416. Eine Mutter erscheint ihrer kranken Tochter fünf Meilen von dem Orte ihrer Wohnung.503

[357] Es hatte im Anfange des vorigen Jahrhunderts eine anständige Frau aus der Stadt Nordhausen ihre Tochter nach Neunheiligen, welcher Ort dem Herrn Grafen von Werther gehört und unweit der Stadt Langensalza gelegen ist, verheirathet und vernommen, daß diese ihre Tochter sehr krank darnieder liege und der Kranken auch wohl kein größerer Gefallen gethan werden könne, als wenn die Mutter käme und sie besuche, wozu sich denn auch das nach der kranken Tochter sich sehnende Mutterherz entschloß. Den Abend zuvor, ehe die kranke Tochter wußte, daß die Mutter dahinkommen und sie besuchen werde oder nicht, kam eine Frau, welche einen runden Strohhut auf dem Kopfe trug, in der Nacht vor das Fenster der Tochter, machte solches auf und sah hinein, und blieb auch eine Weile vor dem Fenster in ihrer Tracht also stehen, daß solche die Tochter sowohl als die neben dem Bette sitzende Wärterin mit Augen sahen und die Tochter zur Wärterin sprach: »Das ist meine Mutter«, auch vor Freuden rief: »Liebe Mutter, kommen Sie doch herein, ich habe Sie schon gesehen!« Sie machte demnach das Fenster wieder zu und die Wärterin ging zur Stube hinaus, in der Meinung, ihr aufzumachen. Als sie nun die Hausthüre öffnete, war Niemand mehr da, sondern Alles schwarz und stille, so daß sie weder Jemanden auf der Straße mit Augen sah noch hörte und also die Hausthüre wieder zumachte, in die Stube kam und der Tochter hinterbrachte, wie ja ihre Frau Mutter, welche sie selbst vor dem Fenster stehen und in die Stube gucken sehen, nicht mehr draußen, sondern wieder weg wäre, über welche Nachricht sich die kranke Tochter sehr betrübte und vorstellte, daß solches unverhoffte Gesicht wohl gar ein Omen einer die Mutter vermuthlich zu Hause überfallenden Krankheit sein müsse, da ihr bekannt, daß sie schon bei Jahren und sehr schwächlicher Constitution war. Weil sich nun die Patientin dies sehr zu Sinne zog, wurde sie vor Sehnsucht und starkem Verlangen nach ihrer Mutter des folgenden Tages noch weit kränker als vorher. Was geschah? Die Mutter reiste am folgenden Tage von Nordhausen nach Neunheiligen und kam daselbst des Abends wider Aller Verhoffen gesund an, trat bei ihrer Ankunft zuerst vor das Fenster mit einem Strohhut auf dem Kopfe und rief ihrer Tochter freudig zu: wie sie sich befinde? Ueber welchen Besuch sich ihre Tochter so inniglich freute, daß auch von dem Augenblick an die Krankheit in etwas nachließ und die Wärterin anfing: »Dies ist wahrhaftig die Frau, welche ich vorher gar nicht gekannt, außer daß wir sie gestern Abend in dem Strohhute[357] und in eben der Kleidung und Größe vor diesem Fenster, wohin sie mit dem Finger wies, in unsere Stube haben gucken sehen.« Die Tochter berichtete dieses Alles ebenso und erzählte der Mutter, was gestern vor dem Fenster geschehen und wie sie allda ihre eigene Gestalt erblickt hätte. Davon wußte die Mutter nichts, außer daß sie ein allzustarkes Verlangen zu ihrer kranken Tochter getragen und vor Angst nicht länger im Hause zu bleiben gewußt, sondern hierher getrieben worden.

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Nach Sieckel Bd. II. S. 77 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 357-358.
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