675. Die 12 Ritter und die 12 Nonnen zu Kreuzburg.

[621] (S. Temme S. 186.)


Als in der Stadt Kreuzburg noch der alte Markt und das uralte Rathhaus stand, hat sich dort an jedem Neumonde folgende ängstliche Erscheinung wiederholt. Um die zwölfte Stunde ist nämlich aus der nach den Trümmern des alten Ordenshauses auf den Schloßberg führenden Kirchenstraße ein Zug von vier Wagen gekommen. Dieselben waren oben offen, so daß man die darin Sitzenden erkennen konnte. Jeder Wagen war mit vier Pferden, die zwei ersten mit Schimmeln, die zwei letzten mit Rappen bespannt. Erstere schritten ruhig einher, die Rappen aber bliesen Feuerfunken aus den weitgeöffneten Nüstern. In den zwei ersten Wagen saßen je sechs Nonnen, im weißen Ordenskleid, mit Schleier und Rosenkranz, aber ohne Kopf, in den zwei letzten je sechs Ritter, die ihre Köpfe sammt den Helmen unter dem Arme hatten. Dreimal fuhr dieser Zug aber ohne das mindeste Geräusch zu machen um den Ring des Marktes herum. Kutscher hatten die Wagen[621] nicht, als solcher saß auf den Wagen der Nonnen je ein weißes Lamm, und auf denen der Ritter je ein schwarzer Ziegenbock, der aber gleich den Rossen Feuerfunken sprühte. Im alten Rathhause verschwand der Zug, dann hörte man aus demselben eine wilde lustige Musik, zwischen welche der Gesang von sanften Frauen- und rauhen Männerstimmen und feierlicher Orgelklang hineintönte. Um ein Uhr kam der Zug in derselben Ordnung zurück, machte wiederum die dreimalige Runde, fuhr aber nicht wieder zur Kirchen-, sondern zur Hof- oder Schloßstraße hinaus und die Nonnen hatten jetzt die behelmten Ritterköpfe sich aufgesetzt und die Ritter die verschleierten Nonnenhäupter.

Diese Erscheinung ist nun von den Bewohnern des Marktes und den Nachtwächtern regelmäßig beobachtet worden, bis im Jahre 1818 das Rathhaus und die Häuser am Marktplatz vom Feuer verzehrt wurden. Nur ein einziges altes Haus war stehen geblieben. Am nächsten Neumonde nach dem Brande erschienen auch die Nonnen und Ritter wieder, nun aber nicht mehr mit vertauschten, sondern sogleich mit ihren eigenen Köpfen, als sie so über Schutt und Trümmer aus der Kirchenstraße dahergerollt kamen. Neunmal haben sie die Runde um den noch rauchenden Markt gemacht, dann fuhren sie in das einzige stehengebliebene Haus hinein. Dort wiederholte sich zwar der frühere Jubel, allein die Musik klang nicht mehr so wild und der Orgelton und Chorgesang übertönte sie. Später zerfiel auch dieses Haus in Trümmer und von diesem Augenblicke an ist der Zug der Nonnen und Ritter nicht wieder wahrgenommen worden, allein von der Stelle, wo das alte Haus gestanden, ertönte um die Mitternachtstunde eine liebliche sanfte Musik und die Einwohner haben daraus gefolgert, daß jene Unglücklichen jetzt zur ewigen Ruhe eingegangen sind.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 621-622.
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