892. Das Lehnausrufen.

[769] (S. Landau in d. hess. Zeitschr. Bd. II. S. 272 etc.)


Zu Ende des 17. Jhdts. war in Hessen noch das sogenannte Lehnausrufen sehr Mode auf den Dörfern. Die jungen Burschen gingen am Walpurgisabend zusammen, mit Peitschen133 versehen, vor ihren Ort, einer trennte sich von dem Haufen, stellte sich, wenn es möglich war, etwas erhöht, sei es auf eine Anhöhe, oder kletterte wohl gar auf einen Baum und rief:


Hier steh ich auf der Höhe

Und rufe aus das Lehn, das Lehn, das erste (zweite etc.) Lehn,

Daß es die Herrn recht wohl verstehn,

Wem soll das sein?


Die übrige Versammlung antwortet, indem sie nun die Namen eines Burschen und eines Mädchens nennt, mit dem Zusatz: »In diesem Jahr noch zur Ehe!« Dann wird wieder wie zu Anfang des Actes gesungen und mit den Peitschen geschnappt, und dieses wiederholt sich, bis die Reihe der[769] Heirathsfähigen durchgegangen ist. Die auf solche Weise Zusammengegebenen werden Mailehen genannt, und es tritt für sie die Verpflichtung ein, das ganze Jahr hindurch mit Niemand anders zu tanzen134.

Im Hersfeldischen hat sich dieses Lehnausrufen in einer modificirten Form so erhalten, daß dort vor dem Beginn der Kirmeß und anderer Festlichkeiten, mit denen überhaupt Tänze verbunden sind, sich jeder Bursche eine Tänzerin wählt, welche er förmlich zu diesem Zwecke einladet. Im Sonntagskleide und mit einem Hute versehen, tritt er in ihre Wohnung und bringt sein Gesuch an, wird dieses gewährt, was beinahe immer der Fall ist, da jeder sich seiner Sache erst vergewissert, so befestigt das Mädchen einen meist aus künstlichen Blumen bereiteten Strauß an den Hut des Burschen. Beide sind nun für die ganze Dauer des Festes mit einander verbunden, und nur vorübergehend, aber nicht ohne Erlaubniß, ist es ihnen gestattet, während des Tanzes zu wechseln135.

133

Im Ziegenhainschen thun dies die jungen Burschen angeblich um die Geister zu vertreiben (s. Landau a.a.O. Bd I. S. 353.)

134

Aehnlich ist das, was oben Nr. 759 über das Recht der Fürsten, ihre Hofleute beliebig mit jungen Mädchen zu verheirathen, erzählt wird (s. Vulpius, Curios. Bd. VII. S. 195 etc.)

135

Dieselbe Sitte herrscht in der Schweiz (s. Tobler's Appenzell. Sprachschatz. Zürich 1837 S. 104.)

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 769-770.
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