324. Die heilige Eiche in dem Kreuzhorst bei Magdeburg.393

[274] Ohnweit Magdeburg zwischen der alten und neuen Elbe, dem Dorfe Salpke gegenüber, liegt ein schöner, durch seine herrlichen Eichen berühmter Forst, der sogenannte Kreuzhorst. Derselbe diente im Mittelalter namentlich zahlreichen Wegelagerern, die von hier aus die Straßen unsicher machten, als Aufenthalt und Versteck, allein es werden von ihm auch verschiedene Sagen erzählt. Er gehörte früher als Klostergut dem vom Erzbischof Gero im Jahre 1022 gestifteten und vom Erzbischof Norbert 1126 mit Prämonstratenser-Mönchen besetzten Kloster zu Uns. L. Frauen. Einst soll Letzterer sich in diesem Walde, den er des Lustwandelns wegen betreten hatte, verirrt haben und an einen freien Platz, in dessen Mitte eine kolossale Eiche stand, die von blühenden Sträuchern und Blumenbeeten umgeben war, gekommen sein. Von der Schönheit des Ortes angezogen, setzte sich der Kirchenfürst auf eine dort befindliche Rasenbank, schlief daselbst ein und als er durch einen plötzlich entstandenen Sturmwind erwachte, soll auf einmal ein hochbetagter Greis vor ihm gestanden haben, der sich ihm als ein Heidengott zu erkennen gab und ihm zwar Vorwürfe wegen seiner Verfolgung der noch nicht zu Christen gewordenen Bewohner des Landes machte, ihm aber gleichwohl verschiedene Rathschläge und Warnungen ertheilte. Als er verschwunden war, umgab den Erzbischof dichte Finsterniß, allein ein weißer Stab, den jener zurückgelassen hatte und den er unter dem Baume fand, diente ihm durch seine wie eine Kerze leuchtende Spitze als deutlicher Wegweiser, sich aus dem Walde zurecht zu finden. Ehe er aber jenen Ort verließ, segnete er noch den schützenden Eichbaum und feiete ihn durch einen frommen Spruch, daß er unzerstörbar sein solle für jede Menschengewalt, gleichzeitig aber ein Asyl für solche, die Schutz gegen Verfolgung unter seinem Laubdache suchen würden. Nach Hause zurückgekehrt, vergaß er bald die wunderbare Begebenheit, die ihm wie ein Traumbild erschienen war; erst nach Verlauf eines Jahres ward er wieder daran erinnert, als er von dem Abte des genannten Klosters die wunderbare Märe hörte, es stehe in dem Kreuzhorste eine gefeite Eiche, der sich Niemand mit Säge oder Axt nahen dürfe, wenn er nicht augenblicklich des Todes sein wolle, schon hätten mehrere verwegene Männer ihr Leben deshalb zum Opfer gebracht, weil die Eiche einmal zum Fällen bestimmt sei, allein Niemand wage sich jetzt mehr an sie. Da dachte der Erzbischof wieder an jene Erscheinung und beschloß, die Eiche selbst in Augenschein zu nehmen; er begab sich an den Ort, wo sie stand, fand aber nichts als eine große, sonst ganz gewöhnliche Eiche, die jedoch nicht jene reizende Umgebung besaß, welche er damals angetroffen hatte, und darum glaubte er auch sich geirrt zu haben, nahm also selbst eine Axt und führte einen gewaltigen Hieb auf sie, allein siehe, noch ehe das scharfe Eisen das Holz berührt hatte, flog es von dem hölzernen Stiele ab und verschwand spurlos. Da wußte der Erzbischof, daß es doch jene heilige Eiche war; er bezeichnete sie also mit einem Kreuze und gebot, sie für immer unberührt zu lassen und[274] ihrer bei jedem künftigen Holzschlage zu schonen. So vergingen viele Jahre, Jedermann kannte wohl in der Umgegend die heilige Eiche, aber Niemand wußte mehr irgend etwas von ihrem geheimen Zauber. Da trug es sich zu, daß eines Tages ein Liebespaar mit einander in dem Kreuzhorste lustwandelte und von Wegelagerern überfallen wurde; sie hatten kaum Zeit, sich unter eine hohe Eiche zu flüchten, wo der Jüngling für den ungleichen Kampf mit den ihm sechsfach überlegenen Feinden sich wenigstens den Rücken decken konnte. Siehe da begab es sich, daß sowie einer der Räuber dem Baume zu nahe kam und nach dem Jüngling einen Hieb that, eine unsichtbare Hand den Angreifer zu Boden warf, so daß in kurzer Zeit keiner derselben mehr übrig war. Die Geretteten eilten in die nahe Stadt zurück und erzählten den wunderbaren Vorgang; als man aber hinkam, um die Leichen der gefallenen Räuber aufzuheben und den Platz näher zu untersuchen, da fand man in dem Baume ein Kreuz eingehauen und erkannte, daß es die heilige Eiche des heil. Norbert war, jener Baum, der von dem alten Sachsengott selbst beschützt war. Der Volkssage nach soll aber jener Baum noch heute vorhanden sein, Schade nur, daß ihn eben Niemand mehr herausfinden kann.

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Nach Relßieg Bd. II. S. 391 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 274-275.
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