696. Sage von den Goldbergen bei Neidenburg.

[633] (S. Toeppen S. 132.)


Auf dem höchsten Gipfel der Goldberge (nordöstlich von Neidenburg) steht eine viele hundert Jahre alte Kiefer, von der aus man den ewig grünen Forst ringsum weit übersehen kann. Bei dieser Kiefer hat sich früher öfters eine schöne Jungfrau gezeigt, welche der Erlösung harrend aus ihrem unterirdischen[633] Palaste durch eine brunnenartige, noch jetzt vorhandene Einsenkung sich zum Tageslicht emporhob. Von Liebreiz und köstlichem Geschmeide strahlend ließ sie sich auf einem Kiefernstamme nieder, um ihr langes goldrothes Haar mit einem goldenen Kamme zu ordnen. Wer sie sah, erbebte von der wunderbaren Schönheit und Niemand wagte es, sich ihr zu nahen. Ein Jüngling, der gedankenvoll vor sich hinwandelnd, ohne es zu merken ihr ganz nahe gekommen war, fiel, sobald er sie gewahr ward, vor Entzücken vor ihr auf die Kniee. Sie sprach: »Erlösest Du mich aus meiner Einsamkeit, so fordere was Du willst von mir zum Lohne.« Sie bot ihm ihr Geschmeide, wunderbare Habe aus dem unterirdischen Palaste, drei fette Schweine mit dem schweren goldenen Troge, aus welchem sie gefüttert wurden, wenn es ihm gelänge, denselben ans Sonnenlicht zu bringen, drei schneeweiße Hühner, die nur goldene Eier legten, endlich ihre Hand. Der Jüngling besinnt sich nicht lange, hebt die Jungfrau auf den Rücken und will sie davontragen, aber in demselben Augenblicke sieht er sich von sämmtlichen Thieren des Goldberges umringt und kann nicht von der Stelle. Die Jungfrau belehrte ihn, das Werk ihrer Erlösung werde ihm gelingen, wenn er ohne Furcht jedes der hier versammelten Thiere küssen werde. Er folgt dem Befehl, faßt sich ein Herz und küßt die Thiere, wie sie ihm nahen, Rehe, Hasen, Eichhörnchen, Eulen, Spechte, Habichte, Finken, Schlangen, Blindschleichen, Eidechsen, Nattern, Salamander, Würmer, Käfer etc. Als er mit seiner Arbeit fertig zu sein meinte, kroch noch eine große eckelhafte Kröte, ganz von Schorf und Aussatz bedeckt, mit rothblinzelnden Augen heran. Da ging ihm der Muth doch zu Ende und statt sie zu küssen, rief er: »Hat denn der Teufel auch Dich noch hier?« Klagend sank die Jungfrau in die Tiefe und rief: »Jetzt hast Du mich aber auch in alle Ewigkeit verflucht, jetzt muß ich alle Hoffnung aufgeben, je gerettet zu werden.« Der Erlösungsversuch war an einem Sonnabend gemacht, am Sonntag darauf zeigten sich an der Stelle, wo die Jungfrau ihr Haar gekämmt hatte, drei schwarze Jünglinge, die jedes menschliche Wesen von dem Berge verscheuchten. Die Jungfrau aber hat seit jener Zeit kein menschliches Auge wieder gesehen.

Nach einer andern Sage versuchte ein Bauer das Fräulein im Goldberge zu erlösen, indem er, wie es ihm aufgetragen worden war, sechs Wochen hindurch täglich für sie beten wollte. Dieses that er eine Zeit lang ganz gewissenhaft, einst aber, als er eben wieder betete, trug es sich zu, daß ein Stück Vieh ihm vom Hofe laufen wollte, darüber unterbrach er das Gebet und der Erlösungsversuch war für immer vereitelt.

Auf dem Goldberge sieht man eine Einsenkung, welche sich höhlenartig immer tiefer fortsetzen soll. Hirtenjungen haben in diese Grube aus Neugierde oft Stricke oder Stangen hinabgelassen, wenn sie dieselben aber wieder heraufzogen, war das äußerste Ende immer abgerissen gewesen. Zuweilen zogen sie aber auch Goldstücke an die Enden angebunden heraus. Dies veranlaßte sie an einem Stricke eine Mütze hinabzulassen, auch diese zogen sie mit Goldstücken gefüllt wieder heraus. Nun faßte einer derselben Muth sich mit einem Stricke durch seine Gefährten hinabsenken zu lassen, allein als diese ihn wieder herauszogen, fanden sie zwar eine Mütze voller Goldstücke, ihn selbst aber ohne Kopf.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 633-634.
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