102. Der heilige Rock zu Trier.

[115] (S. Dielhelm, Antiquarius des Mainstroms etc. S. 640. Paullinus, zeitkürzende Lust Th. III. S. 249 etc.)


Im Dom zu Trier im Chore daselbst und zwar in einem gewissen Altar, der mit der Kirche gleichen Namen führt, soll seit dem Jahre 1196 der Rock des Herrn Christi verwahrt worden sein; damit er aber nicht möge gestohlen werden, hält man den Ort, wo er nunmehr liegt, ganz geheim. Dieser, d.h. der ungenähete Rock Christi, ist ein langer Mannsrock mit kurzen weiten Aermeln, von denen aber der linke einen Riß hat, reicht etwa bis an die Kniee, wird über der Halsöffnung angezogen, jedoch kein Unter- oder Oberkleid, sondern ein Mittel- oder Alltagskleid. Die Gestalt davon ist nach Gelegenheit und Art des Landes, nicht weniger auch nach der Statur des Herrn Christi bequem und ansehnlich, allein weder wollen noch seiden, sondern, so viel man abnehmen kann, aus sehr zartem leichten Zeuge, dergleichen Jacobus, des Herrn Bruder, auch getragen haben soll. Die Farbe davon ist mancherlei und fast nicht zu zählen, als roth, aschenfarbig und dergleichen. Wenn er an's Licht gehalten wird, scheint er wie unbereiteter Zinnober, ändert sich aber sogleich, sobald er in die Luft kommt. Inzwischen ist er aus einem sehr subtilen Faden recht künstlich von oben bis unten gewirkt, weswegen ihn auch die Kriegsknechte bei Christi Kreuzigung nicht zertheilen wollten, sondern darum loosten, wer ihn ganz haben sollte. Am Saum sieht er aus, als wenn er geblumt wäre und als ob allerhand bunte Buchstaben um denselben herumständen. Ueberhaupt kann die Kunst, womit derselbe gearbeitet ist, von keines Menschen Verstand begriffen werden. Man steht daher in der Meinung, daß die Mutter Gottes ihn selbst gemacht haben müsse. (Ein altdeutsches Gedicht erzählt, er sei von der h. Jungfrau aus der Wolle eines Lamms gesponnen und von der h. Helena auf dem Berge Oliveti gewebt worden.) Zu der Zeit, als das Christenthum in Trier ganz wieder in Verfall gerathen war, berief die[115] Kaiserin Helena den frommen Agnitius von Antiochia, um der gefallenen Kirche wieder aufzuhelfen, und gab ihm unter andern kostbaren Reliquien und Heiligthümern diesen ungenäheten Rock Christi (den der türkische Kaiser Bajazeth II. dem Papst Innocenz dem VIII. geschenkt haben soll) sammt einem Nagel, womit der Herr angenagelt gewesen, und einem guten Stück von dessen Kreuze mit auf den Weg. Alles dieses verwahrte derselbe im Jahre 327 im hintern Chore besagter Hauptkirche, allwo es auch etliche hundert Jahre unversehrt geblieben ist, bis es endlich im Jahre 1196 der Erzbischof Johannes I. daselbst fand und Jedermann zeigen ließ. Zum andern Male wurde selbiger Rock im Jahre 1512 vom Erzbischof Richardus auf Befehl des Kaisers Maximilian I. im Beisein von Geistlichen und Weltlichen, Chur- und anderen Fürsten, Abgesandten und anderen vornehmen Herren, ja in Gegenwart von mehr als 100000 Menschen auf dem Reichstage zu Trier öffentlich gewiesen und damals unter den Vornehmen die Brüderschaft des Rocks Christi gestiftet. Das dritte Mal (nach Andern ist er auch schon 1531, 1545 und 1553 ausgestellt worden) kam er im Jahre 1585 unter dem Erzbischof Johann dem VII. mit großem Jauchzen des anwesenden Volks zum Vorschein, das vierte Mal im Jahre 1655 unter dem Erzbischof Carl Caspar von den Leyen. Dann wurde er abermals 1734, 1765, 1810 und 1844 gezeigt, wo seine letzte Ausstellung durch Erzbischof Arnoldi bekanntlich die Entstehung des Deutschkatholicismus zur Folge hatte. Uebrigens ist schon früher zwischen den Geistlichen zu Argenteuil in Frankreich und denen zu Trier ein großer Streit entstanden, weil beide behaupteten, daß sie den rechten hätten. Man zählt ihn auch unter die Reliquien der Kirche St. Johann im Lateran zu Rom und ein Stück wird als Eigenthum eines Klosters zu Auxerre erwähnt. Ingleichen ist er zu St. Jacob di Compostella in Spanien, im Franziskanerkloster zu Friaul, sowie er auch im Verzeichniß der bei St. Moritz und St. Maria Magdalena zu Halle aufbewahrten Heiligthümer und anderswo vorkommt.13 Cölln am Rhein weist auch ein Stück, sonderlich von dem Saum desjenigen Rocks auf, welchen das blutflüssige Weib angerührt haben soll. Aus dieser Ursache pflegen auch noch die Weiber daselbst, so mit gleichem Uebel behaftet sind, Wein in die Carthause zu schicken, damit selbiges Läppchen hineingetunkt werde, und sie sollen ihrem Vorgeben nach, sobald sie nur solchen Wein getrunken, von dieser Krankheit genesen.

13

S. Collin de Plancy, dict. des réliques T. II. p. 68.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 115-116.
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