1.

[3] Von einer Handwerkerfamilie, die nach einem dunkeln Hofe hinaus arbeitete, hatte Benno drei auf einen kleinen, von einem belebten Brunnen geschmückten Winkelplatz hinausgehende Vorderzimmer gemiethet.

Eines davon, einfenstrig, war sein Schlaf-, die andern, zweifenstrig, waren Wohn-, Arbeits-, Empfangszimmer, je nachdem.

In einem derselben stand ein Repositorium mit einer Anzahl von Schubfächern, in denen sich theils die Acten der ihm von Dominicus Nück zugewiesenen Processe aufhäuften, theils schon manches Fascikelchen lag der auch ihm schon aufblühenden, freilich noch an den schützenden Namen und die Unterschrift seines Principals gebundenen ersten Frühlingskeime einer eigenen Praxis … Im unbestreitbaren Wohnzimmer ließ Benno schon zuweilen in den Früh- und Nachmittagsstunden manche Partei warten, die über ein paar empfangene Ohrfeigen oder ein paar unbezahlt gebliebene Beinkleider seinen Rath begehrte und von ihm nach Abfertigung eines »pressantern« Clienten mit staatsmännisch bedeutsamer Miene gebeten wurde,[3] sich auf einem Sopha von ehrwürdig altem schwarzen »geflammten« Merino (zu diesen Flammen war hier und da schon der entschiedenere Brand einer etwas vergeßlich gerauchten Cigarre gekommen) oder einem wirklich prachtvoll glänzenden rothsaffianen Sessel auszuruhen, welchen Phönix seines ihm theilweise persönlich angehörenden Mobiliars ihm Thiebold de Jonge verehrt hatte. Oder man könnte, da dieser Sessel klein, zierlich, auf einer Rolle gehend und wie luftig war, ihn unter dem bescheidenen Hausrath, der altmodischen Kommode von Nußbaumholz, dem Schreibsecretär von Birken-, den lackirten Stühlen von Tannenholz, auch einen prächtigen Kolibri nennen in einem solchen gewöhnlichen Drahtbauer, wie der war, in dem Benno bereits eine Art Familie zu ernähren hatte, zwei Canarienvögel seiner Wirthsleute, die er von ihnen in Pflege genommen zur Erzielung einer Hecke, bis sich freilich herausstellte, daß die frisch aus dem Nest genommenen kleinen Thierchen »Sieen« waren, was Benno leider erst entdeckte, als er sich an beide Geschwister so gewöhnt hatte, daß er sie auch ohne Gesang und Hecke vor seiner Wirthin rettete, die von einem pflichtschuldigen Tode derselben durch irgendeine nachbarliche Katze sprach. Jetzt prangte dieser Lehnsessel vollends, seitdem Benno bei seiner Zurückkunft von Kocher am Fall wieder zu seinem höchsten Verdrusse eine neue Gabe seines manchmal unerträglich aufmerksamen, Freundes vorfand, einen in sämmtlichen drei Zimmern gelegten bunten prachtvollen Teppich für den Winter … Gegen diese Zuvorkommenheiten des jungen Halb-Millionärs ließ sich gar nicht angehen. Thiebold zerbrach, statt des Gottes der Zeit, lieber zufällig selbst einen[4] Stuhl und erklärte dann mit gemachtem Schreck, seinem Freunde oder den Wirthsleuten einen Ersatz dafür schuldig zu sein, als daß er sich die Gelegenheit hätte nehmen lassen, Benno statt nur durch Zank auch einmal auf diese Art seine Freundschaft zu beweisen. Den alten in Ruhestand versetzten Lehnsessel, der mit dem Sopha, in Rücksicht auf geflammtes Muster und Ehrwürdigkeit des Ueberzugs, harmonirte, hatte er schon vor längerer Zeit einmal, wie er entschuldigend sagte, in Gedanken mit dem Federmesser, das er wie zufällig von dem Tische Benno's genommen, in der Armlehne zerschnitten und den neuen Teppich motivirte er auf Benno's Vorwürfe, die ihn deshalb heute in der Frühe gleich beim Eintreten und in medias res gehend empfingen, mit folgenden Worten:

Bester Freund, das bitt' ich mir denn doch aus! Seitdem ich einmal das Unglück gehabt habe, beinahe in den St.-Moritz zu fallen, bin ich gegen alles Kalte von einer merkwürdigen Empfindlichkeit! Im Winter hier bei Ihnen zu sitzen und über den offenherzigen Dielen Ihrer Baracke mich zu erkälten – das werden Sie nicht verlangen können!

Und bei alledem, erwiderte Benno, sieht es nun erst recht bei mir aus wie bei Bagage, die gern möchte und kann nicht! Der Teppich und der Sessel führen jetzt das große Wort und haben die Oberhand! Jedermann wird jetzt glauben, daß ich statt heraufzukommen ein Heruntergekommener bin!

Himmel! unterbrach Thiebold, zog seine Cigarrentasche und betrachtete ein auf dem Tische neben dem[5] Terminkalender liegendes kleines Octavbüchelchen, worüber Benno zierlichst »Verläge« geschrieben hatte; Asselyn, ist das Ihr Einnahmebuch? Sie haben ja einen Bogen mehr hinten angeheftet? Sind das die Einnahmen von dem großen Proceß der Dorste-Camphausen, in dem Sie auch, hör' ich, zu thun bekommen werden?

Und schon las er, eine Seite aufschlagend:

»7 Groschen 6 Pfennige Concept – 2 Groschen 6 Pfennige Copiatur –«

Wahrscheinlich, erwiderte Benno, ihm trotz des Spottes das Büchelchen sanft aus der Hand nehmend, wahrscheinlich haben Sie in Mainz einen ganzen schwäbischen Urwald in Empfang genommen, daß Sie heute schon frühmorgens so übermüthig Geldseele sind! Kommen Sie jetzt erst mit Ihrem Holzfloß angeschwommen? Oder hatten Sie die Nacht Geschäfte mit einer vaterländischen Tabacksfabrik? Ich versichere Sie, Ihre Atmosphäre versetzt die Phantasie keineswegs in die Havanna!

Merkwürdig, gab Thiebold zu und hatte bereits die Büchse mit gemahlenem Kaffee aus Benno's Schreibsecretär von verblaßtem Birkenmaser genommen, indem er leicht und leise den Besitzer, der dabei eine vorwitzige Untersuchung seiner Kasse befürchtete, bei Seite drängte, ihm auch die auf dem Secretär stehende Maschine aus und unter der Hand wegescamotirte und das heute, der noch nicht »bei Wege« befindlichen Wirthin wegen eigne Sieden des Wassers zum Kaffee sich allein aneignete; merkwürdig, wie geistesabwesend ich gestern gewesen sein muß! Die ganze Nacht hab' ich von Piter's vermaledeiten[6] Cigarren geraucht! Der Mensch will jetzt in der Stadt den Ton angeben!

So! So! sagte Benno. Waren Sie also wieder auf Ihrer amerikanischen Akademie! Dann nehmen Sie den Kaffee allerdings, bitt' ich, ein Loth stärker! Welche große That ist denn diese Nacht an der wahrscheinlich für permanent erklärten Bowle beschlossen worden?

Die Caricatur auf die Gebrüder Fuld und die Drusenheimer Sonntagspartie jetzt so ohne weiteres zu nennen, nahm Thiebold de Jonge, der, wie es schien, im Crescendo begriffenen Satire seines Freundes gegenüber Anstand. Gab es doch auch zunächst Dinge, die ohne zu spaßen mit bitterm Ernste verdienten abgemacht zu werden! Die Versöhnungen machte zwar Benno immer nur so scheinbar und ohne Gefühl und »links um die Ecke herum«, wie Thiebold sagte, der, »wenn er einmal gefühlvoll wurde« – er wurde dies viel öfter als er zugab – dann auch gern von allen Kirchthürmen mit Zinken und Posaunen wie zur Weihnacht dazu geblasen und mit allen Glocken geläutet haben wollte. Auch heute, war es der entbehrte Schlaf oder welche sonstige »lyrische« Stimmung, auch heute hätte er gern die Versöhnung etwas feierlicher gewünscht …

Er ließ deshalb zunächst Benno, der sich vollständiger ankleidete, allein reden, was sonst in seiner Gegenwart selten geschah.

Ohne Zweifel, ließ sich Benno von der Schlafkammer aus vernehmen, ohne Zweifel haben Sie Ihren Freunden Bericht erstattet von unserm Manöver! Von dem Sturm auf die große Lehmschanze, wo der alte Pritzelwitz[7] leibhaftig die Franzosen vor sich sah, bis es von uns allen hieß: »Und Roß und Reiter sah man niemals wieder!«

Thiebold schwieg … Er braute Kaffee und Versöhnung.

Ein Glück, fuhr Benno fort, daß drüben nicht wirkliche Augereaus oder Dürocs commandirten! General Klebern hatten wir diesmal auf unserer Seite!

Thiebold schwieg, selbst in Erinnerung auf ein ganzes Bataillon, das im Lehm stecken geblieben war.

Meine Stiefeln gingen am dritten Tage vollständig aus der Naht! fuhr Benno fort; und die Reserve, die Hedemann in meinem Mantel trug, paßte nicht, denn von dem siebenmaligen Sturm auf die Lehmschanze hatt' ich Elefantenfüße bekommen, daß mir die Stiefel zu eng wurden! Und nun reisen Sie mir mit Ihrem Stiefelmagazin ab! Ich glaube, Sie hatten in Rücksicht auf das Trottoir in Kocher und Ihre Hühneraugen sechs Paar mit! So schnell waren Sie über alle Berge, daß man glauben konnte, Sie hätten sie alle auf einmal angezogen! Haben Sie denn Ihren Freunden heute Nacht auch erzählt, wie Sie mich auf dem Weinberg beim Obersten von Hülleshoven abschilderten?

Nun verzog Thiebold ein wenig die Miene … er merkte eine Geneigtheit des Freundes, auf seine »lyrische« Stimmung einzugehen.

Unsereins ist freilich zu unbedeutend, fuhr Benno, immer von der Kammer aus, fort, Gegenstand so hochmögender Discussionen zu werden. Was wurde denn erörtert? Das nächste Fastnachtsprogramm? Ich wäre für Mercur's Triumphzug! Alle neun Musen müßten hinter dem[8] Handelsgott hergehen und ihm die schmeichelhaftesten Opfer bringen! In der Mitte ein großer Wagen ganz mit Rosinen gefüllt und Alexander von Humboldt davor als ein ganz gewöhnlicher Kutscher in eurer Livree! Dann eine Heringstonne, Schelling und Hegel dahinter mit Löschpapier in der Hand, Fichte im grauen Rock mit der Ladenschürze! Dann eure heiligen drei Könige hier als Importeurs von Thee, Taback und Indigo – Melchior, der schwarze, noch mit einem Zuckerhut in der Hand – oder sind Sie für Runkelrübe?

Ohne im mindesten sich reizen zu lassen von Benno's »lateinischem Stolze«, unterbrach Thiebold nur mit den einfachen und höchst gelassen geseufzten Worten:

Nicht einmal kleinen Zucker im Vorrath!

Damit holte er tief wehmuthsvoll einen Stiefelknecht aus dem Zimmer, in dem Benno's jugendlich knospende Praxis in dem Repositorium lag und wo er des Abends nach Hause kommend immer zuerst musterte, was etwa neu eingetroffen von seinem Schreiber in die kleine Baumschule künftiger fruchttragender Proceß-Obstgärten gelegt war, während er sich dabei die Stiefeln auszog.

Thiebold zerklopfte ein großes Stück Zucker, das er gleichfalls aus Benno's offenem Schreibsecretär, Kassa und Speisekammer zu gleicher Zeit enthaltend, genommen hatte …

Nun, erzählen Sie doch von Ihrer Reise! sagte Benno und setzte, dies jedoch etwas kleinlauter, hinzu:

Waren Sie denn auch in Lindenwerth?

Thiebold klopfte am Fenstersims Zucker; Benno trat im Hauskleide an den Kaffeetisch … Sein geschornes[9] Militär-Haar war schon wieder voller gewachsen und setzte auch seine gewohnte natürliche Kräuselung an. Sein Teint, immer etwas bleich, war heute von einer milden Röthe angehaucht. Sein Hals lag offen, wie die Brust, die die ganze bräunliche Schönheit hatte, die von den Alten am Manne so gerühmt wird. Beide Freunde hätten sich ganz wohl zu einem Modell der Dioskuren stellen können; vorausgesetzt daß der Künstler sowol eine kleine Neigung Thiebold's, mit seinen lichten Milchblutformen und dem sozusagen blonden Habitus seiner ganzen Constitution etwas ins Allzuvolle überzugehen, und bei Benno im Gegentheil eine gewisse brennende und an die mit phrygischer Mütze geschmückten Gestalten neapolitanischer Fischer erinnernde Magerkeit weise gemildert hätte.

Auf die Frage: Waren Sie denn auch in Lindenwerth? war die Thiebold'sche Gegenfrage: Gestern ist ja wol Ihr Vetter angekommen? gewissermaßen Blödsinn und doch lag eine Antwort darin.

Beide nämlich, Benno und Thiebold, waren von dem Zwiespalt in Armgart's Familie unterrichtet; beide wußten, daß Armgart's Lehrerin, Angelika Müller, an den Dechanten etwas Entscheidendes in dieser Angelegenheit geschrieben hatte; doch kannten sie den nähern Inhalt der Erklärungen Armgart's nicht und mochten den Obersten am wenigsten drängen, ihnen mitzutheilen, was Bonaventura in der Morgenstunde, wo sie noch nicht die Lehmschanze erstürmt hatten, doch schon früh genug aus waren, um einen forcirten Marsch zu unternehmen, bei ihm gewollt hatte. In Armgart's Angelegenheiten war etwas[10] vorgefallen, das hatten sie, als sie Abends spät todmüde zurückkamen, schon gemerkt; aber selbst Benno wußte von der Wanderung vom Hüneneck an bis zur Maximinuskapelle aus Armgart's eigenem Munde über ihre heimlichen Gesinnungen gegen den Vater nichts weiter, als daß sie vor Sehnsucht brannte, ihm ein paar selbstgefertigte Tragbänder zu schenken … Nun ließ sich fast annehmen, daß Bonaventura auch mit Aufträgen des Obersten und Dechanten für Lindenwerth erschienen war und darin lag denn doch eine gewisse Logik der Thiebold'schen Gegenfrage.

Was soll ihm denn hier werden? fragte dann Thiebold und klopfte Zucker in Hoffnung, von Armgart zu hören.

Er ist auf heute früh zum Kirchenfürsten bestellt … sagte Benno und hob den Deckel der Maschine auf, die stark genug war, Wasser zum Sieden zu bringen. Man vermuthet eine Berufung an den Dom …

Sieh! Sieh! … Blieben Sie denn noch in Kocher lange nach mir?

Ein paar Stunden! steuerte Benno auf die feierlichere Beilegung der Differenz zu. Ich hatte Eile zu meinen Arbeiten zurück! Und Nück schrieb mir Aufträge für die Reise noch bei einigen Gutsbesitzern und Bauern … ich kann alle Stunden gewärtig sein, wieder auf ein paar Commissionen hinaus zu müssen …

Ich hoffe, daß Sie Ihren Vetter bei uns einführen! ließ Thiebold fallen. Wann wollen Sie mit ihm bei uns speisen?

Mein Vetter ist höchst einfach und liebt die Gesellschaft nicht … Auch will er schnell nach St.-Wolfgang zurück, obgleich ich höre, daß der Kirchenfürst unpäßlich ist[11] und ihn vielleicht gar noch nicht einmal empfangen kann … Die reizbare Eminenz ist, wie mir Enckefuß erzählte, in einer gewaltigen Aufregung, die ihn um so mehr erschüttern mag, als er sie äußerlich nicht verräth.

Nun war der verhängnißvolle Name Enckefuß gefallen … Thiebold wich aber noch aus und sagte:

Daß ich von der Dechanei so kurzen Abschied nahm! … Ich bereu' es fast … Hat sich das Verhältniß mit der Dame nicht ausgeglichen?

Wissen Sie denn nicht? fiel Benno ein.

Was soll ich wissen?

Während ich noch mit Frau von Gülpen zu ihren Gunsten parlamentirte, war sie ja abgereist … Aber erfuhren Sie denn nicht, im Kattendyk'schen Hause –?

Was?

Mit Ihrem Zauberweibe haben Sie Ihre schlechten Cigarren unter Einem Dache geraucht!

Ich weiß kein Wort …

»Zauberweib« war ein Ausdruck gewesen in Thiebold's großer Apostrophe an Benno's Herzlosigkeit. Dies Wort wirkte jetzt auf ihn wie die beschämende Erinnerung an einen Rausch …

Er wollte etwas erwidern, verschluckte es jedoch wegen nicht ausreichender Stimmmittel …

Himmel! fuhr Benno fort. Wenn diese scharfen Augen und Ohren das Négligé Ihres tapfern Herzens und besonders Ihrer Zunge belauscht hätten!

Welche denn?

Diese neue Bewohnerin des Kattendyk'schen Hauses! Lucinde Schwarz![12]

Gott sei Dank! Ich schwieg den ganzen Abend –

Schnuphase vermittelte das Engagement! Auf die Folgen bin ich begierig!

Deshalb war Piter so geheimnißvoll – Noch im Bahnhofe –

Wo –?

Wir brachten Pitern vor einer Stunde auf den Bahnhof! Er ist nach Witoborn, um eine Liegenschaft anzukaufen …

Aus der Enckefuß'schen Schuldenmasse? Sieh! Sieh! Das nenn' ich rasch bei der Hand!

Wie so, Enckefuß'sche –? Ich habe am Ende Pitern noch das Geleit gegeben, ein Angebot auf die Grundstücke zu machen, die der Oberst und Hedemann kaufen wollten?

Beruhigen Sie sich! … Indessen –

Eben wollte Benno seinem Freunde auseinandersetzen, daß sich der Assessor von Enckefuß auf seine, Benno's, Verwendung an den Procurator Nück gewandt hätte, ihm in der Befreiung seines überschuldeten Vaters von den bittersten Verlegenheiten behülflich zu sein … Eben gab er eine Schilderung der Verhältnisse des Rittmeisters, die ganz den Erinnerungen, die von diesem Lucinde haben mußte, entsprach … Eben mußte er zugleich sein Erstaunen ausdrücken, daß, wenn Piter Kattendyk wirklich die Enckefuß'sche Masse erstehen wollte, dies nur im Auftrage seines Schwagers geschehen sein könnte, jedoch in einer Eile, die ihn wahrhaft überrasche – als Thiebold vom Fenster aus eine ungewöhnliche Aufregung auf dem kleinen Platze bemerkte.[13]

Was gibt es denn da? unterbrach Thiebold in plötzlichem Ausruf Benno's und seine eigene Besorgniß, die er für Hedemann's Mühle aussprechen wollte, die einen Theil der überschuldeten Enckefuß'schen Besitzthümer bildete …

Auch Benno hatte schon lange ein ungewohntes Treppenlaufen in seinem kleinen Hause bemerkt, war auch ans andere Fenster getreten und bestätigte schon, daß an einem ganz in einen Winkel des kleinen Platzes gedrückten Hause ein starker Zusammenlauf von Menschen stattfand, ja eben bestieg sogar ein Polizeicommissar eine nach der Straße offen liegende Treppe des von den Menschen aufgeregt umstandenen Hauses … Die Menschen drängten nach … Der Commissar wandte sich und verbot jedem, nur auch einen Schritt weiter zu folgen … Damit schloß er die Treppenthür hinter sich zu und verschwand.

Thiebold hatte in seiner raschen Art schon zum Fenster hinausgesprochen, was denn da wäre?

Es ist die Nacht einer ermordet worden! hieß es.

Wie? Wer? riefen beide Freunde zugleich.

Eine Frau!

Die sanguinische Natur Thiebold's hatte schon den Hut in der Hand und stürzte die Stiege hinunter, um wenn nicht für sich, doch für seinen Freund Benno eine für so nahe Nachbarschaft beunruhigende Thatsache festzustellen.

Indem kamen bereits die Wirthsleute Benno's und berichteten ihm, daß in dem Hause drüben eine alte stadtbekannte geizige und nach allgemeiner Vermuthung reiche Frau diese Nacht wäre ermordet worden … Die Milchfrau hätte die Thür ihrer Wohnung offen gefunden …[14] wäre hineingegangen und hätte die alte Dame mit einer Schlinge um den Hals erwürgt gefunden, dicht am Küchenherde.

Eine Frau Hauptmännin – hieß es; der Name ging Benno verloren, zumal in der Eile, mit der man auf jeden aussein mußte, der neue Mittheilungen brachte.

Benno, inzwischen vollends angekleidet, wollte gleichfalls seinen Hut holen. Ohnehin bekümmerte ihn, da ihn gestern Nachmittag ausschließlich Bonaventura in Anspruch genommen und er Nück nicht gesprochen hatte, die plötzliche Ahnung einer Gefahr, in die sowol Hedemann's und des Obersten Ankauf als selbst die momentane Schuldenbefreiung des Landraths und Rittmeisters von Enckefuß gerieth. Der »schöne Enckefuß« besaß daheim, soweit Benno wußte, keinen einzigen Beistand, keine einzige Hülfsquelle mehr. Die Gläubiger konnten sein Eigenthum, ein größeres Anwesen vor und in Witoborn, in Anspruch nehmen und schon hatte Hedemann davon eine Mühle und deren Gerechtsame für sich erstehen wollen von einem der Witoborner Juden, der darauf eine Hypothek hatte, die dem ganzen Werthe des Grundstücks fast gleichkam … Kaufte Hedemann sie von dem Gläubiger, so erstand er sie zu geringerem Preise. Trat aber ein Gesammtkäufer ein, der die Schuldner befriedigte und – wie der Assessor für seinen Vater hoffte – sich mit diesem, der ohne Besitzthum nicht mehr Landrath sein konnte, arrangirte, so fielen vielleicht Hedemann's Hoffnungen nicht nur auf einen wohlfeilen Preis, sondern vielleicht überhaupt die für den Ankauf und eine neue Begründung seiner Existenz vorhandene Möglichkeit[15] dieser Erwerbung fort. Ließ Nück, ohne seinem Hülfsarbeiter davon etwas zu sagen, diesen Ankauf in solcher Eile und hinter seinem Rücken vollziehen – noch gestern früh war kaum die allgemeine Bereitwilligkeit des oft gar seltsamen Procurators gewonnen gewesen –, so fiel zwar die Hoffnung gerade nicht fort, daß Hedemann seine Mühle bekam, doch jedenfalls wurde der Preis größer, als durch den Ankauf von jenem Einzelnen, der seine Hypotheken retten wollte. Und noch war seiner schnellen Combination sogleich etwas Anderes räthselhaft gewesen. Nück's Neigung, dem bedrängten Enckefuß zu helfen, schien ihm keine aufrichtige. Er hatte es sogar anfangs ganz unbedingt abgelehnt. Und sogar von Hedemann und dem Obersten hatte er die Worte fallen lassen: Bester, was ist denn nur das? Ich höre ja, diese beiden Leute sind aus Amerika zurückgekommen und noch nicht ein einziges mal hat einer von ihnen hier oder in Kocher am Fall oder in Witoborn einer Messe beigewohnt? … Benno wollte aufs schleunigste zu Nück oder Enckefuß.

Ein Glück aber zunächst für den Kaffee, daß eben auch Thiebold wieder zurückkam …

Rasch zuspringend auf das übersiedende Wasser und ohne die Bereitung des Frühstücks aus dem Auge zu verlieren, erzählte er:

Ja das ist schön! Ein richtiger completer Mord! Ich bin von der Wache hinaufgelassen worden und habe mir die Geschichte angesehen! Hinter den Vorhängen im zweiten Stock drüben … Schauerlich! … Braun und blau … In der Küche dicht am Feuerherd liegt eine alte Person … mit[16] 'nem gräßlich entstellten Angesicht … und gerade als wollte sie in Todesangst hinunterkriechen unter den Verschlag, wo das Holz liegt … Der Mörder faßte sie dabei von hinten … erwürgt ist sie … darüber kann kein Zweifel sein … alle Schränke und Kommoden in den Vorzimmern sind erbrochen … ringsum liegen Papiere zerstreut und durchwühlt … und wie bei einer completten Hexe sieht's aus … ausgestopfte fürchterliche Vögel und Fußdecken von wilden Thierfellen und lange indianische Lanzen mit Pfeilspitzen und Köchern … Die Milchfrau klingelte und klopfte heute früh, findet die Thür offen, geht hinein und sieht die alte Person auf dem Pflaster der Küche liegen, wie gesagt, gerade am Feuerherd.

Keine Vermuthung auf den Mörder? rief ein Chor von Hausbewohnern, der sich die Resultate der Thiebold'schen Erkundigungen nicht entgehen lassen wollte und das Vorrecht der Wirthsleute, einzutreten, durch Nachdrängen mitbenutzt hatte.

Ich hörte nichts! … sagte Thiebold.

War sie denn ohne Bedienung –? stotterte ein alter zum Tod erblaßter Garçon aus der Dachstube, der sich im Nachtkamisol sein Frühstück eben selbst geholt und die Milchkanne zitternd in der Hand hielt.

Ihr letztes Mädchen, erzählte man, war schon vor Wochen abgezogen – sie wartete auf ein neues – die Person war berüchtigt, daß kein Dienstbote bei ihr länger als vier Wochen aushielt … Erst in neuerer Zeit blieben manche etwas länger … Das waren Mädchen, die aus den Klöstern oder von Vereinen geschickt wurden …

Da bei alledem dennoch die Frau Wirthin frisches[17] Weißbrot, Milch und die im Keller aufbewahrte Butter brachte, so kam der Name der Hauptmännin von Buschbeck noch einmal an Benno's Ohr und jetzt erst war es ihm, als hätte er diesen doch kürzlich von jemand nennen hören …

Erst, wie die Wirthsfrau erzählte, die Frau wohnte dort oben schon seit sieben oder acht Jahren, wäre steinalt gewesen, nie mehr ausgegangen und schon von andern Städten wäre sie um ihrer Bosheit willen hierher gekommen … und der, der sie umgebracht hätte, der müßte Bescheid gewußt haben … erst wie das alles allmählich auf Benno einwirkte und ihm plötzlich die Erinnerung kam, daß er einen übel berüchtigten, leider mit seinem Principal, dem Procurator Nück, vertrauten Mann, einen gewissen Jodocus Hammaker, einen verdorbenen Advocaten, Winkelagenten und Makler verdächtiger Geschäfte zuweilen Abends von jener Stiege herabkommen gesehen hatte … erst da fiel ihm ein: Auf jener Fahrt von St.-Wolfgang fragte ja Lucinde Schwarz nach einem solchen Namen und nannte ihn geradezu eine Schwester der Frau von Gülpen!

Benno stand so in Nachsinnen vertieft, daß er Thiebold's Bemerkung, eben käme der Assessor von Enckefuß mit einem Schreiber daher und ginge auf das Haus des Frevels zu und nähme wahrscheinlich das Protokoll auf, überhörte … Die Grauengestalt jenes Hammaker verließ ihn nicht … Und Frau von Gülpen! … Seine Empfindungen für die Freundin seines Adoptivonkels waren die dankbarsten! … Seine frühesten Knabenerinnerungen bewahrten der wunderlichen, an sich respectabeln Frau ein[18] mannichfach verpflichtetes Andenken! … Seine frühesten Lebenseindrücke … welche waren es denn? … Das lächelnde Antlitz einer schönen vornehmen Frau, die einst wie unter Harfenklängen und Engelstimmen und gerade wie selbst bei der grimmigsten Nordlandskälte sich die Kindheit in der geweihten Nacht um der duftenden Aepfel, Nüsse und Wachskerzen willen die sternenhellen, eisigen Lüfte draußen nur vom Lobgesang der Hirten und dem Flügelrauschen himmlischer Heerscharen erfüllt denkt, aus einer glänzenden Kutsche stieg, sich über ihn beugte und ihn küßte … eine weite Reise dann, die sich ihm unter dem Bilde einer endlosen Reihe von Bäumen eingeprägt hatte, solchen, wie sie bei nürnberger Schäfereien krausköpfig von Holz geschnitten sind und ebenso rasch umfallen, wie die langen Schwadronen bleierner Soldaten … das Blitzen dann der Epaulettes des französischen Offiziers Max von Asselyn, der ihn adoptirt hatte … nicht, daß diese Epaulettes noch auf des Adoptivvaters Schultern saßen, sondern er spielte mit ihnen, mit den abgelegten, ausgedienten … dann klangen ihm im Gedächtniß die dumpfen Glocken, die das Begräbniß Maxens von Asselyn bedeuteten; den Sarg hatte er nicht gesehen, nur den vom Kirchhof zurückkehrenden Geistlichen, eine hohe mächtige Figur in weißem Ornat mit goldstarrendem Besatz, den Pfarrer Perl zu Borkenhagen … dann tummelte er sich mit Hedemann auf dem Gehöft der Aeltern desselben, ritt nach Witoborn, Westerkamp und sah im Geiste immer die Leute aus der alten Ludgeri-Kapelle bei Stift Heiligenkreuz kommen mit Gesangbüchern, von denen sich, wie das so ist in unserm wunderlichen[19] Vorrathshause, dem Gedächtnisse, gerade vorzugsweise der blitzende goldene Schnitt eingeprägt hatte … auch die vierspännige Kutsche des Grafen Joseph von Dorste-Camphausen, des letzten seines Stammes, Vaters der Gräfin Paula, sah er oft … dann wurde er in Pensionen gegeben, hierher an den schönen Strom, erst in die Residenz des Kirchenfürsten, dann unter Bonaventura's, des schon etwas Aelteren Aufsicht nach der nahe gelegenen Universität, wo er die Vorbereitungsschulen und dann die Hochschule selbst besuchte – alles das hatte der Dechant möglich gemacht und Frau von Gülpen spielte bei diesen Phantasmagorieen der Erinnerung die freundlichste und mütterlichste Rolle … er wie Bonaventura wurden versorgt von ihr mit allem, was nur zu des Leibes Pflege und Nothdurft gehörte, Ausstattung an Wäsche und wohlwollenden Rathschlägen aus ihrem bekannten reichen Schatz medicinischer und diätetischer Erfahrungen … Zwischen alles das aber hindurch hatte er nie von einer Schwester der Freundin seines Oheims gehört, nie nur den Namen früher nennen hören als zum ersten male durch Lucinden … Und jetzt sollte dieser sich so grauenvoll in Erinnerung bringen? Sollte in eine Verbindung treten mit dem stillen Frieden der Dechanei? Sollte in jene leidenschaftslose, nur der Ruhe und dem Behagen gewidmete Welt die düstersten Schatten werfen?

Die Schonung und die Scheu vor Menschen, denen Benno so dankbar verpflichtet war, hinderte ihn selbst gegen Thiebold sein Erstaunen und seine tieferschütterte Ueberraschung auszusprechen.[20]

Unruhig und bewegt stand er auf und schritt in seinem Zimmer, deren Thüren er öffnete, auf und nieder …

Thiebold nahm, während sie dann von den Leuten frei wurden, die Thür schlossen und frühstückten, seine Bemerkung, daß der Assessor von Enckefuß drüben im Hause der Ermordeten wäre, dann Piter's Reise und die Gefahr des Hedemann'schen Ankaufes wieder auf. Letztere stellte jedoch Benno entschieden in Abrede.

Nur staun' ich, sagte er, wie das seit gestern so rasch gegangen! Schon in Kocher am Fall theilte ich Hedemann und dem Obersten mit, daß ich, wenn etwa Nück der Gesammtgläubiger des Herrn von Enckefuß würde, dafür Sorge tragen wollte, daß Hedemann die Mühle um den Preis bekäme, den er an den auf sie angewiesenen Hypothekengläubiger zahlen wollte. Alle diese Gläubiger lassen mit Freuden ihre Hypotheken mit einem Verluste ab, wenn sie nur überhaupt die Subhastation vermeiden können, bei der sie verlieren; denn auf diese Besitzungen wurde mehr Geld aufgenommen, als sie jetzt Werth haben. Kauft Nück durch seinen Schwager die Hypotheken auf, so wird er der alleinige Gläubiger des Verschuldeten und ich hoffe – indessen wünscht' ich doch zu wissen, ob der Assessor lange drüben verweilt und ob er vielleicht –

Herüber kommt? unterbrach Thiebold, sehr befriedigt von der dann nothwendigerweise eintretenden vollständigen Aussöhnung. Und dieser Aussöhnung schon gewiß sagte er: Es ist einzig, welchen Nachdruck der Oberst und Hedemann auf diese Erwerbung bei Witoborn legen![21]

Beide haben, erklärte Benno und fixirte die Fenster, wo die Ermordung stattgefunden – die Küche selbst lag nach hinten auf eine düstere und einsame Brandmauer hinaus – beide haben den Stolz, da, wo sie zu Hause sind, mit dem gebührenden Nachdruck ihrer ganzen alten Lebensstellung wieder auftreten zu wollen!

Hm! grübelte Thiebold und setzte kleinlaut hinzu: Wie viel anders könnte das alles sein – wenn – Glauben Sie wol, Asselyn, unterbrach er sich, daß ich einmal, ich will nicht sagen jetzt, aber in einem Jahre oder zwei, einen – Korb bekomme, falls ich als Bürgerlicher –

Benno verstand vollkommen, daß Thiebold von einer Werbung um Armgart und den Vortheilen einer Verbindung des Vaters mit seinem Vermögen sprechen wollte.

Bürgerlicher? De Jonge! sagte er scheinbar ironisch, während ihm alle Nerven zuckten und Thiebold's auch nur angedeutete Werbung einen Stich durchs Herz gab.

De – de –? Ach so, Sie meinen – sagte Thiebold verlegen …

De Jonge –! Wer wird Ihnen einen alten niederländischen Adel abstreiten können!

Einen Adel, der viel Mesalliancen durchgemacht hat! Wir handeln jetzt mit Brenn- und Nutzholz, aber kein Baum hat uns je so morsch auf Lager gelegen wie unser Stammbaum!

Das De sagt immer etwas –

Hören Sie 'mal, meine sel'ge Mutter war sogar eine geborne Tor – Tor Möhlen![22]

Zur Mühlen! Sie sehen, wie alles zusammenkommt, um das Wasser auf Ihre Mühle zu treiben!

Aber Joseph Tor Möhlen – Twist und Baumwolle –

Haben Sie denn nicht gehört, daß der Oberst von Hülleshoven nicht übel Lust hat, mit Hedemann die Mühle ganz einfach in eine Papierfabrik zu verwandeln?

Nach dem Dechanten, als die Rede davon war, ein bloßer Scherz …

Scherz, den der Oberst ernst zu nehmen der Mann ist! Oder haben Sie nicht bemerkt, daß in diesem Sonderling ein Gelüsten lebt, dem ganzen Geiste seiner Provinz gleichsam einen Fehdehandschuh hinzuwerfen?

St! unterbrach Thiebold, der bei alledem so in Gedanken verloren war, daß er seine Absicht ganz vergessen hatte, die Rückkehr des Herrn von Enckefuß aufs Fenster blickend abzupassen und ihn gemüthlich, als wäre nichts zwischen seinem geliebten Hedemann und dem Assessor im Garten des Wirthshauses am Kreuzwege vorgefallen, anzurufen. Aufhorchend fuhr er fort: Sie bekommen Besuch!

Man hörte auch das gleichmäßige und sichere Ersteigen der Treppe durch einen festen Schritt, der an der Thür Benno's Halt machte … Es klopfte und ohne erst lange ein Herein! abzuwarten trat der Assessor von Enckefuß ins Zimmer.

Vom Schauplatz eines Mordes zu kommen wird den Ruhigsten in Aufregung bringen. Der Assessor war sonst ein Mann von einer seltenen Bestimmtheit und Fassung; heute, in aller Frühe schon vom Lager gerufen, um den Thatbestand eines seltenen Verbrechens[23] aufzunehmen und den Eifer und Scharfsinn seiner Beigeordneten zur Entdeckung des Urhebers in Bewegung zu setzen, fehlte ihm fast jene Selbstbeherrschung, die ihn nie und nur dann verließ, wenn er sich einmal von einem im Grunde heftigen Temperamente fortreißen ließ. Aus dem Scherze, den er sich im Behagen, von seinem täglichen Amtsverdruß auf einige Tage einmal ausgespannt zu sein, gegen Porzia Biancchi erlaubt hatte, würde ohne Benno's Dazwischenkunft leicht gegen Hedemann eine rasche und schwer zu bereuende That geworden sein.

Die gewohnte Kaltblütigkeit des etwa im Anfang der Dreißiger befindlichen, wohlgewachsenen und imponirenden Mannes kehrte zurück, als er Thiebold de Jonge sah, der ihn seit dem Zusammenstoß mit Hedemann vermieden und in Kocher ganz an Benno überlassen hatte. In jeder Lage, wo ein anderer durch eine unerwartete Störung in Verlegenheit gebracht wird, knöpft ein Charakter wie der Assessor sozusagen einen Knopf noch mehr zu und wird noch kühler werden, als ohnehin schon in seinem Wesen und Benehmen liegt. Nun also schon wieder in dem gewohnten Tone einer vor nichts erstaunenden Ruhe und Kälte sagte der in seinem Amte gewiegte, in seinen Unternehmungen von guten Erfolgen begleitete Beamte:

Herr von Asselyn! Ich suchte Sie gestern Abend überall vergebens – mein Vater ist angekommen – in dem Drang seiner Angelegenheiten begaben wir uns sofort zu Nück – eine Viertelstunde und die Verständigung war gemacht – ich danke das ohne Zweifel Ihrer Vorbereitung! Machen Sie meinem Vater das Vergnügen, heute im Englischen Hofe mit uns ein Frühstück[24] einzunehmen – Auch Sie, Herr de Jonge, sind vielleicht zugegen – obgleich Sie die Nacht nicht geschlafen haben! setzte er nach einer leichten Verbeugung lächelnd hinzu.

Woher wissen Sie das? fragte Thiebold mit nicht erkünstelter Kälte.

Benno, um Reibungen zu vermeiden, hielt sich an die Ueberraschung, die ihm die Ankunft des Rittmeisters und Landraths von Enckefuß verursachte. Er wiederholte einigemal: Ich war bei meinem Vetter – im Schnuphase'schen Hause – sieh, sieh – nun ist mir das schnelle Arrangement erklärlich!

Thiebold bereute indeß seine Aufwallung …

Um eine Coalition der Hypothekengläubiger zu sprengen, fuhr der Assessor fort, reiste Herr Kattendyk noch in dieser Nacht nach Witoborn ab – man hat Sie in aller Frühe im Bahnhof gesehen, Herr de Jonge – also vermuth' ich, daß ich richtig errieth – indessen bis zwölf Uhr, wo uns mein guter Alter erwartet, könnten Sie noch ausgeschlafen haben und es wird Sie freuen, Herr de Jonge, ich habe ausdrücklich die Käuflichkeit der Mühle für meinen intimen Feind, Herrn Remigius Hedemann, beim Vater und bei Nück ausbedungen – auch zu dem Preise, für den sie der Gläubiger ablassen wollte! Daß diese Sorgen hinter mir liegen, dank' ich Ihnen, Herr von Asselyn! Also ich hoffe, Sie kommen!

Benno schützte, wenn er ausbleiben sollte, die Abhängigkeit von Bonaventura vor.

Thiebold, rasch jetzt erwärmt und versöhnt, rückte mit seinem Stuhle dem Assessor näher, zeigte ihm das auf dem Platz so zunehmende Gewühl, daß schon Militärwache[25] berufen wurde, die Leute vom Eindringen in das Haus, wo die That begangen war, zurückzuhalten, und fragte nach seiner Ansicht über den Vorfall.

Das ist eine traurige Affaire! sagte der Assessor. Die Alte wurde mit einer Schlinge erwürgt, gerade wie man einem Stier den Hals zuschnürt und ihn dann niederzieht! Sie muß von ihrer Stube bis hinten in die Küche geflüchtet sein, wo der Mörder sie am Feuerherd festhielt und so vollends –

Und keine Vermuthung? fragten beide Hörer zu gleicher Zeit.

Gesindel haben wir genug in der Stadt! sagte der Assessor und lehnte die angebotene Theilnahme am bescheidenen Frühstück nicht ab. Sie wissen ja von dem Knecht aus dem Weißen Roß, der in St.-Wolfgang den Sarg erbrochen! Der Mensch soll hier in der Stadt gesehen worden sein! Uebrigens war diese Frau berüchtigt durch ihren Geiz. Seit Jahren ging sie nicht mehr aus. Dennoch fehlte es um sie her nicht an Verkehr. Sie nannte sich eine Frau Hauptmann von Buschbeck, während ihr nur ein anderer Name gebührt – er steht in den Acten. Geldmittel erhielt sie mit großer Regelmäßigkeit von unserer Freiherrlich Wittekind-Neuhof'schen Kameral-Verwaltung bei Witoborn. Vor vielen Jahren war sie in Diensten des alten Freiherrn von Wittekind!

Benno hörte mit beklommenem Herzen die Bestätigung der Beziehungen der Ermordeten zu Schloß Neuhof …

Die Alte, fuhr der Assessor fort, kam vor sieben oder acht Jahren hieher und brachte bald die Polizei mit[26] sich in Berührung. Kein Dienstbote blieb länger als einige Wochen bei ihr, mancher kaum einige Tage. Sie quälte und mishandelte sie so lange, bis niemand mehr zu ihr ziehen wollte. Bei dem Geiz ihrer Lebensweise hätte sie für sich allein auskommen können, ohne Bedienung, aber wahrscheinlich hatte sie das Bedürfniß der Gesellschaft. Sie half sich zuletzt, wie ich gehört habe, durch einen Rath Ihres in allem kundigen Procurators!

Nück's? fragte Benno sinnend und keineswegs erstaunt … Die Klugheit desselben war ihm geläufig.

Sie deponirte ein Testament mit Nück's Hülfe und bekam von ihm oder von seinem damaligen Gehülfen Hammaker –

Benno bemerkte ein momentan aufblitzendes, wenn auch nur ganz kurzes Leuchten in den Augen des Assessors –

Von Hammaker, glaub' ich, den Rath, einer geistlichen Schwesterschaft ein Legat auszusetzen und sich von dieser dann die Dienstboten besorgen zu lassen. Der Vermittler ist Schnuphase – Sie kennen ihn ja –! Daß unser gefälliger und so zartfühlender Herr Maria die Auszahlung des Legats durch eine am Halse der Alten angebrachte Schlinge hat befördern wollen, ist nicht anzunehmen …

Ebenso wenig wie von einer der durch die Schwesterschaft zugeführten Mägde … ergänzte Thiebold mit jener aufwallenden Empfindlichkeit, die hier zu Lande bei der geringsten Reizung religiöser Beziehungen üblich ist.

Meine Herren, sagte der Assessor lächelnd, ich werde Sie schonen und Ihr Ohr auch nicht mit der Ansicht[27] beleidigen, daß die bekannte Schwesterschaft zu den Nothhelfern die Alte hat umbringen lassen …

Und fast verdrießlich lehnte er eine zweite Tasse Kaffee ab und wollte sich entfernen. Ihm genügte, die Einladung gemacht zu haben zum Frühstück mit seinem lebensfrohen und jetzt, wie es schien, ganz sorglos gewordenen Vater.

Benno versicherte, daß Thiebold ohne Vorurtheile und vollkommen neugierig genug wäre zu vernehmen, welche Rolle bei diesem tragischen Vorgang die Schwesterschaft zu den Nothhelfern spielte.

Meine Herren, sagte der Assessor, ich gehöre Ihrer Kirche nicht an, aber wenn Sie es hören wollen, so versichere ich Sie, daß Hamlet's Wort zu Horatio: »Es gibt Dinge unter dem Monde, die unsere Schulweisheit sich nicht träumen läßt!« hier am Platze ist. Diese Frau bekam vor drei Jahren keinen Dienstboten mehr; seitdem sie aber mit Hammaker, wollt' ich sagen mit Nück gesprochen, geht alles. Die Schwesterschaft beauftragt Schnuphase, die Mädchen vom Lande zu holen. Lebensfrohe passen natürlich für diese Stellung nicht und solche, die zuletzt in ein Kloster gehen, entdeckt schon ein so kundiger Blick wie der des Herrn Wachslichterfabrikanten. Die Aufgabe, die Klöster, zu bevölkern, ist von Rom gestellt. Wir haben der Klöster noch immer mehr, als mit der Richtung und dem Geschmack des neunzehnten Jahrhunderts im Einklang steht. Was ist zu thun? Man muß ihnen einen Zuwachs künstlich erwerben. So werden die Wallfahrten in Aufnahme gebracht, so fangen die wunderthätigen Heiligenbilder an Blut zu schwitzen und Thränen[28] zu weinen, so werden Vereine gestiftet, Gesellen-, Meister-, Lehrlingsvereine, Vereine für Erkrankung und Beerdigung, Vereine für Bildung und Unterhaltung, Nähvereine für die Mädchen, alles unter kirchlichen Formen und mit geistlicher Assistenz und vor allem hat Rom den Beweis zu führen, daß wirklich für die Klöster eine nicht mehr zu hemmende Sehnsucht im Volke vorhanden wäre. So lockt man die Gemüther in die Bahn der Entsagung, fesselt sie durch entsprechende Vorbereitungen, macht sie mit den auch dem Klosterleben nicht fehlenden Annehmlichkeiten vertraut und die Folge ist, daß –

Doch nicht etwa, fiel ungeduldig Thiebold ein, die Person da drüben von Jesuiten oder sonst einem Eurer Gespenster umgebracht ist?

Der Assessor erhob sich und nahm zwar nur die Miene an, als wenn ihn der zunehmende Lärm auf dem Platze zwänge zu seinen Amtsgeschäften zurückzukehren, aber es vertrieb ihn eine unverkennbare Aufwallung und Entrüstung.

Rasch abbrechend und aufs neue an die Hoffnung erinnernd, beide Freunde um zwölf Uhr im Englischen Hof bei seinem Vater zu finden, verließ er ohne viel Förmlichkeit das Zimmer.

Und mit einem Ausdruck, als wollte er sagen: Freund, wenn Sie sich doch nicht in Dinge mischten, die Sie nicht verstehen! begann nun Benno:

Da haben Sie jetzt die Antwort auf Ihren Witz und Ihren gewohnten Scharfsinn!

Nein aber auch unglaublich, was diese Menschen herausspioniren! polterte Thiebold.[29]

Seien Sie versichert, mein Bester, sagte Benno, daß der Assessor von Enckefuß die Jesuiten für keine Gespenster zu halten vollkommen berechtigt ist! Die Bewegung auf diesem Gebiete ist für den, der im Dunkeln sehen kann, die eines Ameisenhaufens! Ich habe, wie Sie wissen, an und für sich meine Freude daran. Nicht weil ich dieser Pfafferei und dem römischen Wesen den Sieg gönne, sondern weil in die dumpfe Stille unserer Zustände, in die Stagnation jedes politischen Lebens, in die niedergehaltene patriotische Kraft und nationale Gesinnung denn doch irgendetwas hereinbricht und der geistigen Sklaverei, der Bureaukratie, dem in allen Maßnahmen vorausgesetzten »beschränkten Unterthanenverstande« ein Ende macht! Ich gehe nicht so weit wie Nück, dem die Religion Bagatelle ist und der sich nur vergnüglichst die Hände reibt, weil die Minister, die z.B. so erbittert seine Assisen und seinen Rechtscodex hassen und verfolgen, nun doch einmal von der sonst loyalsten Seite aus und innerhalb einer gar nicht zu bestreitenden Berechtigung jetzt in die ärgsten Verlegenheiten gerathen – diesen Cynismus der Gesinnung besitz' ich nicht – wie Sie denn überhaupt in Kocher am Fall, bester Freund, meine Verehrung vor dem verbitterten und die Sackträger um ihr Kegelschieben beneidenden Mann unerlaubt übertrieben haben! Von Ihrer ganzen Auffassung meines Herzens und meiner Lebensansichten werd' ich überdies die Ehre haben, Ihnen einfach zu sagen, daß Sie sich irren, lieber alter Freund! Ich habe einen unverwüstlichen Trieb zur Gerechtigkeit und wer den hat der[30] wird andern immer kalt erscheinen! Seine Prüfung, niemanden Unrecht zu thun, wird immer länger dauern als der flackernde Enthusiasmus der minder Bedenklichen. Von meiner persönlichen und Privat-Lebensstimmung will ich gar nicht reden, aber die Zeit selbst wird so ernst, lieber Freund, die Umstände, die uns umgeben, wachsen zu solcher Bedeutung heran, daß wir mit unserm blos so dreinfahrenden natürlichen Instinct die größten Thorheiten und sogar Sünden gegen den Heiligen Geist begehen können! Lassen Sie mir nur mein Sibirien im Herzen, lieber Freund! Es ist so kalt nicht, daß ich nur mit Pelzhandschuhen zu tractiren wäre! Aber auch wenn es drin Sommer werden sollte, wird eine gemildertere Temperatur immer gut sein Ihren Extremen gegenüber, Ihren Aufwallungen, Ihren unbedachten, frevelhaften, höchst maliciösen –

Benno mußte sich schon zurückziehen …

Denn Thiebold war so vollkommen aufgelöst vor Zerknirschung, Reue, Seligkeit, Stolz, einen solchen Freund zu haben, vor so merkwürdiger Ueberraschung, »dergleichen zu hören«, vor so aufrichtiger Dankbarkeit, »dergleichen zu lernen«, daß ihm schon mit beiden zur Versöhnung ausgestreckten Händen das Schrecklichste der Schrecken, eine Umarmung, drohte …

Benno fuhr sich retirirend fort:

Ihre Extreme sind immer das Echo des letzten energischen Eindrucks, den Sie irgendwo empfangen haben! Wettert der Oberst gegen die Misbräuche unserer Kirche, so sind Sie zum Ketzer reif! Hier dem Assessor gegenüber[31] sehen Sie keine Jesuiten und rennen vielleicht heute noch vor Ekstase in einen Beichtstuhl!

Nie! Nie! Seit neun Jahren nicht! Auf Ehre! versicherte Thiebold, nun wieder wie ein zweiter Huß und Wiclef.

Dann schämen Sie sich, fuhr Benno fort, daß Sie dem vernünftigen Mann seine Fährte durchkreuzten, die gerade doch auf einen Menschen hinauszukommen scheint, der sich dem bösen Weibe unter gewissen religiösen Vorspiegelungen und Intriguen zu nähern wußte …

Indem trat Benno's Schreiber ein, ganz erfüllt von dem Vorfall, dem die Bewegung schon der halben Stadt galt …

Benno nahm von Thiebold's sich selbst anklagenden lyrisch-sentimentalen Vorwürfen Abstand und sagte:

Ich will arbeiten, wenn der verdammte Lärm mich dazu kommen läßt! Sie aber, de Jonge, gehen Sie nach Hause und schlafen Sie aus und lassen Sie sich Punkt halb zwölf Uhr wecken! Ich bin begierig, den alten Haudegen, den Rittmeister von Enckefuß, kennen zu lernen! Ja Sie müssen schon deshalb dabei sein, um sogleich an Hedemann schreiben zu können! Vielleicht erzählt uns auch des Assessors Vater, was Hedemann gegen ihn so speciell auf dem Herzen hat!

Damit wurde denn Thiebold fast gewaltsam von Benno zur Thür hinausgedrückt, und er ging; im Hochgefühl, seinen starken und festen Freund wieder ganz so zu haben, wie er seiner bedurfte. Zwar knirschte er an seiner Kette, lag aber doch mit solcher Wonne an ihr, daß er jetzt jedem, der ihm etwa auf der Straße und bis zu den Holzhöfen seines Vaters hinauf von Bekannten begegnete, die »Ideen«[32] (freilich als die seinigen) wiederholt haben würde, die er soeben von Benno gehört hatte. Ja er würde jetzt keinen Anstand genommen haben, anzudeuten, daß die Frau Hauptmännin von Buschbeck ein »nächtliches Opfer der Jesuiten« war.

Für Benno, der sich zur sofortigen Abfassung erst eines discret vorbereitenden Briefes an den Onkel in der Dechanei und dann zum Arbeiten setzen wollte und von dem Schreiber die wirren Gerüchte, die er theilweise schon kannte, wiederholt erhielt, war es ein seltsamer Eindruck, beim nochmaligen Hinunterblicken auf die Straße, wo jetzt der Zudrang der Menschen von einem Piket Soldaten abgesperrt wurde, den Assessor von Enckefuß über die leergewordene Mitte des Platzes, allgemein sichtlich, dahinschreiten zu sehen mit jenem Manne, den er einige male in nächtlicher Weile von der Treppe des Hauses gegenüber hatte herniedersteigen sehen, Jodocus Hammaker …

Er kämpfte mit sich, nicht den Verdacht auf diesen Mann irgend jemanden schon auszusprechen … Denn Hammaker war der Vertraute seines Principals in einem Grade, der schon seit einer Reihe von Jahren um so mehr das Erstaunen der Stadt war, als sich gegen die Rechtlichkeit des vielbewunderten, vielgesuchten und so außerordentlich reichen, deshalb auf Umtriebe nicht im mindesten angewiesenen Schwagers Piter Kattendyk's, Dominicus Nück, nicht das Mindeste einwenden ließ.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 3, Leipzig 1858, S. 3-33.
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