110. Die Sage von der Lorelei.

[126] (S. Geib S. 639 etc. Kaufmann, Quellenangaben zu Simrock's Rheinsagen. Cölln 1862 S. 85 etc. Reumont S. 120 etc.)


Nahe bei Goarshausen, aber oberhalb desselben unter dem hohen Rheingebirge liegt der berühmte, wegen seines vielfältigen Wiederhalls schon vor Alters allbekannte Lurleyberg (Lurleius). Derselbe wird schon von dem Minnesänger Marner um das Jahr 1235 erwähnt, der da meint, dort sei der Nibelungenhort versenkt worden.18 Derselbe giebt ein sehr starkes Echo von sich, welches allerlei Töne, Stimmen und Worte nicht allein laut, klar und vernehmlich, sondern auch mehrentheils vermehrt wiedergiebt, weswegen die Schiffleute und Vorüberreisenden auf dem Rheine in dieser Gegend mit Waldhörnern, Schießen und Rufen mancherlei Kurzweil hier auszuüben pflegen. Indeß soll der Wiederhall früher stärker als jetzt gewesen sein, was man daraus erklärt, daß zu verschiedenen Malen ungeheure Stücken Felsen von ihm herab in den Rhein gefallen sind. Die Annahme, daß der Berg innerlich hohl sein müsse und davon das Echo herkomme, ist eben so irrig, als wenn der Topograph Merian19 glaubt, daß dieser Wiederhall von einem Zwirbel (Wirbel) im Rhein herrühre, gleichsam als wenn der Rhein dort verborgene Gänge unter der Erde habe. Nach einer Sage wäre dieses Echo die Stimme eines Weibes, welche durch ihre außerordentliche Schönheit alle Männer bezauberte, nur den nicht, den sie selbst liebte. Sie entschloß sich daher in ein Kloster zu gehen, wohin sie drei ihrer Liebhaber begleiteten. Da sie auf die Höhe des Felsens gekommen war, sah sie unten auf dem Rheine ihren Geliebten dahinfahren. Verzweiflungsvoll stürzte sie[126] sich in den Fluß hinab. Ihr folgten die Ritter in gleichem Gefühle. Man nennt daher denselben Felsen auch den Dreiritterstein, der übrigens den Laut dreimal wiedergiebt. Nach einer andern Sage aber ist die Lorelei eine Nixe gewesen, die auf diesem Felsen thronte und von diesem herab durch ihren süßen Gesang die vorüberfahrenden Jünglinge so bezauberte, daß sie nicht auf ihre Ruder Acht gaben und plötzlich von den wirbelnden Wogen in die Tiefe hinabgerissen wurden. Man sagt, sie sei in den Rhein gebannt, weil sie den Geliebten, den sie sich erkoren, erst in den Fluthen gefunden habe.

Einst lebte ein Pfalzgraf bei Rhein hier zu Bacharach, der einen kräftigen schönen einzigen Sohn hatte. Ihn hatte einst die Nixe erblickt, als er unterhalb des Felsens, der einen Vorsprung bildet, badete; schon wollte sie ihren Zaubergesang anstimmen und sich dem in den Fluthen spielenden Jüngling in ihrer ganzen Schönheit zeigen, als sie Mitleid mit ihm fühlte, denn sie empfand wirkliche Liebe für ihn. Lange Zeit hörte man jetzt nichts mehr von der Wasserjungfrau und ohne Gefahr konnten die Fischer selbst unter dem Felsen ihre Netze auswerfen, den jungen Pfalzgrafen aber schien seit diesem Augenblicke in Allem, was er unternahm, das Glück zu verfolgen. Wenn er auf der Jagd ganz erschöpft und verdurstet niedersank, da sprudelte auf einmal ein silberheller Quell neben ihm auf und er sah sich mitten in ein reiches Bett von süßen Waldbeeren versetzt; wollte er ausruhen, so fand er eine kühle Felsengrotte mit weichem Mooslager, kurz es schien ein freundlicher Schutzgeist ihn überallhin zu begleiten. Eines Abends als er von der Jagd zurückkehrte, ward er aber auf der ihm sonst so bekannten Bahn irre, er kletterte auf dem Felsen herum ohne den Weg nach dem Flusse hinab finden zu können, im Gegentheil er entfernte sich immer weiter von demselben. Da klang es ihm wie fernes Saitenspiel in sein Ohr, er kletterte eine Felswand hinan, um eine freie Aussicht auf den Strom zu gewinnen; auf der Felsenkuppe angelangt, stand er auf einmal wie geblendet, denn er sah plötzlich eine Jungfrau vor sich, so hold und liebreizend, wie sein Auge noch keine erblickt hatte. Schon wollte er auf dieselbe zuschreiten, als der Gedanke an die Nixe Lorelei durch seine Seele fuhr und er, sich andächtig bekreuzend, wie festgewurzelt stehen blieb. Plötzlich war die Jungfrau verschwunden und er fand sich wie aus einem Traume erwachend auf dem rechten Wege wieder, der hinab zum Flusse führte. Seit diesem Abenteuer konnte der Jüngling aber den Gedanken an das wunderbare Frauenbild nicht wieder los werden, er dachte Tag und Nacht an sie, stets klang die Melodie ihres Zaubergesanges vor seinen Ohren und schien ihn nach jenem Felsen hinzulocken. Die Folge davon war, daß er für ritterliche Spiele und seine frühere Lieblingsbeschäftigung, die Jagd, bald keinen Sinn mehr hatte und diese seine Verwandlung seinem Vater so auffiel, daß er ihn nach der Ursache fragte. Als nun der Jüngling gestand, was er gesehen hatte, da beschloß der Pfalzgraf ihn fortzusenden an das kaiserliche Hoflager, vielleicht daß die Entfernung ihn von dem Gedanken an die Nixe abbringen möge; der Tag des Scheidens war schon bestimmt und es schien anfangs, als wenn der Jüngling gern dem Wunsche seines Vaters nachkomme, allein je näher derselbe herankam, desto beklommener ward sein Herz und wie er sich auch mit Gewalt von diesen Gefühlen durch Anstrengungen auf der Jagd abziehen wollte, es gelang ihm nicht. Am Tage vor seiner Abreise aber[127] bat er seinen alten Erzieher mit ihm hinauszuziehen zum Rheine, um sich das letzte Mal mit Fischen auf dem Strome zu belustigen. Derselbe konnte es ihm nicht abschlagen und so fuhren sie denn mit dem Netze über die Fluthen dahin und die reichste Beute ward ihnen zu Theil. Der Junker lenkte aber den Kahn nahe am Ufer hin, aber immer dem gefährlichen Felsen näher, ohne daß sein Gefährte, des glücklichen Fanges sich freuend, es bemerkte; da auf einmal, als der Mond in seiner ganzen Pracht hinter dem Lurlei auftauchte und sein freundliches Licht auf den Höhen leuchtete und in den Wellen zitterte, da erblickte der Jüngling hoch oben auf der Platte die Jungfrau in ihrem vollen Zauberreize, wie er sie schon einmal gesehen. Die Nixe aber stimmte ihren Gesang an und breitete die Arme aus, als wollte sie den Gegenstand ihrer Liebe brünstig umfangen. Da entsank dem Jüngling das Steuer, sein Auge sah nur sie, der Kahn, immer näher der Klippe gekommen, glitt dem brausenden Wirbel der Gewässer zu, die sich wild stürmend an dem Lurlei brachen und auf einmal hoch sich aufthürmend den Kahn und seine Führer verschlangen, welche die Gefahr nicht ahnten. Zwar trug den alten Erzieher eine Woge an das jenseitige Ufer, allein keine brachte den Jüngling wieder. Jener mußte dem Pfalzgrafen die traurige Kunde bringen und dieser in wildem Zorn aufbrausend versprach hohen Lohn dem, der ihm die Nixe todt oder lebendig ausliefern werde. Als aber der Mond am andern Abend aufging, da umstellten Reisige den ganzen Felsen, und wie das Gestirn hoch über der Platte stand, da war auch die Nixe wieder da. Muthig ging der alte Knappe auf sie los und fragte sie, wo der Jüngling sei, sie aber gab keine Antwort, sondern deutete nur auf die Wogen hinab, die auf einmal grollend aufbrausten. Da warf sie ihr kostbares Perlenhalsband hinab, welches dieselben zu beruhigen schien, sang noch eine Zauberweise, warf ihren Schleier von sich, der langsam hinabsank, und von ihm getragen ward sie von den Fluthen in die Tiefe gezogen und nie mehr gesehen.20

18

S. Grimm, Heldensage S. 162.

19

Topogr. Palat. p. 13.

20

Zu Tetschen auf dem Markte steht ein Gebäude, welches jetzt die Gruft der Grafen von Thun bildet. Dasselbe heißt Lorlei und soll errichtet worden sein zur Erinnerung, daß bei einer großen Wasserfluth eine Heilige, die von den Fluthen der Moldau bei Prag ergriffen, unversehrt von denselben fortgetragen ward, hier ans Land gestiegen sei. Woher mag der Name kommen?

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 126-128.
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