711. Die beiden Linden zu Jauninen.

[644] (Weitläufig in d. Preuß. Prov.-Bl. Bd. XXII. S. 105. Poetisch behandelt bei Becker a.a.O. S. 42 etc.)


Nahe beim Dorfe Jauninen liegt ein steiler Berg, auf drei Seiten von dem Flüßchen Titzeln umflossen, eine halbe Meile südwestlich von Ragnit. An seinen mit Gestrüpp bewachsenen Seiten erblickt man zwei uralte Linden. Dies sind eigentlich zwei Liebende gewesen und die Sage erzählt hierüber Folgendes. Einst stand auf diesem Berge ein prächtiges Schloß, bewohnt von einem mächtigen Heidenfürsten, der nur eine einzige Tochter Namens Jaunina hatte. Ihr Bräutigam war ein preußischer Ritter, der, als die Christen hierher kamen, um ihren Glauben mit Feuer und Schwert den Bewohnern dieser Gegend aufzudringen, herbeieilte für seine Braut zu kämpfen. Allein alle seine Tapferkeit konnte den Fall des Schlosses nicht verhindern, da verbargen sich die Schloßbewohner in den tiefen Klüften des Berges und der Ritter erklärte, er wolle den Christenglauben annehmen, um seiner Braut und ihres Vaters Leben zu retten. Er zog also zu den Christen, doch seine Abwesenheit dauerte länger als man gedacht hatte und so kam es, daß Jaunina eines Tages, als sie ihren Versteck verlassen hatte um nach ihrem Geliebten auszuschauen, von einem Christenritter überrascht ward. Sie lief den Berg hinan und jener ihr Verfolger hatte sie fast erreicht, da verwandelte sie Laima, die Glücksgöttin, in eine Linde, so daß die Hände des Frechen nur einen todten Stamm berührten. In dem Augenblicke kehrte aber auch ihr Bräutigam zurück, es war zu spät sie zu retten, aber nicht um sie zu rächen. Allein er unterlag den Streichen des gewandteren Gegners, doch Laima kehrte noch einmal aus den Wolken zurück und verwandelte auch ihn in eine Linde.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 644-645.
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