Kern und Schale

[96] Ein Schenkhaus, draußen schlicht und klein

Ein dürrer Kranz als Zeichen;

Doch drin, voll kühlem, goldnem Wein

Ein Keller sonder Gleichen!


Am Fenster manch zerbroch'ner Topf,

Drin blüh'nde Rosen schwanken;

Am Schenktisch manch ein ernster Kopf,

Drin fröhliche Gedanken!


Ein Kirchlein, halb verfallen schon,

Die Pforte morsch und enge;

Doch drinnen Andacht, Orgelton

Und Trost und Liederklänge!


Ein blinder Kutscher, lahme Pferd',

Ein alter Karr'n im Sande,

Doch drin im morschen Kasten fährt

Die schönste Maid im Lande!
[97]

Ein graues kahles Felsenthal,

Drin frische Quellen rinnen;

Ruinen alt, verwittert, fahl,

Doch grüner Epheu drinnen?


Ja, seht mich selbst, den Wandersmann,

Gebräunt vom Sonnenbrande,

Mit grauem Kittel angethan,

Beschneit von Staub und Sande!


Doch ist mir in der Brust das Blühn

Des Frühlings aufgegangen,

Mit blauem Himmel, frischem Grün,

Gesang und Blumenprangen!


Ja, zweierlei ist Schal' und Kern!

Den Spruch hab' ich erwandert!

Und zweifelt wer an ihm, ihr Herrn,

Knackt Nüsse, oder wandert!


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 96-98.
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Gedichte
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