Knospen

[32] Sonnenglanz und Rosenduft,

Nachtigallgeschmetter!

Doch verirrt in Frühlingsluft

Flattern dürre Blätter.


Haben an den Zweigen lieb

Noch vom Herbst gehalten,

Doch der jungen Knospen Trieb

Drängt vom Platz die alten.


Junges Volk bei Tanz und Spiel

Jauchzt in grünen Hagen,

Doch ich seh' auch ihrer viel

Trauerflöre tragen.


Denn wie hier in Frühlingsluft

Welke Blätter stieben,

Sah ihr eigner Lenz zur Gruft

Welken theure Lieben.
[33]

Knospen sind sie selber auch!

Ohn' es selbst zu ahnen

Drängen sie nach Knospenbrauch

Welkes aus den Bahnen.


Daß ihr eigner Lebensmai

Oben sich entfalte,

Daß er blüh' und klinge frei,

Muß hinab das Alte!


Und wie dürren Laubes dringt

Mir durchs Mark ein Knistern,

Zu der Seele Tiefen ringt

Sein unheimlich Flüstern;


Rings von Knospen weich und sacht

Fühl' ich leises Drängen;

»Lebewohl!« und »Raum gemacht!«

Tönt's aus Lenzgesängen.


Sonnenglanz und Rosenduft!

Nachtigallgeschmetter!

Und in solcher Frühlingsluft

Irre dürre Blätter!


Ja, mein Loos ist ihrem gleich,

Da wir erdwärts sinken

Während ringsum freudenreich

Neue Lenze winken.
[34]

Sei ihr Trost der meine auch:

Daß im Niederwallen

Wir gewiegt vom Frühlingshauch

Nur in Blüthen fallen!


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 2, Berlin 1907, S. 32-35.
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