VI. Die hängenden Gärten

[115] Erblicken wir in den verschiedenen Bildungswelten der Geschichte die Zeit- und Raumwerdung ewiger Kräfte, die in jedem echten Menschen schlummern und im Dichter manchmal aufwachen, wie die griechische Leibgegenwart in den Hirtengedichten, das germanisch-ritterliche Seelenschweifen in den Sagen und Sängen, so hat sich mit Georges Buch der Hängenden Gärten die Phantasie-ferne des Ostens, der Fremdzauber aus Tausendundeinernacht, die üppige Gartenpracht, die Wüstenglut und der heiße Märchenzauber wieder wachgesungen: die dritte der drei Bildungswelten die dem Europäer in Fleisch und Blut eingedrungen. Vieldeutig wie alle Geschichte, ist auch der Orient in mannigfachen Brechungen und Lagen gesehen und erneuert worden: auch er hat seine deutsche Mythik, seine Romantik und seine Historik gefunden, von Luthers Bibel bis zu Nietzsches Zarathustra. Sehen wir ab von den Kreuzzugs-fluiden und von der Bibelreligion, so beginnt die sinnliche Gewalt des Ostens über deutsche Seelen mit dem Salomonischen Hohen Lied, einem Urklang von Liebesfeuer und wollüstigem Überschwang, sie wird genüßliche[115] Schnörkel- und Farbenfreude bei Wieland, Patriarchenluft, satter Erdenglanz und morgenländische Reife in Goethes Divan, der dann bis auf unsere Tage die Vorstellung beherrscht hat, unter manchen Erweiterungen durch Romantik und Epigonen. Mehr als sonst ein Kulturbezirk ist uns Morgenland das Andere, das Fremde und Ferne, die Erholung von Gewohnheit, Gesetz, Pflicht, die Durchbrechung des Alltags, Wunder und Märchen, Buntheit und Prunk gewesen, und deshalb vorzugsweise »romantisches Land« auch bei den Hütern der Gegenwart und der Heimat.

Diese Phantastik ist so gut ein menschlicher Urgehalt wie das Maß des Leibes und die Sehnsucht der Seele, und schon deshalb mußte sie in dem Rufer der menschlichen Urformen unwillkürlich einmal als Werk erscheinen. Sie ist eine Gefahr der Zerlösung wo sie allein herrscht, wo sie von keiner Willensmitte und Gestaltkraft mehr gebunden wird, eine Verflüchtigung nach außen, wie das Gemüt eine Verflüchtigung nach innen, beides »Romantik«. Das Schweifen der Sinne kennt George so gut wie das Schweifen der Seele, und beiden Gefahren ist er nicht ausgewichen: er hat sie gezwungen unter sein Gesetz, sie gebannt in die schöne Gestalt und in den schicksalhaften Kairos, gehorsam den Göttern seines Raums und seiner Zeit. Dadurch hat er die Romantik der Phantasie überwunden in den Hängenden Gärten wie die Romantik des Gemüts in den Sagen und Sängen. Von den Hirtengedichten zu den Sagen und Sängen und zu den Hängenden Gärten verbreitert sich der Schauplatz, die sinnlichen Beschreibungen nehmen zu, Farben und Klänge häufen sich .. die Einheit der Bücher ist lockerer. Was in den Hirtengedichten ganz zu Haltung und Geberde verdichtet war, durchdringt in den Sagen und Sängen einen beseelten Raum, brennt und flimmert, duftet und wallt in den Hängenden Gärten als Farben- und Klangspiel: es ist immer dasselbe Wesen, dasselbe Blut und Schicksal, derselbe Mensch, aber gleichsam in immer loserem Aggregatszustand, in immer flüchtigeren Geschichtsstoffen inkarniert.

Denn immer müssen wir von beiden Seiten her diese drei Bücher begreifen: von dem Innern des Dichters her und von dem Außen der Bildungswelten. Jenes will Aus-druck in geschichtlichem Sinnenstoff, dieses Er-Innerung in kosmischer Blutskraft, und beide Attribute[116] derselben Substanz werden Sprache. Auch hier ist der Dichter als Person dasselbe was die Geschichte als Element ist. Die orientalische Lage seines Gesamtwesens ist genau wie die orientalische Lage der Gesamtgeschichte (des elementischen Makrokosmos zu seinem persönlichen Mikrokosmos) gestaltloser, lockerer und wehender als seine griechische und seine ritterliche Lage: d.h., das Menschwesen das sich als Griechentum (der Geschichte wie der Person) auswirkt in Gestalt, bildhaft, tathaft »tat-sächlich«, das sich als Rittertum offenbart in bewegtem Raum, seelenhaft, süchtig, drängend, schweifend, das zeigt der Orient umgesetzt in das bloße Spiel der Sinnenkräfte, in die Erregungen des Leibes, in antwortenden Reizen, in Scheinen, Erscheinungen. Das sinnbildliche Naturspiel des Morgenlandes beherrscht auch seine Geschichtsart: die Fata Morgana, der selbstgenugsame Schein, der zwar Wesen voraussetzt und umsetzt, aber keines ist: Umsetzung eines Wesens durch eine Kraft in einen Schein. In der griechischen Gestalt ist Glut und Helle, Kraft und Stoff, Leben und Leib eines, im gotischen Raum sind sie zusammen, in der orientalischen Erscheinung sind sie auseinander. So ist auch Georges östliche Dichtung zwar immer noch menschlich, schicksalhaft, aber nicht mehr gestaltig, sondern gelöst in menschliche Erregungen und deren Zaubereien, d.h. Fünfsmnen-reize – zumal Blick-reize. Denn wie weit George sich auch von seiner antikischen Mitte entfernt: Augenmensch bleibt er selbst noch im Wogen der Scheine und im Brennen der Triebe.

Das Auge und das Schicksal führen ihn selbst aus dem Osten der Hängenden Gärten immer wieder zurück in die europäische Leibwelt, sein gesetzliches Menschenreich, das er zwar überschreiten und überfliegen, aber nie aufgeben darf. Dieser feste Grund hat ihm die Heimkehr aus dem Traum des Algabal ermöglicht und geboten, ehe er noch die Geschichte als gegenständliches Außen sich erobert hatte. Sie rettet ihn jetzt wieder, bei seinem verwegensten Aus-flug in die Geschichte, vor der romantischen Gefahr der Ent-staltung durch Zerflattern oder Zersprühen. Um Georges Hängende Gärten zu begreifen, müssen wir auch in ihnen wieder hinter Scheinen und Reizen sein Schicksal gewahren, und das Maß selbst seines maß-fernen Märchens. Daß er überhaupt auch märchen-bedürftig und -fähig war,[117] gehört zu seinem Beruf, als welthaltiger Dichter alle Mächte zu beschwören. Daß er sich nicht entfremdete, sondern sogar dies Fremdeste aneignete, ist ein Zeugnis seiner angestammten Art, die wir noch in diesem bunteren Gewirke und Schimmer wieder erkennen .. auch hier, in östlicher Wandlung und Stimmung, die gleichen Lenker: Eros und Kairos.

Die Hängenden Gärten erneuern innerhalb der Bildungswelt, auf einer »objektiven« Ebene, die Spannung des Algabal zwischen der herrscherlichen Weihe des Ich und dem Drang des Herzens nach unbedingter Hingabe an ein würdiges Du. Ja, das Buch hat in der Reihe der geschichtshaltigen Trias genau denselben Platz wie der Algabal in der noch vorgeschichtlichen reinen Sprach- und Traumtrias Hymnen Pilgerfahrten Algabal: es ist die letztmögliche Ausweitung des leibhaftigen Ich ins Räumliche und Schweifende bis an die Grenze der Verflüchtigung, das jeweilige Ende des Wegs von der Gestalt über den Raum zur Erscheinung. Nur war die erste Trias noch ohne einen vor-selbstigen Gehalt außer der Sprache und mußte sich erst ihren Seelenraum erwirken .. jetzt ist ein Geschichtsgehalt bereits mit dem einsamen Ich gefüllt und vermählt. Eben dadurch wird die Algabal-spannung anders, ja umgekehrt gelöst. Für den Dichter des Algabal war die Rettung der Weihe, die Erprobung seiner Gewalt, die Bewahrung seines von Überkräften erschütterten Herzens die oberste Aufgabe. Er mußte zurückdämmen all die ausbrechende Hingabe, opfern jede zärtliche Weichheit und unterdrücken jede Begier die nicht der heiligen Herrschaft, der neuen, schweren, unwiederbringlichen und unersetzlichen, diente. Im Algabal ist die Weihe das oberste Gebot, weil sie der schwerst errungene und meist bedrohte Wert ist, der letzte und höchste Schicksalsaugenblick des damaligen George, die Gewähr seiner Macht .. und ihr muß selbst Eros zwar nicht weichen, aber fronen. Der Dichter der Hängenden Gärten hat seinen gesicherten Raum, seine unbestrittene Gewalt über »das Land das ihm von früh auf eigen war«. Er kann von seinem Reiche, d.h. von seiner nun bewährten Macht über sich selbst, über Menschen, Dinge und Worte zurückschauen auf den vorwegnehmenden Traum vom »Kindlichen Königtum«, auf die Wünsche und Spiele des Knaben als auf Vorgefühle der eigenen Kraft und Sendung.[118] Frühere Gefahren, Kämpfe, Siege erscheinen jetzt traumfern und traumklar, als Gesichte einer überwundenen Vergangenheit .. und die Herrschaft selbst – im Algabal die furchtbare Bürde eines bis zum Zerreißen gespannten Geistes, dem der bloße Aufruf und Bann des Traums die Kräfte bindet – diese Herrschaft ist jetzt fast müßiges und üppiges Fest, schwelgendes Verliegen, süßes Spiel, fast eine »Lüge von Wesen und Welt«.

Das ist der Eingang zu den Hängenden Gärten .. bekränzt mit allen Duft- und Farbenranken des östlichen Märchens, gewiegt, umklungen, überflimmert von den Strahlen des Unwahrscheinlichen, die Feier pflichtloser Phantastik, gegenwartlosen Voraus-und-zurücksinnens, innig badender Versunkenheit, blumiger Beschauung und Inbrunst .. die Herrschaft nicht als Ziel, Pflicht, Tat oder Macht, sondern als Genuß bis zum Überdruß, als milde Gunst und Laune der Güter, als Kalifenherrlichkeit. Zurückübersetzt aus der östlichen Zeichensprache in die Schicksale des Herzens das ihrer fähig war heißt das: es ist in Georges Dasein eine Stunde der heißen und gelassenen Stille gewesen, da für ihn Erreichtes und Ersehntes ineinander schwammen zur Mär, da ihn sättigte und fast schon übersättigte die eigene Fülle der Gesichte und da er versucht war zum Augenblick zu sagen: »Verweile doch« oder vielmehr, da der schöne Augenblick ihm versank in dem zeitlosen Frieden vollkommenen Genügens. Dies war die Stunde die ihn reif machte für Morgenland. Er hat nichts süßer Schwüles, üppiger Buntes geschrieben wie die Verse dieser tropischen Muße – nirgends ist der von Erinnern und Erwarten, von Lockungen und Drohungen gleich trächtige Halbschlummer ausruhenden aber nicht ruhigen Lebens, die besonnte Windstille der Seelenflut so heimlich unheimlich verdichtet worden wie in dem »Friedensabend« .. jene Lage zwischen Wachen und Träumen wo uns das Gefühl für Dauer schwindet, deren Vorgänge Tage zu Minuten, Minuten zu Tagen machen, kurz, wo Zeit und Raum aufgehoben scheinen.


Wie schemen locken nur die festgepränge

Die wilden schlachten lauten untergänge.


Im dichten dunste dringt nur dumpf und selten

Ein ton herauf aus unterworfnen welten.
[119]

Gerade die bewegtesten und leidenschaftlichsten Herzen sind für solche Stunden – mehr als Stunden können es ja nicht sein – am empfänglichsten und sie auszudrücken am fähigsten .. denn sie genießen den Abstich in seiner ganzen Stärke. Wer hat den Sabbath des südlichen Meers, die halkyonische Seligkeit so gefeiert wie Nietzsche? Fausts Schlummer auf dem Elfenplan, die heiße Pansstunde in Jean Pauls Flegeljahren, Dantes Blumenwandeln im irdischen Paradies sind verschiedene Sinnbilder desselben Erlebnisses. Nur der Dichter des Romeo konnte die Johannisnacht so warm und golden träumen. Nur auf dem Grunde des dunkelsten Grauens gedeiht das üppige Märchen, in der Nachbarschaft des Todes und während das Schicksal verschnauft.

Die polaren Gewalten sind immer da und warten nur auf den Wink ihrer jeweiligen Allmacht. Der Herr der Hängenden Gärten ist noch der gleiche Charakter wie Algabal, nur seine Aufgabe, seine Schicksalsstunde, sein Sternenstand ist anders: nicht mehr die Herrschaft, sondern die Hingabe wird das Gebot für den der sicher besitzt. Dasselbe Geheiß das den Algabal in die Höhe treibt, wo er sein wahres Ich rein, d.h. un-bedingt verwirklichen kann, verwehrt dem Gebieter zu rasten und zwingt ihn hinzugeben was er errungen. Nicht das Ich und nicht die Herrschaft ist das Lebensgesetz, sondern die Polarität des ewigen Ich und des ewigen Du, »das Gleichgewicht der ungeheuren Wage«, kraft dessen der hohe Mensch Welt in sich und sich in Welt füllen muß. Beides ist Drängen und Ringen, aber auch ewige Ruh in Gott – und augenblickliche Ruh im Menschen, wenn die Zünglein der Wage gerade sich streifen. Das Naturgesetz das Goethe in die Formeln von Polarität und Steigerung faßt, das Aus- und Einatmen, die Systole und Diastole, ist auch ein Lebens- und Seelen-gesetz, und so hat George es erfahren. In einer höheren und weiteren Spirale (wiederum ist Goethes »Spiraltendenz« ein aufschlußreiches Gleichnis) wiederholt George seinen Weg von Ich zu Du, und vom Du zu immer weltvollerem Ich, immer neue Schichten einbegreifend in sein Ich und sie wieder ausströmend in immer höheres, immer würdigeres Du. Die Umläufe zum Ich hin stehen unter der Weihe, die Umläufe zum Du stehen unter dem Eros .. und beide gehorchen dem Kairos, der die Stunde des Nehmens und des Gebens bestimmt.[120]

Auch die Form der Hingabe, das Verlangen nach dem Untergang im Du wird bestimmt durch das Schicksalsklima das der Charakter gerade durchschreitet. Nicht von Laune oder Stimmung hängt ab wie er sich opfern will, sondern von der Geschichte die gerade in ihm wacht und waltet. Da George aus dem gotischen Schicksalsklima in das östliche tritt, oder vielmehr da seine östliche Stunde zu Wort kommt, steigert sich die Minne, die Erhöhung des Du – die germanische Urform der äußersten Hingabe – der Überschwang der Treue, zur Prosternation, zur Niederwerfung des Ich vor dem Idol. Je reicher das Ich selbst ist, je mehr es preiszugeben und zu verschwenden hat, desto tiefer die Demut, und je höher die Würde und der Stolz des Besiegten, desto reißender die Qual des Opfers. Mehr als bei der gotischen Minne, die Er-hebung und Aufhebung der Seele zugleich ist, Lösung und Erlösung des Ich in ein höheres Du, empfindet und leidet hier das hohe Herz den eignen Drang. Nicht mehr die Unerreichbarkeit ist das Leid, sondern die vergebliche Selbstopferung. Mit voller Gewalt werden hier alle Reize und Zauber der Sinnenwelt bejaht: sie soll ja nicht verlassen, sondern verschenkt werden .. und mit voller Gewalt bejaht sich der Liebende selbst, denn er will besessen, nicht vernichtet sein. Er will spenden und huldigen als der Reiche, als der Hohe, und seine Liebe ist kein Gebet das erst von der Göttin Sinn und Weihe empfängt, wie die Minne, keine Askese, sondern eigenherrliche Glut die sich ergießen und kühlen will, und zugleich weihen was sie berührt.

So durchdringen sich im Mittelstück der Hängenden Gärten – einem Hohelied der sinnlichen Leidenschaft, der inbrünstigen Demut und des gemarterten Stolzes – die schwellende Pracht der heißen Erde mit dem nachhaltigen Willen und der Würde eines griechisch gesinnten Leibes. Nur aus östlichen Lagen konnte George eine solche tropische Phantasmagorie hervorzaubern .. nur ein griechisches Maß- und Würdegefühl konnte so leiden an dem Zwang der Besessenheit, an dem Befehl der Sinne »verschwende und diene«! Diese Gedichte überbieten an Sinnenglut weit die Sagen und Sänge: denn die Sinnenwelt ist hier ein wirkliches Gut. Sie erreichen an Stolz und Höhe den Algabal: denn das Ich ist auch hier ein unbedingter Wert. Sie sind gespannter als beide Werke: denn das Opfer muß hier eine viel weitere[121] Kluft zwischen Ich und Du füllen. Nur ein Herz das so östlich durchdrungen ist von der Pracht der zu opfernden Welt und so westlich durchdrungen von der Würde des Menschen konnte diese Gesänge empfangen. Weder ein purer Genießer noch ein purer Minner, weder ein einfach demütiges noch ein einfach stolzes noch ein einfach begehrliches Herz konnte diesen Konflikt überhaupt erfahren, sondern nur eines in dem Welt-freude, Ich-würde und Du-dienst gleich mächtig wirkten. Diese äußerste Spannung östlicher griechischer und gotischer Gegenkräfte in einem Mann macht die Liebesgedichte der Hängenden Gärten einzig durch die Einheit von üppiger Pracht, strengem Maß und wilder Leidenschaft. Der Osten kennt nicht diese höchste Steigerung der natürlichen Menschenwürde .. einseitiges Herrentum und Sklaventum macht dort die Macht und den Dienst zu leicht. Die Gotik nimmt die Sinnenwelt nicht wirklich und wichtig genug, um an ihrem Opfer bis zum Grund zu leiden. Das Griechentum nimmt sie zu wichtig und würdig, um sie maßlos zu verschwenden und um des Opfers willen zu opfern. Es bedurfte eines solchen Charakters wie George und einer solchen Schicksalsstunde für diesen Charakter, um diese brennend-bunten Scheine voll trunkner Süße, sengender Begier und zehrender Qual, voll keuscher Stille und gebändigtem Beben zu ermöglichen. Er mußte reich genug sein zum Verschwenden, stolz genug zum Herrschen, fromm genug zum Knien .. so stolz, daß das Knien zur Qual und so fromm daß es ein Gebot wurde. Der Osten bot ihm das äußerte Sinnbild (und jeder echte Künstler bedarf des äußersten für die königliche Demut die nicht Erhebung des Du, sondern Verschwendung und Opfer des Ich ist.

Der Eingang der Hängenden Gärten enthält den Zustand der dies Opfer nötig macht und vorbereitet, die Mitte die Verschwendung und Opferung selbst in mannigfachen Graden und Momenten. Das Ende gibt die Armut und die Verlassenheit des Vergeuders, das »Trauern dess der ein Königtum verlor«. Auch dieser Gehalt ließ sich in seiner höchsten Steigerung nur von einem algabalischen Menschen durchleben und nur unter orientalischen Zeichen versinnbilden. Die algabalische Schwermut der völligen Einsamkeit ist hier gesteigert und gemildert zugleich durch die Wehmut des Weltverlustes,[122] durch die Ehre der erhabenen Rückschau auf das Verlorene und die Demut die den Bettler- und Sklavenrock so groß trägt wie den Purpur .. ein äußerstes Gleichnis für den amor fati: durch innere Würde und Höhe überlegen bleiben dem eigenen Unheil, dem verhängten wie dem erwählten. Diese Haltung hat schon Algabal gefordert:


Es ziemt nicht in irdischer klage zu wanken

Uns die das los für den purpur gebar.


Doch erst dem Herrn der Hängenden Gärten wird zur Bewährung das Leid


Verbannter herrscher, ihr erhabnes trauern

Und unbemerkter tod.


Das Schicksal das durch dieses morgenländische Sinnbild sich ausdrückt ist die notwendige Einsamkeit jeder schöpferischen Seele und die abgründige Trauer nach jedem großen Aufschwung, sobald sie einen Lebensbereich ganz ausgeschöpft hat und der neue ihr noch nicht aufgeschlossen ist. In eine östliche Mär gebracht ist hier der Zustand von dem es später heißt:


Ihr bangt der Obern pracht nie mehr zu nennen ....

Der stoff ward ungefüge, spröd und kalt.


Im Jahr der Seele lautet er:


Ich zeige euch in der erfüllung das grausamste schicksal.


Seit der Dichter zu den Müttern einsam steigen, die kosmischen Gewalten als Einzelperson bannen muß, um sie der entgötterten Gesellschaft wieder einzugeisten, hat diese Art Trauer immer wieder ihren Ausdruck gefunden .. schon bei dem spätesten Shakespeare in der Gestalt des Prospero, zumal in der Abschiedsrede an die Geister. In dem Ungenügen Fausts schwingt sie mit und in dem Untergang des Empedokles, zu schweigen von Zarathustra. Wo sie erscheint ist sie überall verbunden mit dem Wunsch einzutauchen, aufzugehen und unterzugehen im Element, die Trugbilder der einsamen Person zu löschen im schöpferischen Wogen des allhaltigen Chaos oder im bildlosen Ur-sein – Versuchung gerade der bildbesessensten gesichtevollsten Geister. So auch bei George: am Schluß der Hängenden Gärten lockt und raunt die Versuchung der Wellen, in denen das menschliche Sonderleid sich auflösen darf. Als Ende des Märchens[123] von den Hängenden Gärten heißt dies: Erlöschen der Phantasmagorie, der Leidenschaft und der Einsamkeit, Übergang der Erscheinung in Sein des Alls, in Un-sein des Selbst. In Georges Seelengeschichte verkündigt es die Wendung zu dem neuen Kräftereich das bisher in seine Dichtung nur hereingespielt hatte: zur unmittelbaren Natur! Mit den Hängenden Gärten hatte er die drei Bildungswelten die noch in ihm lebten (nicht ihren unendlichen historischen Stoff, aber ihren ewigen kosmischen Gehalt) erschöpft – von der griechischen Gestalt bis zum östlichen Erscheinungsspiel, und war abermals vor der Leere oder vor dem Chaos angelangt. Abermals war, seelisch gesprochen, ein Traum zu Ende geträumt, kosmisch gesprochen eine Kräftelage ausgebeutet. [Nochmals: es handelt sich bei diesem Dichter nicht um »Erlebnisse« die er lyrisch behandelt, sondern um Leben das ihm Sprache wird, indem es ihn durch-scheint, durch-wandelt, durch-wirkt]. Er bleibt zwar derselbe Mensch, aber er wiederholt sich nicht, da immer neues Leben von ihm Wort verlangt und das schon durchdrungene eingeht in das noch zu durchdringende. Der Übergang von einer Lebenszone in die andere kann unmerklich erfolgen oder durch jähe Erschütterung. Nur in diesem Sinn mag man von Er-lebnissen Georges sprechen: sie sind das Gewahrwerden des neuen Kräftekreises den er nun durchwandeln oder der ihn durchwandeln muß – beides ist dasselbe.

Quelle:
Gundolf, Friedrich: George. Berlin 31930, S. 115-124.
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