320. Georg Emmerich und das heilige Grab zu Görlitz.

[377] (S. Beschreibung des h. Grabes zu Görlitz. Görlitz 1779 in 8°. Laus. Mag. 1734 S. 91. Haupt, Bd. II. S. 75 etc.)


Im 15. Jhdt. lebte zu Görlitz ein Bürgermeister, George Emmerich, ein rechtschaffener und gerechter Mann, der aber einen Sohn gleiches Namens besaß, den er in allen ritterlichen Künsten erziehen und große Reisen machen ließ, um sich im Auslande zu bilden und sich zu seiner künftigen Würde (es war nämlich ziemlich gewiß, daß er einst seinem Vater in seiner Würde folgen werde) vorzubereiten. Allein der junge Mann hatte in der Fremde sich auch ein ziemlich lockeres Leben angewöhnt und so machte er sich nach seiner Heimkehr kein Bedenken daraus, eine tugendhafte Jungfrau, Namens Benigna66 Horschel unter dem Vorgeben, sie ehelichen zu wollen, um ihre Unschuld zu betrügen. Zwar versuchte ihr Vater, ein Tuchmacher, ihn durch Bitten und Vorstellungen zu bewegen, seiner Tochter durch die Ehe ihre Ehre wiederzugeben, allein der stolze Junker dachte nicht daran, eine Handwerkerstochter in das Haus seines Vaters als Schwiegertochter zu bringen und so geschah es, daß in Folge dieser Weigerung Unruhen in Görlitz ausbrachen, indem die sehr zahlreiche Tuchmacherzunft sich der Angelegenheit ihres Mitmeisters annahm und gleichzeitig auch die ohnehin den Patriciern nicht sehr holde Bürgerschaft die Sache soweit trieb, daß der junge Emmerich genöthigt ward, zur Buße seiner unsittlichen Handlung eine Pilgerfahrt nach Jerusalem anzutreten. Dies war nun aber eigentlich keine sehr harte Strafe für ihn, um so mehr, als eine sehr reiche und schöne Wittwe aus Görlitz, Agnete Fingerin, welche sich in den jungen Patricier verliebt hatte, ihm als Mönch verkleidet nachreiste und in dieser Verkleidung seine Reise mitmachte. Emmerich ward in Jerusalem zum Ritter geschlagen und faßte hier bereits den Entschluß, nach seiner Rückkehr dort eine Nachbildung des heiligen Grabes zu erbauen, weil er in der Gegend, wo dasselbe später aufgestellt ward, also an der nordwestlichen Seite der Stadt, da wo die Straße nach Nisky führt, eine merkwürdige Aehnlichkeit mit der Lage der heiligen Stätten zu Jerusalem zu finden wähnte. Nach Görlitz zurückgekehrt, wählte ihn die Bürgerschaft, die seine frühern lockern Streiche vergessen zu haben schien, im Jahre 1483 zum Bürgermeister, nachdem er inzwischen ein zweites Mal nach Jerusalem gereist und dort durch einen mitgenommenen Maler und Baumeister sich genaue Risse von dem h. Grabe hatte anfertigen und dann nach seiner Rückkehr auch wirklich dieses merkwürdige Bauwerk hatte ausführen lassen. Auch jene Agnete Fingerin machte[377] nach ihrer Rückkehr eine Bußstiftung, die in regelmäßigen Brodlieferungen an die Armen bestand, welches Gebäck, Agnetenbrod geheißen, bis zum Jahre 1563, wo man es abschaffte, fortdauerte.

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Man machte darauf den lat. Vers: Emrico facilis fuit atque benigna Benigna.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 377-378.
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