913. Der ungeborene Reinhard und die Sagen von der Weidelburg.

[782] (S. Lyncker S. 162 etc. Landau, Hess. Ritterb. Bd. II. S. 316. Gottschalk, Ritterb. Bd. IX. S. 246 etc.)


Hinter dem Dorfe Ippinghausen erhebt sich, nur vier Stunden von der Stadt Arolsen im Waldeckischen entfernt, nahe der Stadt Wolfhagen der hohe[782] Weidelsberg, dessen Gipfel die ansehnlichen Ruinen des gleichnamigen Schlosses Weidelsburg trägt, des Sitzes, wenn auch nicht des Stammschlosses der Familie von Dalwigk. Hier hauste auch jener Reinhard V., in den Urkunden der ältere, in den Volkssagen aber der Ungeborne, oder schlechtweg der ungeborene Reinhard genannt, weil ihn, der Sage nach, ein Kaiserschnitt zur Welt und das Erwärmen in dem Bauche frisch geschlachteter Schweine gleichsam zur Reife gebracht haben sollte. Er wurde einer der berühmtesten, aber auch der fehdelustigsten Ritter des ganzen Hessenlandes, dessen Muth und Prachtliebe nicht allein den Neid seiner Standesgenossen, sondern auch die Aufmerksamkeit der benachbarten Fürsten erregte. Im April des Jahres 1448 zog Landgraf Ludwig mit hessischen und mainzischen Truppen aus und eroberte auch Weidelburg. Eine Sage erzählt hierüber Folgendes. Da er sich nicht mehr halten konnte, versuchten seine Freunde ihn durch List zu retten, sie unterhandelten mit dem Landgrafen über die Uebergabe der Burg und dieser gestattete ihnen, frei aus derselben, mit allem was sie auf einen Esel laden könnten, abzuziehen, unter der Bedingung, daß der Ritter sich als Gefangener stelle. Da kroch Reinhard in einen Sack, ließ sich auf den Esel legen und hieß seine Leute vorgeben, es steckten ein paar Speckseiten in dem Sacke. Aber die List mißglückte, Reinhard ward entdeckt und fiel in die Hände des Landgrafen.

Eine andere Sage dagegen erzählt die Begebenheit so. Reinhard hatte jede Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang der Belagerung verloren, und alle Vergleichsunterhandlungen hatten sich fruchtlos zerschlagen, denn der Landgraf verlangte durchaus, daß sich Reinhard ihm in Person stellen solle. Da faßte Reinhards Hausfrau Agnes (gewöhnlich Nese genannt), die Tochter des durch den Mord des Herzogs Friedrich von Braunschweig berüchtigten Friedrich's von Hertinghausen, einen von hoher Liebe zu ihrem Gatten zeugenden Entschluß. Sie stieg herab ins feindliche Lager und ließ sich vor den Landgrafen führen. Weinend fiel sie demselben zu Füßen und bat flehend um Gnade. Der Landgraf, zwar hocherzürnt, wurde doch endlich durch die weiblichen Zähren gerührt und sprach: »Ob er sich zwar vorgenommen, nicht einen Hund auf dem Schlosse leben zu lassen, so solle ihr doch sammt ihren Jungfrauen und Mägden vergönnnt sein, mit dem, was jeder lieb wäre und sie tragen könnte, frei sich hinweg zu begeben. Doch der Junker und alle Mannspersonen sollten auf andern Bescheid oben verziehen.« Dessen setzte ihr der Landgraf seine fürstliche Treue zum Pfande. Nachdem sie sich nun wieder zur Burg begeben, bereitete sie sich mit ihren Jungfrauen zum Abzuge und gab denselben ihre Kleider und Kleinode, sie aber nahm ihren Mann auf den Rücken; so zogen sie herab. Da meinte zwar der Landgraf, von dem Junker sei in der Beredung keine Erwähnung geschehen, doch sie antwortete: »Was würde mir Anderes lieb und kostbar sein, wenn ich meinen Herrn in Todesgefahren hinter mir wissen sollte? Und bedünkt mich, Euch nicht zuwider gethan zu haben, weil mir erlaubt worden, mit zu tragen, was mir lieb sei; deshalb habe ich meinen theuersten Schatz genommen.« Solche Treue und Liebe brach des Landgrafen Zorn und er gab seinen blutigen Vorsatz auf, allein Reinhard mußte auf einem von demselben zu Homberg angesetzten Tage erscheinen, ihn knieend um Gnade flehen und dann nebst seiner Gemahlin (14. April 1448) auf die Weidelburg und eine große Zahl Dörfer etc. verzichten.[783]

Noch heute erblickt man in den Trümmerüberresten des sogenannten hessischen Baues der Burg zwischen den beiden großen Fenstern einen in Stein gehauenen, jedoch schon ziemlich verunstalteten Kopf, von dem die Umwohner behaupten, er stelle den übermüthigen und bis jetzt verdammten Reinhard vor. Derselbe soll hier oben überhaupt noch sein Wesen treiben und umhergehen und so lange nicht ein unschuldiges Kind den Schatz im Burgkeller hebe, könne er nicht erlöst werden. Man erzählt unter andern Streichen von ihm, daß er in seinen Fehden mit den Wolfhagenern diese seine Verfolger dadurch, daß er seinem Pferde die Hufeisen verkehrt aufnageln ließ, immer in Ungewißheit gelassen habe, ob er auf der Burg sei oder nicht. Auch Reinhards Schwestern sind hier oben hin gebannt, am Tage haben sie die Gestalt von Eulen, in der Nacht aber schweben sie in ihrer natürlichen Gestalt durch das alte Gemäuer. Der Ritter und sein Knappe dagegen sind hier oben als Habichte zu sehen, aber wehe dem, der mit ihnen anbindet. Vor einigen sechzig Jahren lebte zu Ippinghausen ein Förster, Namens Semmelrath, der einmal geäußert hatte, der Herr Ritter möge sich hüten, ihm vor die Büchse zu kommen. Dieser ging nun eines Abends hinauf in die Waldungen des Weidelberges um einen Hasen zu schießen. Unvermerkt kömmt er an die Burg und zwar an die östliche Seite, wo man links das große Fenster sieht, als er auf einmal einen ungeheueren Stößer oder Habicht über den Trümmern schwebend erblickt. »Du mußt herunter«, denkt er, nimmt den Stutzen, zielt, drückt ab und der Stößer fällt in das Gebäude. Aber was entdecken die dem Falle des Vogels folgenden Augen des Forstmannes? Indem der erstere hinfällt, steigen drei Frauenbilder in schwarzer Kleidung und eben solchen Hauben heraus und sehen unsern Waidmann drohend an, der aber erwartet ihre Anrede nicht, sondern ohne auch nur einmal zu grüßen läuft er Hut und Büchse von sich werfend ins Dorf zurück und ist in wenigen Tagen todt. Die heraufgesandten Jägerburschen fanden Hut und Büchse, aber keinen Habicht, sondern nur drei große Blutstropfen, welche den Tod des armen Försters bedeuteten.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 782-784.
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