Fünfter Auftritt


[167] Chapelle. Madeleine.


CHAPELLE. O, so soll denn dieser Tag mein Ende sein! Sehen Sie nun, mein Kind, wie gefährlich diese Laufbahn ist, die theatralische! Ich erfand mir mit den Anstrengungen des äußersten Nachdenkens einen Stoff! Wissen Sie, was für die Bühne ein Stoff ist?

MADELEINE. Ich denke durch meine Garderobe stets zum Gelingen des Ganzen beizutragen.[167]

CHAPELLE. Stoff! Stoff! Sie verstehen mich falsch!

MADELEINE. Ich glaube es wohl, Herr Chapelle – ach! und ich weiß es nicht, ob mir an der Wiege gesungen wurde, daß ich Schauspielerin werden sollte; aber Herr Matthieu hat es nun einmal beschlossen. Aufrichtig gesagt, vorläufig gefallen mir auch die Dinge ganz gut. Seit vier Wochen, daß ich in Paris bin, führt mich Herr Matthieu jeden Abend ins Theater. Zwar ist seine Art sich zu benehmen sehr auffallend: er applaudiert in einem fort –

CHAPELLE. Molièren?

MADELEINE. Ihm am meisten, aber auch andern und allen Damen; ich fürchte mich schon, daß er mein erstes Debüt durch seine allzu wohlwollenden Hände zerstören wird. Man hat mich vor nichts so sehr als vor dem sogenannten Familienapplause gewarnt.

CHAPELLE. Mein liebes Kind, Beifall ist Beifall. Der Applaus ist das einzige Wesen der Gesellschaft, auf dessen Ursprung man heutiges Tages nicht mehr sieht. Applaus ist immer willkommen, in jedem Range, adelig oder bürgerlich, ob er nun in aufsteigender Linie Zeigt aufs Parterre. von unten nach oben, oder Auf die Galerie. in herabsteigender Linie von oben nach unten kommt.

MADELEINE. Herr Chapelle, dann bitt' ich, sagen Sie mir, ob ich die Regeln der Kunst erfülle, wenn ich in dem neuen Stück von Molière etwa so spiele –

CHAPELLE. Welche Rolle stellen Sie in – meinem Stück denn vor?

MADELEINE. Ein durchtriebenes allerliebstes Kammermädchen, das alle Fäden der Intrige in der Hand hält und zur Entlarvung des Scheinheiligen am allermeisten beiträgt.

CHAPELLE. Ganz meine Idee!

MADELEINE. Der Scheinheilige kommt. Er kommt erst im dritten Akt.

CHAPELLE. Um die Spannung zu steigern. Ganz meine Idee!

MADELEINE. Beim Eintreten ruft er seinem Bedienten zu, er solle sagen, er wäre ins Gefangenhaus gegangen und teile dort den Armen sein bißchen Armut aus.

CHAPELLE. In Versen! Ganz meine Idee!

MADELEINE. Jetzt erblickt mich der Scheinheilige. Erst fährt er mich an, dann aber weidet er sich an meiner Schönheit – an meiner Schönheit – die Schönheit, Herr Chapelle, steht in meiner Rolle vorgeschrieben –

CHAPELLE. Ich höre den rasenden Beifall des Publikums.

MADELEINE. Was will Sie? fragt der Scheinheilige. Ich[168] stottre, und meine Verwirrung benutzend zieht er sein Taschentuch –

CHAPELLE. Sein Taschentuch? Darüber – war ich noch zweifelhaft –

MADELEINE. Sein Taschentuch und wirft mir dies Taschentuch auf meine Schultern – etwa so! Bitte, nehmen Sie Ihr Taschentuch!

CHAPELLE zieht sein Taschentuch. Ich trug mich seit Monaten mit einer allerdings ähnlichen Szene!

MADELEINE. Er sagt, nämlich der Scheinheilige:


Mein Gott im Himmel, weh, das ist nicht zu ertragen!

Ach, nehme Sie, bevor Sie redet, dieses Tuch!


Darauf sage ich:

Wozu?

Darauf er:

Bedecke Sie damit, o Sinnestrug,

Den sünd'gen Busen sich; denn leicht ertranken.

Macht dies die Seele sonst durch sündige Gedanken.


Nun wirft er mir, halb von mir abgestoßen, halb zu mir hingezogen, das Tuch zu – werfen Sie doch! – und macht dabei eine Miene, einen Ausdruck, eine Physiognomie – Bravo! Bravo! Ganz so hat mir's Molière vorgemacht –

CHAPELLE. Ich – Ich spiele – in einem Stücke von Molière? In einem Stück, dessen Ideen mir – gehören –?

GERMAIN sieht durch die Türe. Herr Chapelle, Ihr Consommé wird kalt. Horcht auf. Ha! Was macht Herr Lefêvre?


Es fallen im Nebenzimmer Teller entzwei.


CHAPELLE. Schurke! Opfert man denn überall mein Eigentum? Meine Frau – meine Dramen – meine Teller, wollt' ich sagen – Diebe! Räuber!


Läuft nach innen.


Quelle:
Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Band 2, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1912], S. 167-169.
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