es schläft!« Augenblicklich richtete sich die Jungfrau im Sarge auf, stieg rüstig von der hohen Bahre herab und schritt an der Hand des Engels aus dem Kreise der Umstehenden. Da erloschen die Lichter, die Männer und Frauen entfernten sich und der ganze Zauber war verschwunden, so daß Benjamin der Fischerknabe, noch immer in der Thür seines Schlafgemachs stehend, nur die dumpf wiederhallenden Schritte vernahm. Ein eiskalter Schauer durchbebte den erschrockenen Knaben, er legte sich wieder in sein Bett und erzählte am Morgen, als er aufgestanden war, das wunderbare Gesicht seiner Muhme, der Ehefrau des Schlossers, die jedoch die Vermuthung aufstellte, er möge wohl Alles geträumt haben. Als er später mit seinem Vetter nach Magdeburg kam, fand er bei vielen seiner Bekannten ein Bild vor, welches den Sarg mit der Leiche der Jungfrau gerade so darstellte, wie ihm Alles zu Wanzleben im Traume vorgekommen war. Auch hörte er, daß am 20. Juli ein Mönch zu Kloster Berge dem zerstörten Magdeburg eine Leichenpredigt gehalten und darin angeführt habe, es sei die Jungfrau Magdeburg aus diesem irdischen Jammerthal abgerufen und mit Feuer, Trommeln und Pfeifen gut soldatisch begraben worden. Diese Predigt war auch in der That zur angegebenen Zeit und an dem genannten Orte von einem Mönch gehalten worden, allein es erschien bald darauf eine zweite Schrift unter dem Titel: Magdeburgum redivivum oder das wiederauflebende Magdeburg, welche die Predigt des Mönchs widerlegte, und das vorgedachte Bild zum Titelkupfer hatte.367 Im nächsten Jahre ist der junge Cavalier wieder nach Magdeburg gekommen, hat den Knaben reichlich beschenkt, und die Jungfrau selbst hat sich an den schwedischen Rath Christoph Schulze, der sich damals unter den schwedischen Commissarien zu Magdeburg befand, verheirathet. Jener Traum ist aber herrlich in Erfüllung gegangen, die Stadt Magdeburg ist schöner und glänzender aus ihren Trümmern erstanden und grünt und blüht unter dem schwarz-weißen Panier.

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Nach Relßieg Bd. I. S. 196 etc. cf. Vulpius S. 122.

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Befindet sich auch bei Relßieg a.a.O.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 246-248.
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