713. Die Frühpredigt zu Landsberg.

[646] (S. Torno in d. Pr. Prov.-Bl. Bd. XXIII. S. 26.)


Vor langen Jahren lebte zu Landsberg am Markte in ihrem Hause ein altes Mütterchen, welches alle Verwandten und Freunde bereits durch den Tod eingebüßt hatte und jetzt ganz allein dastand. Da kam der Weihnachtsabend heran, sie schaute durch das Erkerfenster ihres Dachstübchens hinab auf das lustige Treiben auf dem Markte und gedachte der Zeit, wo sie selbst noch ein Kind und am heutigen Tage vergnügt im Hause ihrer Eltern gesessen und der Dinge gewartet hatte, die da kommen sollten, wie sie dann geheirathet und an demselben Abend ihrem Mann und Kindern bescheert hatte, und wie jetzt keines ihrer Lieben mehr am Leben war. Da ward ihr gar traurig zu Muthe und sie sehnte sich auch dahin, wo jene hingegangen waren. So saß sie bis der Nachtwächter die zehnte Stunde abrief, dann betete sie sich ein schönes Weihnachtslied vor und ging zu Bett. Vorher hatte sie aber ihr kurzes Wintermäntelchen mit feinem Grauwerk gefüttert und mit[646] blauem Damast überzogen aus der Kiste hervorgeholt, aufgeputzt und gereinigt und sich neben ihr Bett zum Gebrauche hingelegt, denn sie wollte wie an allen frühern Weihnachtsfesten früh um 5 Uhr zur Frühpredigt in die Kirche gehen. Sie hatte noch keine volle Stunde geschlafen, da schreckte sie aus ihrem Schlummer auf und erwachte. Aber welchen Schreck empfand sie, als sie das Tageslicht in ihr Stübchen hereinbrechen zu sehen wähnte, Alles war hell, sowohl in ihrem Zimmer als auf der Straße. Ohne daran zu denken, daß diese Helle von dem am Himmel stehenden Mond herrühre, glaubte sie die Zeit verschlafen zu haben, zog sich schnell an, hing ihr Mäntelchen um, nahm ihr großes Gesangbuch unter den Arm und ein Wachslicht aus dem Kasten, welches sie schon lange zu diesem Behufe sich hingelegt hatte. Allerdings kam es ihr etwas sonderbar vor, daß im Hause Alles so still und die Hausthür noch verschlossen war, allein sie dachte, ihre Hausgenossen wollten einmal ausschlafen, öffnete die Thür mit ihrem Hausschlüssel und trat auf die Gasse hinaus. Freilich stutzte sie auch hier, als sie in keinem Hause des Marktes Licht sah, was doch sonst um diese Stunde der Fall zu sein pflegte, und als sie überhaupt keinem Menschen begegnete. Der ganze Markt war wie ausgestorben, nur am Rathhause stand eine menschliche Gestalt. Als sie an ihn herankam, bot sie ihm einen guten Morgen und sah ihn gleichzeitig an, allein wie erschrack sie, als sie sah, daß die Gestalt keinen Kopf, auf der Brust aber ein Paar Augen hatte. Sie besann sich auf einmal, dies könne wohl der abgeschiedene Geist des Rathsherrn Philippsborn sein und beschloß ihn zu erlösen. Sie fragte ihn zweimal, was sie für ihn thun könne, er aber blieb stumm; erst als sie ihn zum dritten Male fragte, ließ er sich vernehmen: »Antwort auf Deine Frage wirst Du empfangen, wenn Du nach jener Kirche dorthin gehest und für mich ein Vater-Unser betest.« Bei diesen Worten eilte das Mütterchen entsetzt von dannen, ermannte sich aber und beschloß doch noch zur Kirche zu gehen, theils weil sie die Erfüllung der Bitte des Gespenstes für nicht schwierig ansah, theils weil sie seine Rache fürchtete, wenn sie seinen Willen nicht thue. Sie ging also vom Markte aus durch die Kirchenstraße auf den Kirchhof. Die ganze Kirche war erhellt, in noch hellern Strahlen als dies sonst gewöhnlich war, strömte das Licht aus der Kirche auf die hohen Bogenfenster. Sie öffnete die Thüre der Vorhalle, allein hier brannte nicht wie sonst das große dicke Wachslicht in der schönen kunstreich gearbeiteten Glaslaterne, welche in der Mitte dieses Gewölbes aufgehängt war. Sie hielt dies für eine Vergeßlichkeit des greisen Glöckners, blickte durch das Schlüsselloch in der mächtig mit Eisen beschlagenen Kirchenthüre hinein in die Kirche, und als ihr heller Kerzenschein entgegenglänzte, öffnete sie mit voller Kraft die schwere Hauptthür und trat hinein in das Schiff. Ohne sich viel umzusehen, denn das Umhergaffen im Gotteshause war nie ihre Sache gewesen, ging sie gesenkten Hauptes nach ihrem alten gewohnten Platze zwischen der Kanzel und dem Altare, betete ihr Vaterunser, erhob sich dann, um nach der Nummer des Liedes zu sehen, wie gewöhnlich saß der Kantor vor der Orgel und spielte, der Geistliche stand vor dem Altare, als wolle er die Weihnachtskollekte absingen, der Schülerchor war wie sonst auf dem Chore, wie immer brannten nach alter Sitte auf der Empore des Schuhmachergewerkes Hunderte von Lichtern und zwei Wachskerzen auf der Kanzel, allein als sie ihre Blicke auf die Seite warf,[647] sah sie zu ihrem Schrecken nicht die, die sie jetzt jeden Sonntag auf ihren Kirchensitzen zu sehen gewohnt war, nein! lauter längst Verstorbene. Auf einer Bank vor ihr saß ihre längst verstorbene Schwester, hinter ihr ein Bruder, der lange schon todt war, auch ihre Eltern und viele ihrer alten Bekannten fand sie unter den stumm dasitzenden Todten bald heraus. Tödtlich erschrocken, wußte sie nicht, was zu beginnen, blieb sie sitzen, hefteten die um sie Sitzenden alle ihre unheimlichen Glotzaugen auf sie, drohten ihr wohl auch mit ihren Knochenfingern, und stand sie auf um wieder hinauszugehen, mußte sie wohl an hundert solcher Gerippe vorüber. Da erblickte sie auf einmal ihren verstorbenen Mann, der sich ihr näherte und, obgleich viele der Todten ihm mit aufgehobener Rechten drohten, wie er eine solche Störung machen könne, ihr mit leiser Stimme zurief: »Ach Gott, wie bist Du unter uns gerathen, mach schnell, daß Du fliehest, sonst bist Du ein Kind des Todes!« Nun hält sie nichts mehr auf ihrem Sitze fest, sie klappt schnell ihr Buch zu, verbirgt es unter ihrem Mäntelchen und eilt quer durch die Kirche dem Ausgange zu. Doch jetzt, als sie kaum hier angelangt ist, erheben sich Alle zugleich rasselnd und klappernd mit ihren Knochengebeinen von ihren Sitzen und stürmen ihr nach, kaum gewinnt sie noch so viel Kraft durch die Vorhalle hinaus auf den Kirchhof zu gelangen, aber auch hier verfolgen sie Einige, schon fühlt sie sich von den dürren Knochenhänden an ihrem Mantel gepackt, da macht sie ihn schnell los, läßt ihn fahren und eilt davon. Die Todten, vergnügt über ihre erhaschte Beute, lassen ab von ihr und kehren in die Kirche zurück, sie aber eilt was sie laufen kann nach Hause und als sie endlich vor der Thüre desselben ankommt, schlägt gerade die Rathhausuhr Zwölf. Nun war ihr Alles klar. Schnell entledigt sie, in ihrem Zimmer angelangt, sich ihrer Kleider und legt sich ins Bett, allein am andern Morgen vermochte sie nicht wieder aufzustehen und als ihre Hausgenossen, welche durch ihr Nichtaufstehen beunruhigt waren, kamen um nachzusehen, was sie mache, fanden sie sie schon in den letzten Zügen. Indeß hatte sie noch so viel Kraft ihnen die furchtbare Begebenheit, deren Opfer sie war, zu erzählen und entschlief kurze Zeit nachher, um sich mit denen zu vereinigen, die sie in lebendiger Gestalt zwischen 11 und 12 Uhr in der Kirche erblickt hatte. Als man ihre Sachen ordnete, vermißte man ihren schönen Pelzmantel, beim Nachsuchen auf dem Kirchhofe lag auf jedem Grabhügel, so viele nur auf demselben zu sehen waren, ein kleines Stückchen von dem blauen mit Grauwerk gefütterten Damastüberzuge, so daß Jedermann sogleich erkannte, wovon diese einzelnen Theilchen genommen waren und wem sie gehört hatten. In Landsberg aber hat sich nie wieder Jemand gefunden, der zwischen 11 und 12 Uhr die Kirche zu besuchen Lust verspürt hatte, Philippsborn aber hat Niemand wieder gesehen100.

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Eine ähnliche Sage von der Wildemänner-Kirche im Harze erzählt Ey, Harzmärchenbuch (Stade 1862) S. 208.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 646-648.
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