1080. Das Waldgespenst.

[877] (S. Archiv Bd. II. S. 250.)


Durch den Wald, der sich zwischen Marke und Elveshausen im Amte Westerhof hinzieht, wanderte zu Anfange dieses Jahrhunderts in mondheller Mitternachtstunde ein Einwohner des letztgenannten Ortes, den Besorgung mancher Geschäfte und späte Gastfreundschaft so lange in Marke aufgehalten hatten. Ungefähr auf der Mitte des Weges lichtet sich der Forst und es breitet sich zwischen Gruppen einzelner hohen Buchen eine Grasfläche aus, die von den Elveshäusern öfters zur Weide benutzt wird. Als der Rückkehrende aus dem schmalen, durch die dichten Büsche führenden Pfade auf diesen freien Platz tritt, bemerkt er fast an dessen entgegengesetztem Ende, auf einem abgehauenen Eichenstamm eine weibliche Gestalt. Das Licht des Mondes läßt ihn sehen, wie dieselbe etwas nach vorn vorgebückt und mit gesenktem Kopfe sitzt, gleich als sei sie mit emsiger Arbeit beschäftigt. Der Wanderer zweifelt nicht, daß hier eine Dorfbewohnerin, während sie ihre Kühe zur Weide getrieben, durch Stricken sich die Zeit zu verkürzen suche, ja im Näherkommen glaubt er, selbst eine Bekannte wahrzunehmen. Da sie ihn nicht zu bemerken scheint, will er neckend sich heranschleichen, und hinter ihrem Rücken ihr plötzlich die Augen zuhaltend sie erschrecken. Leise und[877] sorglich über den Rasen hinschleichend, nähert er sich mehr und mehr, und auf dem letzten verdoppelten Schritte umfaßt er unter lautem Rufe das Gesicht der Sitzenden. Aber dies ist kalt wie Eis, und als er sich herüberbeugt um die Ueberraschte zu erkennen, wendet zugleich mit schwerer langsamer Bewegung die Gestalt ihr Haupt und schaut ihn mit leeren Augenhöhlen und verwesenden Gesichtszügen an. Der entsetzliche Schrecken lähmt ihn eine Minute, dann treibt ihn der zugleich aufsteigende Leichengeruch aus seiner sinnlosen Angst und mit verzweifelndem Laufe stürzt er den Pfad nach seinem Dorfe hinab. Des Morgens finden ihn seine Hausgenossen bewußtlos vor der Thür, wie er in das Haus hineingetragen wird, überfällt ihn ein heftiges Fieber, dessen Phantasieen ihm in schauerlichem Wechsel die Grabgestalt des Waldes wieder vorführen. Als am Abende des dritten Tages seine Besinnung wiederkehrt, gewinnt er Kraft, das was ihm begegnet ist, den Umstehenden zu erzählen, aber die Erneuung des Schrecklichen vermag er auch nicht in der Erinnerung zu ertragen, und ehe die Mitternachtstunde schlägt, ereilt ihn der Tod.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 877-878.
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