524. Der schmatzende Tod zu Sangerhausen.614

[472] Im Jahre 1565 ereignete es sich zu Sangerhausen, daß eine vornehme Matrone Todes verblich, worauf nach ihrem Tode ein so geschwindes Sterben begann, daß es von Woche zu Woche sich mehrte, so daß es von 18 Personen in die 30, dann in die 50, dann in die 60, 80 bis 129 stieg. Da entstand ein allgemeines Gerede im Volke, es wäre der schmatzende Tod, herrührend von jener Matrone, die im Grabe schmatze und um sich fresse, wie man von andern Orten her wohl öfters Exempel erfahren hätte und so lange solch Schmatzen dauere, so lange mehre sich das Sterben. Deshalb begehrten Viele, man solle das Grab aufthun, die Schleier und Grabtücher der Todten entreißen und ihr mit einem Grabscheit den Hals abstoßen, welche Mittel man anderwärts mit Nutzen gebraucht habe. Solchem Begehren konnte nur mit Mühe gewehrt und dem Volke sein Aberglauben genommen werden. In 26 Wochen sind damals 1174 Personen zu Sangerhausen gestorben, das damals 700 Häuser zählte.

Auf diesen Aberglauben vom Fressen der Todten hat auch die Sitte Bezug, daß in Sachsen die Leichenweiber vorsichtig beim Anziehen der Leichen nichts wie Spitzen, Tücher oder Leinwand in die Nähe des Mundes derselben bringen, weil sie glauben, daß dieselben es mit den Zähnen erhaschen[472] und so nach und nach hineinfressen, worauf dann ihre Angehörigen langsam nachsterben, namentlich diejenigen, welche ihnen den betreffenden Gegenstand geschenkt oder genäht hatten. Ueberhaupt darf nichts von einem Lebenden mit in einen Sarg kommen. So verfiel vor einigen dreißig Jahren zu Grimma in Sachsen ein schönes junges Mädchen, die eine Schwester verloren hatte, auf einmal in eine Abzehrung und Niemand konnte ergründen, was ihr eigentlich fehle, ebenso wenig konnte ein Arzt ihr helfen. Da kam Jemand auf den Gedanken, ob nicht vielleicht irgend ein ihr gehöriger Gegenstand durch Zufall ihrer Schwester mit ins Grab gegeben worden sei. Man ging zu dem betreffenden Todtengräber und wußte ihn durch das Versprechen guter Belohnung dahin zu bringen, daß er das Grab aufgrub und den Sarg öffnete, da fand man zwischen den Händen der Todten ein Schnupftuch mit dem eingestickten Namen der noch lebenden Schwester; dasselbe, welches durch Zufall und Verwechselung der Todten statt ihres eigenen mit in den Sarg gegeben worden war, ward herausgenommen und von Stund an ward ihre Schwester besser und bekam ihre frühere Frische und Gesundheit wieder.

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Nach Bechstein Bd. IV. S. 86.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 472-473.
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