795. Der weiße Hirsch zu Corvei.918

[749] Der Tag des heil. Vitus wurde von den Mönchen zu Corvei immer als ein hoher Fest- und Freudentag begangen, denn dieser Heilige war der Schutzpatron der Abtei. Das edelste Wild, welches der Solinger Wald hegte, der feurigste Wein, der im Klosterkeller lagerte, die schmackhaftesten Fische, die in den Teichen des Abtes wohnten, das alles prangte auf der geistlichen Tafel. Das beste Stück aber war immer ein weißer Hirsch, der sich ungerufen und ungesucht jedes Jahr selbst in der Küche von Corvei einstellte und sich schlachten und braten ließ. Dieses kostbare Gericht ward aber nicht von den Mönchen selbst verzehrt, sondern einem alten Brauche gemäß unter die Armen vertheilt, die sich stets reichlich im Kloster einfanden. Nun war aber einmal ein Abt in Corvei, ein strenger, gebieterischer Mann. Der befahl, das nächste Mal den Hirsch für seine Tafel zuzurichten; die Armen könnten ja mit geringern Speisen vorlieb nehmen. Am nächsten St. Vitustage geschah es denn auch nach seinem Willen und das köstliche Wildpret ward für ihn und die Mönche aufgetragen. Aber wie er just das Messer erhob, um für sich das saftigste Stück aus der Keule herauszuschneiden, da zuckte es in der Schüssel, da begann sich's zu regen und zu heben, der gebratene weiße Hirsch ward vor den Augen der entsetzten Mönche lebendig und sprang aus der Schüssel. Der Kopf war unten für die Dienerschaft geblieben und so rannte der Hirsch ohne Kopf erst dreimal um den Tisch und dann zum nächsten offenstehenden Fenster hinaus. Keiner der Herren aber bezeigte Lust nachzusehen, wo er blieb. Von dieser Zeit an hat sich kein weißer Hirsch mehr in Corvei sehen lassen.

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S. Seiler S. 28.

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Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 749.
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