408. Das Sibyllenthürmchen.494

[348] Ganz nahe an der Fahrstraße, die von Erfurt nach Gotha führt, und dicht unter der alten Feste Cyriaksburg steht ein sehr alter, ziemlich großer Bildstock in Form eines gothischen Thürmchens. Bildliche Figuren in Stein aus dem Leben Jesu schmücken dieses alte Denkmal, welches im Jahre 1716 durch den damaligen Erzbischof von Mainz, Lothar Franz, erneuert ward. Manche haben behauptet, an dieser Stelle, wo jetzt das Thürmchen sei, habe vor Zeiten eine Sibylle oder Alrune gewohnt und geweissagt, davon komme der Name her, Andere aber erzählen, das Denkmal solle den Ort bezeichnen, wo die erste Christenkirche dieser Gegend gestanden. Es giebt aber noch eine dritte Sage, welche zugleich die daneben stehenden drei Steinkreuze erklärt.

Es hat eine Gräfin von Kefernburg, Namens Sibylla, einen jungen mannhaften Ritter zum Bräutigam gehabt und selbigen am Vorabend ihrer Hochzeit mit großer Sehnsucht erwartet. Allein der Geliebte kam nicht, denn er war auf der Reise zu ihr nebst zwei Edelknappen von einer Schaar Räuber an jener Stelle unter der Cyriaksburg, wo damals ein Nonnenkloster stand, überfallen und erschlagen worden. Dort wurden alle drei begraben, die unglückliche Braut ließ aber auf jedes Grab ein Steinkreuz setzen und jenes Denkmal, zu dem sich später eine förmliche Wallfahrt erhob, errichten, sie selbst trat aber in das Nonnenkloster St. Cyriaci auf dem Berge ein, um für das Heil der Seele des Ermordeten zu beten. Jeden Tag kam sie von hier zu dem Bildstock herab und betete daselbst, bis der Tod ihrem frommen Gelübde ein Ziel setzte.

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Nach Bechstein, Thüringer Sagenbuch, Bd. II. S. 313 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 348.
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