Venedig

[71] Wäre dies die freudenreiche,

Stolze Meereskönigin,

Mit der ernsten Heldengröße,

Mit dem leichten, heitren Sinn?


Schwarze Gondeln im Kanale

Schwankend, ohne Liederklang!

Shifferruf nur stöhnt bisweilen

Dumpf wie träger Unkensang.


Marmorbilder nur bewohnen

Die Paläste, hoch gebaut,

Und ihr Sinken und Zerfallen

Ist darin der eniz'ge Laut.


Leer vom Volke steht San Marco,

Der Gebete Stoff gebricht!

Klagen will es nicht das Völklein,

Und zu danken hat es nicht.


Am Altar fungirt der Priester,

Ohne Ernst und ohne Sinn;

Nur damit er's nicht vergesse,

Murmelt er sein Sprüchlein hin.
[72]

Längst zerschellt im Arsenale

Fault das alte Dogenschiff,

Ach, der eigne alte Hafen

Ward ihm Klipp' und Todesriff!


Venetianer, sagt, was deuten

Dort die hohen Maste drei?

Pflanzet ihr als Vogelscheuchen

Vor den Dom die Stangen frei?


Ei, ihr habt doch keine Saaten!

Die ihr hattet, sind verdorrt!

Und die allerschlimmsten Vögel

Scheuchten sie euch doch nicht fort;


Jene Vögel, die die Augen

Eurer Freiheit ausgepickt,

Ihr das Schlummerlied gesungen,

Bis sie sterbend eingenickt.


In dem eh'rnen Markuslöwen

War einst Leben, Kraft und Herz:

Doch der königliche Wächter

Liegt nun todt, ein Aas von Erz!


Längst begann ja Adlerherrschaft,

Seit der alte Leu erlag

Unter jenes Frankenadlers

Jugendlichem Flügelschlag.


Stumm und öde Platz und Straßen

Und die Fluthen rings umher,

Selbst die Steine reden nimmer

Und die Menschen längst nicht mehr!
[73]

Und doch wüßt' ich einen Zauber,

Ja ein Wörtlein nur, gar klein!

Spräch's zur rechten Stund' der Rechte

Spräng' von diesem Sarg der Stein!


Ha, da wirft der Markuslöwe

Seine Mähne stolz empor,

Schüttelt wieder kühn die Flügel

Frei und kräftig, wie zuvor.


Dreier Königreiche Flaggen

Weh'n von jenen Masten her

Und das Lied der Gondoliere

Tönt in Chören übers Meer.


Horch, es läuten alle Glocken!

Weihrauch duftet durch den Dom,

Zwischen Orgelklang und Psalmen

Jauchzt empor des Volkes Strom.


Fenster, Straßen und Balkone

Füllt die Menge bis zum Rand,

Feierlich im Purpur wallen

Doge und Senat zum Strand.


Golden schwimmt der Bucentoro

Stolz hinaus ins heil'ge Meer.

Tausend lust'ge, schmucke Gondeln

Tummeln flink sich hinterher.


Nieder sinkt der Ring des Bundes

Zwischen Erd' und Meeresfluth,

Menschenkraft und Elementen,

Götterlaun' und Menschenmuth.


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 71-74.
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Gedichte
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