712. Der Ohnekopf zu Landsberg.

[645] (S. Preuß. Prov.-Bl. Bd. XXIII. S. 33.)


Vor langen Jahren, als noch die Rathsherrn der alten Stadt Landsberg mit dem Degen an der Seite das Rathhaus zu betreten pflegten, entspann sich einmal bei einer Sitzung des Stadtraths ein heftiger Streit in irgend einer städtischen Angelegenheit zwischen den verschiedenen Mitgliedern desselben. Namentlich geriethen zwei Rathsherrn, die auch sonst einander spinnefeind waren, so heftig an einander, daß einer von ihnen, als der Streit den höchsten Gipfel erreicht hatte, seinen Degen zog und ihn seinem Collegen in den Leib rannte. Von Angst und Schrecken ergriffen stürzte der Mörder, nachdem er das blutige Schwert auf die Erde geworfen hatte, aus dem Saale hinaus, die Treppe hinab und eilte zur Stadt hinaus. Vor derselben stand damals noch ein gegen Ende des vorigen Jahrhunderts umgehauener und zu Gemüsegärten und Hausäckern verwendeter uralter Eichenwald, damals der Aufenhalt unzähliger Nachtigallen und ein Lieblingsspaziergang der Landsberger an Sonntagen. Hierher flüchtete sich der Unglückliche, allein Niemand wagte sich an ihn, denn er bedrohte Jeden, der ihm zu nahe käme, mit dem Tode. Da dem Wüthenden Alles zuzutrauen war, so zog man vor, ihn durch List zu fangen, und einer seiner frühern Freunde erbot sich zu der Rolle des Judas. Er ging hinaus und wußte ihn durch das Vorgeben, sein Gegner sei nicht todt, sondern nur gefährlich verwundet, zur Rückkehr[645] zu bewegen. Kaum hatten sie aber das Mühlenthor passirt, so ergriffen ihn die hier versteckten Stadtdiener und führten ihn in den Bürgergewahrsam, der noch jetzt neben dem Rathhause steht und die Grützkammer genannt wird. Man machte ihm den Prozeß und wie es nicht anders zu erwarten stand, ward er zum Tode verurtheilt und auch nach kurzer Zeit auf dem Markte enthauptet, sein Degen aber mit silbernem Griffe nebst einem Pergamenttäfelchen, welches die traurige Geschichte auf die Nachwelt bringen sollte, an einem der Querbalken der Rathsstubendecke aufgehängt, wo beides erst im Jahre 1807 durch die Franzosen fortgenommen wurde. Damit war damals jedoch die Sache noch nicht zu Ende, denn von Stund an ließ sich der Geist des hingerichteten Rathsherrn – Philippsborn war sein Name – in seinem frühern Anzuge, wenn gleich ohne Kopf sehen. Namentlich trat er seinen frühern Collegen Abends beim Zuhausegehen auf der langen hölzernen Treppe, unter der sich das Gefängniß für schwere Verbrecher, der sogenannte hölzerne Donner befand, entgegen. Am schlechtesten erging es aber dem, der ihn damals aus dem Eichenwalde herausgelockt hatte, er mußte aus dem Rathe ausscheiden, denn jener stand entweder hinter seinem Stuhle oder ihm gegenüber in einer der Blenden der alten großen gothischen Bogenfenster der Rathsstube angelehnt an der Wand. Nun wählte er sich die hölzernen Ueberbaue an den Häusern, die sogenannten Lauben, welche ein regelmäßiges Viereck um den Markt bildeten, zu seinen nächtlichen Spaziergängen und erschreckte dort die Vorübergehenden, als aber endlich diese Lauben weggerissen wurden, beschränkte er sein Umherwandeln auf den Theil des Marktes, wo er hingerichtet worden war. Hier wollte Abends Niemand vorüber um diesem Ohnekopf nicht zu begegnen.

Man sagte, seine ihm von Gott aufgelegte Strafe sei die, daß er so lange keine Ruhe im Grabe haben solle, bis ihm Jemand bei seinem Erscheinen auf Erden irgend eine Frage vorgelegt haben werde, und wenn er dieses auf irgend eine Art bewirken könne und für ihn von demjenigen, von welchem er angeredet sei, in der Weihnachtsnacht zwischen 11 und 12 Uhr in der Kirche ein Vater-Unser gebetet würde, so solle seine Strafe zu Ende sein und seine Seele zur Ruhe eingehen. Dies ist ihm endlich auch im vorigen Jahrhundert geglückt, wo ein altes Mütterchen ihn erlöst hat, wie die folgende Sage lehren wird.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 645-646.
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