Vierter Auftritt


[164] Chapelle allein. Dann Matthieu und Madeleine.


CHAPELLE. Ja, ich will mich an Molière rächen – durch ein Stück in seiner eignen Manier! Ha, ha! Hörst du, Molière, durch ein dramatisches Sittenbild –: Der Scheinheili – Es klopft. Wer klopft? Doch nicht bereits der Präsident?

MATTHIEU steckt den Kopf herein. Niemand da? Ah Hereintretend. Herr Chapelle! Nur näher, werdende Künstlerin! Hier tritt ein! Hier ist das Heiligtum eines großen Mannes! –


Madeleine tritt ein.


MATTHIEU. Herr Chapelle, Sie erinnern sich Ihres Landsmannes, des Gewürzkrämers Matthieu, Rue du Coq, zu ebner Erde ...

CHAPELLE. Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Matthieu? ...

MATTHIEU. Mit Bewilligung einer Gnade, um welche selbst die berühmtesten Dichter zuweilen bitten müssen, um die Gnade, mich anzuhören. Madeleine, hierher!

CHAPELLE. Was soll das junge Mädchen?

MATTHIEU. Madeleine, nähere dich ehrfurchtsvoll diesem großen Manne! Siehst du, das nennt man einen Dichter!


Madeleine knixt.


CHAPELLE. Bitte, Herr Matthieu, Sie werden je reicher, je komischer. Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs? Beiseite. Ein lästiger Mensch, aber ein dramatischer Dichter kann sich nicht genug Popularität verschaffen.

MATTHIEU zu Madeleine. Sprich offen! Wie heißt du?

MADELEINE. Madeleine Béjart aus Châlons an der Saône.

CHAPELLE. Ah, eine Landsmännin von uns!

MATTHIEU. Ja, Herr Chapelle, Châlons hat die Ehre, daß[164] wir drei, wie wir hier beisammenstehen, in seinen Mauern geboren wurden.

MADELEINE. Châlons hat keine Mauern.

MATTHIEU. Eine rhetorische Figur! Lerne etwas: ein sogenannter Pleonasmus! Nicht wahr, Herr Chapelle? O ich besuche jede Sitzung der Akademie. Ich verstehe mich auf die Sitzungen der Akademie –

CHAPELLE. Sie scheinen auch Ihren erfreulichen Besuch auf die Länge einer akademischen Sitzung ausdehnen zu wollen.

MATTHIEU. Zur Sache! Sie wissen, Herr Chapelle, daß wir Milchvettern sind; die Amme Ihres Milchbruders war die Milchschwester meiner Tante. In Châlons beide geboren und auferzogen, gingen Sie zur Würze des Ausdrucks und dem Salz des Witzes über: ich handelte mit Salz und Gewürzen mehr in der natürlichen Bedeutung des Wortes. Sie waren so gütig, meinem Geschäft Ihre Kundschaft und Ihr schmeichelhaftes Wohlwollen zu erhalten; ich pflegte dagegen bei öffentlichen Sitzungen den Applaus, welchen Ihre Reden hervorbringen sollten –

CHAPELLE. Sie sind sehr weitläufig, Herr Matthieu.

MATTHIEU. Meine Schwäche, ich klatsche gern. Das liegt in unserm Geschäft. Herr Chapelle, ich benutzte kürzlich einen Teil meiner Revenuen zu einer Erholungsgreise nach der Stätte unserer Geburt. Châlons hat sich sehr verändert! Der Hafen hat wegen tückischer Überschwemmungen der Saône bedeutend erweitert werden müssen, die Linden auf der Promenade sind teilweise ausgegangen, dafür hat man jetzt eine Allee mit Pappeln – wissen Sie an der Ecke, wo die Saône –

CHAPELLE. Ich beschwöre Sie – keine Reisebilder!

MATTHIEU. Nein, nur Fakta! Madeleine Béjart ist eine arme Waise. Eine Verwandte von mir hatte sich ihrer Erziehung angenommen, ohne die Mittel zu besitzen, nach ihrem Tode etwas für sie tun zu können. Sie starb –

CHAPELLE ärgerlich. Wer?

MATTHIEU. Die Verwandte.

CHAPELLE. Von wem? Mein liebes Kind, könnten Sie nicht die Rolle des Herrn Matthieu übernehmen?

MATTHIEU. Rolle, Herr Chapelle! Rolle! Sie sind auf dem rechten Wege. Ja, Rolle! Madeleine wurde meine Mündel. Ich entdeckte in dem lieben Kinde ein merkwürdiges Talent – ein Talent –

CHAPELLE. Wozu?

MATTHIEU. Sie besitzt eine Stimme, ein Organ –

CHAPELLE. Habe keine Beziehung zur Oper – ich bedaure,[165] Herr Matthieu – mein Frühstück – meine Frau – mein Hausfreund –

MATTHIEU. Herr Chapelle, Sie mißverstehen mich! Wir gehören zu den Anbetern des Schauspiels, wir versäumen keine Vorstellung des bewunderungswürdigen Molière, keine! Und da meine kleine Schutzbefohlene soviel Talent für die Deklamation zeigte, so hab' ich sie mit reinem Gewissen – für die Bühne bestimmt.

CHAPELLE. Viel Glück! Viel Glück! Gehen Sie nur zu Ihrem bewunderungswürdigen Herrn Molière. Was wollen Sie von mir?

MATTHIEU. Herr Chapelle, Sie sind gewissermaßen noch mehr als Molière, Sie sind Akademiker! Sie gehören einem Institute an, das die Geheimnisse der Sprache studiert hat. Chapelle, wenn Sie mich, Ihren Landsmann und Milchvetter, wenn Sie dies kleine Wesen würdigen wollten, in Ihrem Nebukadnezar ihr eine Rolle –

CHAPELLE. Lassen Sie mich mit meinem Nebukadnezar in Ruhe!

MATTHIEU. Engagiert ist sie bereits bei der Truppe des Königs, aber Sie wissen, eine Kunstnovize bedarf Protektion, bedarf das Fürwort der Dichter selbst! Ich hörte von einem Meisterstück, das von Ihnen gegeben werden soll –

CHAPELLE. Engagiert? Bei Molière? So lassen Sie sich von Herrn Molière Rollen geben –

MATTHIEU. Sie empfing bereits eine zur Probe, Herr Chapelle, aber ich sagte zu Madeleine: Wir gehen damit zu dem großen Chapelle, er wird dir nicht nur eine Rolle von sich zuerteilen, sondern dir auch die Molièresche einstudieren, er wird dir die Schönheiten dieser Rolle auseinandersetzen –

CHAPELLE. Ich soll eine Molièresche Rolle einstudieren?

MATTHIEU. Erst eine Rolle, eine einzige, die Arme! Freilich in einem neuen Stück von Molière.

CHAPELLE. Und schon wieder ein neues Stück von Molière? Haha! Gewiß einmal ein ernstes Drama –? Nicht umsonst fürchtet er die Konkurrenz mit höhern, akademischen Dramen! Nicht wahr?

MATTHIEU. Nein, Herr Chapelle – ein sehr lustiges. Madeleine, das schüchterne Kind, wohnte schon der Leseprobe bei – was behandelt es?

MADELEINE schüchtern. Einen – Scheinheiligen.


Chapelle horcht auf.
[166]

MADELEINE. Einen Menschen, der äußerlich fromm und innerlich ein Fuchs ist –

CHAPELLE. Was?

MADELEINE. Einen Schleicher, der sich in die Familien drängt, immer mit den Augen blinzelt, überall nur Sünde wittert und bei Licht besehen ein rechter Heuchler ist.

CHAPELLE. Das ist – das hat –?

MATTHIEU. Sprich dich doch deutlicher aus!

MADELEINE. Eine allerliebste Intrige – pikante Charaktere – das Ganze ist ein Spiegel unserer Zeit – man glaubt die Heuchler mit Händen greifen zu können.

CHAPELLE stürzt in den Sessel. Ha!

MATTHIEU. Was ist Ihnen?

CHAPELLE. Ich sterbe!

MATTHIEU. Ich begreife nicht –

CHAPELLE. Mein Stoff!

MATTHIEU. Sie erschrecken uns –

CHAPELLE. Man hat mir meinen Stoff gestohlen! Herr, wie heißt das Stück?

MATTHIEU. Madeleine, wie heißt das Stück?

MADELEINE. Meine Rolle heißt Dorine.

CHAPELLE. Wie heißt das Stück?

MATTHIEU. Die Arme hat als Kunstnovize bei der Probe gezittert und immer nur an ihr Stichwort gedacht –

CHAPELLE packt Matthieu an die Brust. Der Titel!

MATTHIEU. Bester Herr Milchvetter, wenn Ihnen an dem Titel soviel gelegen ist – die Rolle hat sie schon im Kopfe – aber der Titel – Hm! Hm! Ich nehme einen Fiaker – in fünf Minuten wissen wir den Titel. Herr Chapelle, erholen Sie sich – prüfen Sie das Mädchen – nur eine Szene! Fangen Sie an! Akt 1, Szene 1 – Bringen Sie ihr das Pantomimische bei! In fünf Minuten bin ich zurück!


Ab.


Quelle:
Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Band 2, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1912], S. 164-167.
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