3. Sokrates.

[178] Sokrates, der Weise Griechenlands, hatte muthig gekämpft gegen die Feinde, und seine Landsleute freuten sich deß, und wollten ihm die Krone der Tapferkeit aufsetzen. Er wich aber aus, und weigerte sich, dieselbe anzunehmen. »Gebt diese Krone dem jungen Alkibiades,« sprach er, »der auch unter den Tapfersten gestritten.« Und man gab dem jungen Alkibiades die Krone.


»Warum nahmst du aber die Ehrenkrone nicht an?« (warfen ihm seine Freunde vor) »da du sie doch verdientest?«[179]

Sokrates aber setzte sich in die Mitte seiner Freunde und Kriegsgenossen, und belehrte sie durch ein Gleichniß:

Am Tage der Schöpfung wurde von dem schaffenden Geiste ein alter stämmiger Eichbaum gepflanzt und ein zärterer junger; und der Gott versprach, am Abende den von beyden zu tränken, der den Tag über am frischesten grüne. Und die Bäume standen in den Gluthen der neugeschaffenen Sonne, und freuten sich ihres Pflanzenlebens, und grünten die Zeit des Tages über mit glänzendem Laube, der alte Eichbaum, wie die junge Eiche. Aber gegen den Abend war die junge Eiche beynahe ermattet, denn ihre Wurzeln waren noch nicht so tief gedrungen, und die Oberfläche der Erde war ausgetrocknet von dem Sonnenschein, daß sie fürder nicht mehr Nahrung daraus saugen konnte.

Aber die Sonne tauchte hinter die blauen Berge, und es ward Abend; und der Gott sandte den Pflanzenengel mit einer krystallenen[180] Urne, voll erfrischenden Thaues. Und der Engel goß ihn über den stämmigen Eichbaum aus, denn in seinem Grün war ein kräftigeres Leben den Tag über. Darum tränkte ihn der Engel.

Aber der Eichbaum schüttelte sein Haupt und goß den Thau auf die nachbarliche junge Eiche hin, und erfrischte sie, daß sie den folgenden Tag wieder von neuem frisch grünte, wie den ersten Tag. Aber auch der alte Eichbaum stand da im vollen kräftigen Blätterschmucke, am zweyten Tag, wie am ersten Tag.

Er hatte der Erfrischung nicht bedürft, denn seine Wurzeln waren schon tief gedrungen in den Schoos der Erde; die junge Eiche aber hatte der Erfrischung bedürft, um den Grund zu fassen. Darum hatte der alte Eichbaum gerne seinen Thau auf die junge Eiche herabgeschüttelt.

Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Kindermährchen. Heidelberg [1809], S. 178-181.
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