649. Tilsitsch Pryssen.

[607] (S. Preuß. Prov.-Bl. Bd. 22 S. 252 etc.)


Der eine Viertelmeile oberhalb Tilsit nicht weit vom Dorfe Pryssen aus dem steilen Memelufer hervorragende, die Form eines abgestumpften Kegels tragende Berg, wo einst der Riese Tilszatis sein Schloß hatte und von dem oben schon eine Sage erzählt worden ist, hat aber auch noch Gelegenheit zu einer zweiten gegeben.

Auf seiner Höhe befindet sich ein steilabführender Gang, Schornstein genannt, in den sich aber wegen seiner schauerlichen Tiefe Niemand hineinwagte, nur die Dorfjugend trieb in seiner Nähe ihr Spiel. Einst war hier auch eine Schaar Knaben versammelt, unter ihnen befand sich ein recht roher böser Bube, auf einmal ergriff er einen seiner schwachen Gespielen, band ihn an eine Leine und ließ ihn, ohne auf sein Bitten und Flehen zu achten, hinab in die Oeffnung. Freilich war es nur seine Absicht ihn wenige Augenblicke in der Schwebe zu halten, allein die Last ward ihm zu groß, er ließ ihn fahren und erschreckt ergriff er mit den übrigen Knaben die Flucht. Zu Hause angekommen, logen sie den Eltern des verloren gegangenen Knaben vor, derselbe sei beim Baden in der Gegend des Schloßberges ertrunken. In Verzweiflung eilten dieselben nach dem Strome, konnten aber natürlich seine Leiche nicht auffinden. Eben war die Sonne untergegangen, da öffnete sich am Fuße des Berges eine Pforte, aus welcher der verloren geglaubte Knabe einen Topf in der Hand herauskam und im Fluge zu seinen Eltern eilte um ihnen zu erzählen, was ihm geschehen war. Er berichtete den glücklichen Eltern, sie hätten oben Soldaten gespielt, er sei zum Gefangenen gemacht worden und habe seine Strafe absitzen sollen, deshalb hätten ihn seine Kameraden in den Schornstein hinabgelassen, freilich aber fallen lassen. Er sei erst langsam, dann schnell hinabgefahren, als er aber unten angekommen sei, sei er erst eingeschlummert, erwacht habe er sich auf einem weichen Lager wiedergefunden, ein alter freundlicher Mann sei zu ihm getreten und habe ihn gefragt, ob er etwa Schaden genommen. Als er dies verneint, aber gesagt, er sei sehr müde und am ganzen Leibe wie zerschlagen, habe ihm eine Frau mit einer goldenen Krone auf dem Haupte einen gefüllten Becher gebracht und ihm geheißen zu trinken. Dies habe er auch gethan und sich so gestärkt gefühlt, daß er wieder aufstehen und sich an einen mit kostbaren Speisen besetzten Tisch setzen konnte. Da es ihm so wohl geschmeckt, habe die Frau gesagt, man solle ihm auch etwas davon mit auf den Weg geben. Da habe der alte Mann ihn bei der Hand gefaßt und sei mit ihm durch viele Stuben gegangen. In einigen schien die Sonne so feurig, als wenn Alles brennte, in andern waren Sterne und Mond zu sehen und da saßen auch Männer an Tischen und beteten. So kamen sie durch einen langen Gang zu einer Thüre, dort gab ihm der Alte einen Topf mit der versprochenen Speise und sagte ihm, er solle von demselben, wenn er auch entzweigehe, doch nichts wegwerfen. Nun öffnete sich der Berg und er ging hinaus. Während der gegenseitigen Umarmungen war aber der Topf zerbrochen und die Eltern sahen bestürzt auf die am Boden liegenden Scherben, allein sie beschlossen dem Befehle des Greises gewissenhaft nachzukommen, hoben sie auf und siehe, sobald sie sie angerührt hatten, hatten sie ebenso[608] viele Stücke des feinsten Goldes in der Hand; so kehrte nicht blos ihr Sohn gerettet, sondern auch der Wohlstand bei ihnen ein. Schnell verbreitete sich das Gerücht von der glücklichen Wiederkehr des Knaben und von den mitgebrachten Schätzen. Da beschloß der böse Bube, der ihn in den Schornstein hinabgelassen hatte, sein Glück auch zu versuchen, und wußte seine Kameraden durch das Versprechen, die gefundenen Schätze mit ihnen theilen zu wollen, dahin zu bringen, daß sie mit ihm auf den Berg gingen und ihn ebenfalls in die Oeffnung hinabließen. Glücklich unten angelangt, irrte er lange in grauenvollen mit Schädeln und Gerippen angefüllten Räumen herum, bis er an eine verschlossene Thüre kam, die auf sein heftiges Klopfen von einem Greise geöffnet ward. Auf sein Befragen, was er hier unten wolle, giebt der Knabe vor, er sei durch böse Menschen hier hinabgeworfen worden und wisse nicht, wie er wieder herauskommen solle. Der Greis erwiderte ihm, daß er sehr wohl wisse, daß er seinen kleinen Kameraden hier herabgelassen, jetzt aber aus Vorwitz und Habsucht heruntergestiegen sei, er werde nicht eher wieder den Weg herausfinden, bis er den ernstlichen Vorsatz gefaßt habe sich zu bessern. Hierauf wies er ihm den langen Gang, der ihn wieder ans Tageslicht bringen werde. In diesen eingetreten, war aber eine so höllische Hitze und ein solches grelles Licht von den Feueraugen großer Schlangen, Kröten und Molche, die ihn unablässig verfolgten und nach ihm schnappten, daß er jetzt wirklich von unaussprechlicher Angst gefoltert sein Bubenstück ernstlich bereute und sich gelobte, nie wieder schlecht zu handeln. Als er endlich glücklich herauskam, konnte er seinen Kameraden keine Schätze, nur gute Lehren mittheilen, allein sein Wort hat er gehalten.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 607-609.
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