Prolog

Was drängt das junge Laub der Eichen

So frisch aus Maienlicht sich heute,

Und sieht doch unten Seinesgleichen,

Des letzten Herbstwinds dürre Beute!


Was jauchzt die Nachtigall sanglodernd,

Als ob ihr horchten Ewigkeiten,

Und sieht doch ihre Schwester modernd,

Wenn Schnee sein Bahrtuch läßt entgleiten!


Was drängt ihr, Lieder, euch vermessen,

Im Dichtersaal Gehör zu fordern,

Und seht doch längst verhallt, vergessen

Die Lieder edler Sangesvordern! –
[3]

Und wüßt' ich auch, ein Schutzgeist schreibe

Mein Lied in Felsen unverdrossen,

Daß aufbewahrt es Enkeln bleibe, –

Ich hielte fest den Mund verschlossen.


Und wüßt' ich, daß zu fernen Zeiten

Ein jeglich Bild aus meinen Sängen

Als Marmorbildniß würde schreiten, –

Fest würd' ich zu die Lippen zwängen.


Denn freud'ge Ahnung im Gemüthe

Und Hoffnung will mich süß durchdringen,

Es werde unsres Daseins Blüthe

In einem neu'n Geschlecht sich jüngen;


Das, Manneskraft im starken Busen

Und Gotteslieb' im warmen Herzen,

Einst lächeln muß ob unsrer Musen

Fruchtlosen Kämpfen, müß'gen Scherzen.


Doch würden, wend' es Gott! die Söhne

Nicht edler als die Väter wieder,

Dann sind sie unsrer Schmerzenstöne

Nicht werth und unsrer Kampfeslieder.


Und süßer als ein ruhmlos Leben

Im weiten, todesstillen Raume,

Ist's, zu verklingen, zu verschweben,

Wie Blatt und Vogel sinkt vom Baume.
[4]

Wenn ihr nur einen Ast zersplittert,

Ein Blättlein reißt vom Zweigesrande,

Traun, ihr verletzt und ihr zerknittert

Dem Lenz ein Stück vom Festgewande!


Schießt ihr ein Vöglein, leicht zu missen,

Nur Eines aus dem Schwarme nieder,

Des Frühlings Lied habt ihr zerrissen,

Der ganze Vollklang ist's nicht wieder!


So ist mein Lied im Dichterlenze

Ein Vogel nur, ein Blatt, ein Schimmer,

Und fehlt es, bleibt noch g'nug dem Lenze,

Doch ist der ganze Lenz es nimmer.


Drum grüne kühn, Baum meiner Lieder,

Im Haine deutschen Sangs ein Sprosse,

Inmitten deiner schönern Brüder

Ein treuer, heiterer Genosse.


Du hast gebebt vor den Gewittern,

Die ihren starken Stämmen drohten;

Mit ihnen mußtest du erzittern,

Wenn um ihr Haupt die Blitze lohten.


In grüner Schale aufgefangen

Hat jedes Blatt den Thau der Frühe;

In Thränen mag der Himmel prangen!

Und Hoffnungsmorgenroth erglühe!
[5]

So laß gemuth dein Leben gleiten,

Wie dir's schon liegt in Mark und Kerne,

Die Lenze sei'n dir Ewigkeiten,

Dein Ruhm die schönen, flücht'gen Sterne.


Und deiner Wipfel echte Töne,

Sie werden Ort im Ganzen finden,

Doch das Unheil'ge und Unschöne

Sei dir entführt von günst'gen Winden!


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 3-6.
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