327. Der Denkstein am Weinberge bei Görlitz.

[381] (Nach Haupt Bd. II. S. 84.)


Sonst stand an dem sogenannten Weinberge bei Görlitz ein steinernes Kreuz, welches aber bei der Anlegung der Kunststraße nach Leschwitz entfernt worden ist. Dasselbe sollte zur Erinnerung folgender merkwürdigen Begebenheit dienen.

Ein Schlosser zu Görlitz hatte einen einzigen Sohn, allein dies hinderte ihn nicht, da er ein sehr wohlhabender Mann war, nebenbei noch zwei arme Waisen, einen Knaben und ein Mädchen an Kindesstatt anzunehmen und selbige mit ersterem aufzuziehen. Die beiden Knaben erlernten beide das Schlosserhandwerk und als sie zu Gesellen gesprochen waren, zogen sie beide in die Fremde, der Meisterssohn wollte in Deutschland bleiben, das Waisenkind aber nach Frankreich ziehen. Beim Abschiede machten sie jedoch unter sich aus, sie wollten nach Ablauf von drei Jahren an einem gewissen Tage in einer Schenke zwischen Zittau und Ostritz zusammentreffen und dann selbander in Görlitz einwandern. Beide Burschen trugen aber in ihren Herzen eine heimliche Sehnsucht nach ihrer zurückgebliebenen Pflegeschwester und Jeder hoffte sie nach seiner Rückkehr die seine nennen zu können. So vergingen die drei Jahre, Beide arbeiteten fleißig, nur mit dem Unterschiede, daß der Meisterssohn, was er verdiente, hinlegte und für seine zukünftige Wirthschaft zusammensparte, sein Pflegebruder aber, der sich in Paris auf die lockere Seite gelegt hatte, schnell Alles, was er die Woche über erarbeitet, Sonntags wieder durchbrachte. Am bestimmten Tage trafen indeß beide wieder zusammen und erzählten sich einander ihr Erlebtes, der Meisterssohn aber theilte seinem Bruder mit, daß, sowie er nach Hause zurückgekehrt sein werde, sein Vater ihm die Werkstatt übergeben und seine Pflegeschwester ihm ihre Hand reichen werde. Da zog der Teufel der Eifersucht und Mißgunst in das Herz seines unglücklichen Bruders ein; als sie spät auswandernd gerade um die 12. Stunde in die Nähe der sogenannten Weinberge kamen, versetzte letzterer ersterem von hinten einen Schlag mit seinem mit Eisen beschlagenen Wanderstab auf den Hinterkopf, der ihn lautlos zu Boden streckte. Er höhlte eine tiefe Grube in dem lockern Sandboden aus, warf den Ermordeten hinein, dann Steine auf ihn und zuletzt einen großen Haufen Erde und Sand, womit er alle Spuren des Mordes vertilgte. Hierauf wanderte er in Görlitz ein, als wenn nichts geschehen wäre, und nachdem die sorgenvollen Eltern und die bekümmerte Braut einige Jahre auf ihren ermordeten Sohn gewartet, kamen sie zu der Ueberzeugung, er müsse verunglückt sein, sie nahmen also den Mörder wirklich an Kindesstatt an und die Braut des Ermordeten reichte ihm ihre Hand am Altare. So lebte er an die dreißig Jahre als ein angesehener und geachteter Bürger zu Görlitz, da geschah es eines Tages, daß er in einer Dezembernacht, wie er meinte, früh 1/26 Uhr nach seiner Gewohnheit erwachte um in der Peterskirche der Frühmesse beizuwohnen. Er ging wie gewöhnlich nach der Kirche zu, als er aber an der Thüre derselben anlangte, schlug auf einmal die Glocke Zwölf und während er noch darüber nachsann, wie es überhaupt gekommen, daß er sich so in der Zeit geirrt habe, fiel ihm ein, daß der heutige Tag gerade der 30. Jahrestag sei, wo er zur selbigen Stunde seinen Bruder[382] gemordet habe. Er eilte wie von Furien gejagt nach Hause, allein am andern Morgen kamen Scharwächter, um ihn gefangen zu nehmen, es war nämlich in derselben Nacht ein frecher Diebstahl an den heiligen Geräthschaften der Peterskirche verübt worden, und weil Fußtapfen in dem Schnee, der vorher gefallen war, nach seinem Hause führten, war man auf den Verdacht gekommen, er sei der Thäter. Vor Gericht gestellt erklärte er, hieran sei er unschuldig, allein dafür bekenne er sich schuldig an dem vor 30 Jahren begangenen Morde; er führte die Richter selbst nach der Stelle, wo er seinen Bruder eingescharrt hatte und wo man dessen Gebeine noch fand. Er ward zum Tode verurtheilt und an dem betreffenden Orte hingerichtet, jener Denkstein aber bezeichnete noch lange die grausige Stelle und die Wahrheit des alten Satzes, daß kein Verbrechen ungerächt bleibt und dem Auge Gottes kein Sünder entgehen kann.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 381-383.
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