8.

[88] Lucinde blieb auf der Pfarrei, hier »Pastorat« genannt.

Man fragte sie allerdings nach ihrer Herkunft, ihrem Namen und dem Stande ihrer Aeltern. Sie gab auch dem Pfarrer und dem Schulzen (dem »Meier« des Dorfes) einen Namen an. Erst war sie Johanna Stegmann, aus dem Thüringischen gebürtig. Kam der Pfarrer und drohte lächelnd mit dem Finger und sagte, er hätte nach Vacha, das sie als Wohnort angegeben, geschrieben und die Nachricht bekommen, daß man dort nichts von einer Johanna Stegmann wisse, so nannte sie sich Luise Starkin, aus der Gegend von Fulda über die Rhön hinaus, wo ihr Vater ein Oberförster des Königs von Baiern wäre. Schüttelte man nach vier Wochen wieder den Kopf, so erwiderte sie:

Will man, daß ich bleibe, so quält mich doch nicht so!

Man mußte nämlich wirklich wünschen, daß sie blieb. Sie war dem Frieden des Hauses fast nothwendig geworden. Was zur Besänftigung des Kammerherrn die[89] Harmonica nur annähernd erreicht hatte, das löste Lucinde vollständig. Der Kammerherr wurde durch sie ein Kind, das an ihrem Leitseile unter Blumen spielte; er zeichnete, malte, sprach leidlich vernünftig und verhieß eine wirkliche Heilung.

Ohne phantastisches Uebermaß und manche Wunderlichkeit ging es dabei freilich nicht ab.

Es blieb dem Kranken von Lucinden die Vorstellung wie von einer in der That feenhaften Erscheinung. Er ließ sich den Wahn nicht nehmen, daß Lucinde eine Tochter der Waldeskönigin, vielleicht sie selbst wäre, und Lucinde that nichts, ihm diesen Glauben zu nehmen. Sie ließ sich von ihm ganz so schmücken, wie er sie sehen wollte, wenn er sie malte. Es waren dies diese wunderlichen Malereien der Geisteskranken, die durch ihre technische Vollendung oft überraschen und doch immer etwas nur mechanisch Wiedergegebenes und Seelenloses darstellen. Es waren in seinen Landschaften immer derselbe Eichbaum, immer derselbe Felsengrund, immer dasselbe Haus, derselbe Kirchthurm, derselbe Bach und dieselbe Mühle wiederzufinden, nur wechselte die Vermischung und die Beleuchtung. Auch seine Porträts drückten, er mochte den Pfarrer oder den Meier im Dorf oder den einzigen Bekannten, der ihn zuweilen besuchte, einen Grafen Hans von Zeesen wählen, immer denselben Charakter aus, eigentlich ihn selbst. Nur für Lucinden suchte er Abwechselung, bald in dieser Situation, bald in jener. Er verschwendete Summen Geldes, um sie bald als Griechin, bald als Zigeunerin, bald als Salondame oder Amazone malen zu können. Von[90] jenem Residenzstädtchen, wo er sich einst den Kammerherrnschlüssel gekauft hatte, waren beständig Cartons mit kostbaren Stoffen unterwegs. Selbst theuere Schmucksachen wurden angekauft. Und der Kronsyndikus, der Vater, der zuletzt doch auch von diesem Treiben hören mußte, widersprach diesmal nicht. Einmal drückte ihn der geheime Vorwurf, das Uebel des Sohnes selbst durch seine Erziehung gemehrt zu haben, dann nährte er die Hoffnung, ihn wieder in die Gesellschaft zurückzuführen. Es wurde sogar eine Adelige genannt, die nach einem Familienstatut mit ihm vermählt werden sollte, nachdem eine Verbindung mit einem Fräulein Monica von Ubbelohde vor geraumen Jahren gescheitert war.

Lucinde genoß diese Lage eine Zeit lang mit der ganzen Behaglichkeit ebenso eines sichern und geschützten Aufenthalts wie geschmeichelten Selbstgefühls … Eibendorf lag dem Winkel zu, wo sich das Eggegebirge mit dem Teutoburger Walde kreuzt; es war umgeben von jenen Waldzügen, die so dichtbelaubt, so frei und urstämmig sich sonst nur im Süden Deutschlands wiederfinden. Von mancher aufsteigenden Anhöhe aus sah man in das ganze Tiefthal der Weser hinab. Ein entzückender Anblick! Jeder Hügel bewaldet und umgeben von unabsehbaren Feldern und Wiesen, denen sich in frischen Farben Dörfer, weiterhin ansehnliche Städte entwinden. Die schroffern und die Seele mit mächtigen Ahnungen erfüllenden Partieen mußte man im Gebirge suchen; diese Ebene hier bot den Charakter der Milde und Lieblichkeit. Nach Osten hin sah man an besonders lichthellen Tagen in dunkler Färbung die Nadelholzcontouren[91] des Harzes. Dabei waren die Volkssitten lebhaft, ja keck und herausfordernd. Es gab Aufzüge und Feste aller Art, sogar ein Schützenfest für Frauen. Morgens in erster Herbstfrühe ziehen die Ehefrauen der Gemeinde, unter ihnen manche Anmuthige, von irgendeinem Hofe aus, in goldenen landüblichen Häubchen und Stirnbinden, mit Bändern und Blumensträußen geschmückt, mit den Gewehren ihrer Männer in den Händen. Der Kammerherr hatte verlangt, daß Lucinde die Schützenkönigin spielte, die mit dem Zeichen ihrer Würde, den Säbel an der Seite, vorausmarschirte. Da sie nicht verheirathet war, so setzte man die äußerste Anstrengung daran, ihn von diesem Verlangen abzubringen. Sie begnügte sich dann auch mit der Rolle des Fähnrichs. Die Fahne aber, die er sie tragen ließ, war eine wunderliche Curiosität, die er selber erfunden hatte. Er beschäftigte sich nämlich mit der hier landesüblichen gelehrten Spielerei, in den Nachrichten der Alten über den Aufenthalt der Römer in Deutschland Thatsachen und Namen aufzufinden, die mit den Sitten und Namen der Gegenwart noch in irgendeinem Zusammenhange stehen. Der Kammerherr wußte genau, wo Varus von Hermann dem Cherusker geschlagen war, er behauptete, dicht bei Neuhof, dem Schlosse seines Vaters. Er war auch selbst in Rom gewesen und vermeinte, dort in den Alterthumsschätzen des Vatican Dinge gesehen zu haben, die die Römer nur auf der heiligen rothen Erde Westfalens gefunden haben konnten. Dortige alte Trinkgefäße wären nur aus Glashütte gekommen, einem Vorwerk seines Vaters, alte Wurfgeschosse nur aus einem[92] ganz bestimmten Holze, dem Düsternbrook hinter Neuhof, geschnitzt, alte Waffen aus einer uralten Schmiede hervorgegangen, die seit Jahrhunderten die Hufe der Rosse seines Hauses beschlug. Nur in einem wich er von dem Urtheil seines Vaters ab. Er las den Tacitus ziemlich geläufig und hatte die besondere Ueberzeugung, daß der Tempel der Tanfana, wo die alten Deutschen angebetet haben sollten, nicht etwa die große Dämpfpfanne der Saline Hallenstein seines Vaters war, wie dieser selbst und alle Pastoren der Umgegend glaubten, sondern nur eine Tannenfahne, nämlich der alte deutsche, weiland heidnische, dann so gründlich getaufte, bekehrte und christlich gewordene liebe Weihnachtsbaum, den in der That Lucinde mit bunten Bändern geschmückt und mit allerlei zierlichen Vergoldungen bei jenem Schützenfeste als Fähnrich tragen mußte. Da auch in diesem Weihnachtsbaume, Tanfana, Tannenfahne, dem Palladium der alten Deutschen, goldene Ringe, Ketten, Schaumünzen hingen, die die Siegerinnen im Schießen gewinnen sollten, so ließ man sich diese Verbindung des alten heidnischen Rom mit Deutschland und dem überwiegend protestantischen Eibendorf (katholische Einwohner waren in einem Nachbardorfe eingepfarrt) gefallen. Es waren Geschenke von dem sogenannten »tollen Kammerherrn«.

Auf die Länge mußte freilich den Pfarrer die unsichere Herkunft und das längere Verweilen Lucindens beunruhigen. Er hatte dem Kronsyndikus nach Neuhof, dem Stammsitze der Wittekinds jenseit des Gebirges, wiederholt seine Bedenken mitgetheilt. Da aber die Wirkung der Abenteurerin eine so vortheilhafte für den[93] Kammerherrn war, so befahl der Vater, an diesem Erziehungsplane, den der Zufall an die Hand gegeben, vorläufig nichts zu ändern. Seine Briefe waren kurz und bestimmt, wie die Art des Mannes überhaupt sein sollte. So duldete man das, was nach und nach anfing auch seine Mislichkeiten nach sich zu ziehen. Denn weder die vom Gewöhnlichen abweichende Situation des Geisteskranken, seine einsamen Wanderungen mit der Fremden, seine Ausbrüche von Eifersucht, noch Lucindens mehr zum Zerstören als zum Schaffen geneigte Natur blieben lange unverborgen … Schon fing sie an, als es zum Winter ging, sich an dieser sich gleichbleibenden Lage nicht zu genügen: selbst der Bann einer solchen Huldigung, wie sie sie hier, allerdings ohne die geringste intimere Belästigung fand, wurde ihr zu enge, der Gang der Tage wurde zu gleichförmig, die Welt, in der man hier seine Befriedigung gefunden hatte, brachte selten eine andere Unterhaltung als eine Thorheit des Kammerherrn mehr. Die Menschen, die es da und dort noch zu gewinnen gegeben hätte, hielten sich in scheuer Ferne, selbst Graf Zeesen, der alle zwei Monate einmal von seinen nahe liegenden Gütern kam, um einige Stunden lang die sonderbarsten Gespräche mit dem Kammerherrn zu pflegen. Wäre Graf Zeesen nicht ausgesprochen katholisch gewesen und im Pfarrhause dieser Punkt des Kammerherrn wegen mit großer Zurückhaltung behandelt worden, die Familie hätte vielleicht auch den Grafen mindestens tiefsinnig genannt.

Dieser noch junge Cavalier war nach den Aeußerungen des Kammerherrn zu Lucinden, die von ihm alle[94] seine Familienbeziehungen erfuhr (nur nie etwas über die Frau »Hauptmännin« von Buschbeck oder das Fräulein von Gülpen, eine Persönlichkeit, die er nicht zu kennen behauptete), sein zweitbester Freund. Der erstbeste hieß Doctor Heinrich Klingsohr. Doch fügte er regelmäßig mit einem Kreuze, das er dabei in die Luft malte, hinzu: Klingsohr ist mein bester Freund, aber er hat mich verrathen! Vom Grafen Zeesen, mit dem er studirt hatte und in Rom gewesen war, ließ er eine aufrichtige Hingebung gelten, beklagte aber ein unglückseliges Geschick desselben, das er nie genauer angab. Die Pfarrerin verrieth es eines Tages Lucinden, indem sie erzählte:

Der Graf hat sich mit einem Freifräulein von Seefelden verlobt, leidet aber darüber an Gewissensscrupeln, seitdem er ein altes Familienstatut in Erfahrung gebracht hat. Vor hundert Jahren hat nämlich ein Ahn seines Hauses die Bestimmung gemacht, daß, wenn ein ältester Sohn der Nachkommenschaft sich entschließen sollte, nicht zu heirathen, die von ihm und seiner später geisteskrank gewordenen Frau reich vermehrten Güter der Zeesen dazu angewendet werden sollten, ein großes Landes-Irrenhaus zu begründen. Hundert Jahre lang haben die Nachkommen vorgezogen zu heirathen. Erst dieser Hans von Zeesen, der viel Frömmigkeit besitzt, wurde über jene nun hundertjährige Unterlassung eines guten Werkes stutzig, und sonderbarerweise ist seine Braut, die ihn ebenso heiß liebt wie er sie, von gleicher Seelenstimmung. Ich zweifle gar nicht, daß der Graf seinen kranken alten Freund nur deshalb so oft besucht, um sich in dem heroischen Vorsatze des Entsagens zu bestärken.[95]

Lucinde horchte hoch auf. Hier kamen Ideen, die sie an sich vollkommen verstand, in eine Verbindung oder in Conflicte, die sie noch nicht fassen konnte. Doch hörte sie aufmerksamer zu, wenn der kleine blasse, schmächtige Mann, der Graf, in schlichter, fast priesterlicher Tracht kam und sich mit dem Kammerherrn unterhielt. Nie hatte sie so viel von Gedanken, Meinungen, ideellen Beziehungen gehört wie in den Gesprächen eines Halbirren mit einem Manne, der so fromm war, daß er selbst unter der protestantischen Pflege seines Freundes zu leiden schien.

Wie eigenthümlich nach dem Wunderbaren und Fremdartigen hier zu Lande fast überall ausgegangen wird, erfuhr Lucinde bei vielen Gelegenheiten, unter andern bei einer Erinnerung an den alten Bienenhelm ihres Vaters, den dieser nie zurückbekommen hatte; die Hauptmännin hatte ihn, scheinbar zu Gunsten Lucindens, an einen Trödler verkauft. Sie besuchte nämlich aus alter Neigung oft die Dorfschule und gab in ihr Unterricht auf ihre Weise. Beim Schulmeister fand sie ein geregelteres Hauswesen als bei ihrem Vater, und in der Gartenwirthschaft auch einen Bienenhelm, den gerade ein Knecht aus dem Orte vom Schulmeister borgte, um den Bienen das Leid vom eben verstorbenen Herrn anzusagen. Ueber den sonderbaren hierländischen Gebrauch, daß man mitten in die Bienenstöcke hinein den Tod des Hausvaters anzeigen und den Knecht den Bienen melden läßt: »Einen schönen Gruß von der Frau und der Herr wäre todt!« konnten sich der Kammerherr und der gerade anwesende Graf in Mittheilungen verlieren, die[96] alle Seiten der Geschichte und der Philosophie berührten. Lucinde staunte über den Glauben, der annahm, daß ohne diese Leid-Ansage die Bienenstöcke in Jahresfrist ausgehen würden; aber der Kammerherr und der Graf, beide warfen verklärt ihre Blicke empor und sprachen jetzt sogar anerkennend von dem früher gemeinschaftlichen verrätherischen Freunde, Heinrich Klingsohr, der auf die Darstellung des Zusammenhangs der Bienen mit den Staats- und Rechtsbegriffen der Menschheit in Göttingen Doctor geworden war.

Und so dunkel es nun auch in des Kammerherrn Begriffen aussah, so wurde er doch auf diese Art Lucinden ein Lehrer. Auf Partieen, die er in einem von seinem Diener geführten Einspänner machte, sprach er mit Lucinden, ob sie es nun verstand oder nicht, nur französisch, ein andermal nur englisch, ein drittesmal, wenn er gerade auf Tacitus und die alten Germanen oder auf eine Sammlung alter Marienlieder, die Graf Zeesen zum Druck vorbereitete, kam, nur lateinisch. Sie erwiderte mit dem Wenigen, was sie früher von Englisch und Französisch aufgegriffen hatte, und bewundernswerth war die Geduld, mit der der Kammerherr sich mühte, einer der Erde nicht angehörenden Erscheinung allmählich die Sprachen derselben beizubringen. Die Sprache, die er an dem Riedbruch damals im Walde beim ersten Finden an sie gerichtet hatte, war ein Gemisch von Lateinisch und Plattdeutsch gewesen.

Diesen Gewinn an Kenntnissen ließ sich Lucinde, die unter all dem Düster ihre Heiterkeit nicht verlor, wohl gefallen. Der Gewinn mehrte sich, als die langen Abende[97] kamen und der Pfarrer sich gleichfalls geneigt erklärte, die Civilisation des Wildlings zu unterstützen. Auch im Klavier, dessen Grundlagen Lucinde schon im Hause des Stadtamtmanns gelegt hatte, vervollkommnete sie sich unter Leitung des musikalischen Mannes, der seine Kinder, ja selbst noch seine an sich hierin geringer talentirte Frau unterrichtete. Der Herbst und ein langer, schnee- und frostreicher Winter wurde auf diese Art für Lucinden eine Studienzeit, die bei der Leichtigkeit ihrer Auffassung und der geringen Zerstreuung dieses Aufenthalts reiche Früchte trug. Der Kammerherr selbst, dem es an wissenschaftlichem Material nicht mangelte und dessen liebstes Thema sich immer an die Erinnerungen von Rom oder Göttingen hielt, docirte ihr oft Geschichte und Philosophie, die er mit der Mathematik und, sonderbar und für die Schrullen jener Provinz unsers Vaterlandes kennzeichnend genug, auch mit der Kunst des Drechselns verband.

Wie die Adeligen Westfalens in ihrer Erziehung und ländlichen Beschäftigung an den Hofbällen von Berlin und in Münster nicht zu erkennen sind, so wird man seltsam finden, daß es berühmte Geschlechter unter ihnen gibt, die neben ihrem angeblichen Berufe, die unerschütterlichen Erben Karl's des Großen zu sein und in Demuth vor Gott, dem Papst und dem Landesherrn ihre Renten zu verzehren, auch ein Handwerk lernen. Manche, die nicht gut schreiben können, aber schon in Potsdam ein Porteépée führen und in Verlegenheit kommen zu bekennen, daß sie nicht viel mehr wüßten, als was auf ihren düstern, einsamen Kampen der »Hauspape« ihnen zu lernen zugemuthet, verstehen sich vortrefflich[98] auf den Hufbeschlag der Pferde oder arbeiten sich das Sattel- und Riemzeug derselben selbst aus. Das Drechseln aber in grobem und seinem Holze ist eine so weit verbreitete Kunstfertigkeit des westfälischen Adels, daß Lucinde sich nicht hätte zu verwundern brauchen, neben dem Maleratelier ihres Freundes auch eine Kammer anzutreffen, die zu einer vollständigen Drechslerwerkstatt eingerichtet war. Ihr aus Kirschbaumholz allerhand Büchsen und Ringe zu drehen, war selbstverständlich seine liebste Aufgabe; aber er drehte auch Bälle, Kegel, Pyramiden, konische Ausschnitte und Figuren aller Art, von denen er nicht nur mathematische Auslegungen gab, sondern auch philosophische und religiöse. Oft sprach er dabei von einem in der Nähe seiner väterlichen Güter wohnenden Philosophen, der aus den einfachsten Grundbegriffen unserer mathematischen Anschauungen die tiefsten Wahrheiten der Religion hergeleitet hätte.

Je geheimer diese Gespräche vor dem Pfarrer geführt wurden, desto reizvoller wurden sie für einen Verstand, der sich aus den verworrenen Begriffen eines Narren manches Körnlein Vernunft entnehmen konnte. Dennoch wünschte Lucinde diese Lage geändert. Das Aufsehen, das sie in der ganzen Gegend mit dem »tollen« Kammerherrn machte, war nicht gering. Auch hatte der Pfarrer erleben müssen, daß ein Brief, den Lucinde an ihre Schwester geschrieben und eine Meile weit erst von ihr auf die Post gegeben war, zurückkam, mit der vollständigen und wahren Adresse seines Schützlings, ja, daß der Meier von Eibendorf ihm Mittheilungen machte,[99] die jetzt den Zustand, wie man Lucinden im Riedbruch gefunden, vollkommen erklärten.

Eine scheue Besorgniß des ganzen Hauses vor Lucinden hatte sich schon längst gesteigert, sie wurde zur Abneigung, als man sie bei Ueberreichung des von der Post geöffnet gewesenen und wieder von der Post verschlossenen Briefes wol aufs äußerste über die offene Angabe ihres Namens erschrocken fand, weniger aber über den von einer ungebildeten Hand gekritzelten Zusatz: »Ist vor vier Wochen am Nervenfieber gestorben.«

Der Tod ihrer Schwester Luise, einer einzigen, wie sie öfter gesagt hatte, erschütterte sie weniger als die richtige Angabe ihres Namens! Daß mit so viel Schönheit, jeweiliger Liebenswürdigkeit, immer mehr sich herausstellendem Geist und zunehmenden Kenntnissen so viel Gefühllosigkeit verbunden sein konnte, als sich jetzt erst offenbarte, nahm vorzugsweise die Pfarrerin gegen den längern Aufenthalt Lucindens ein, und offen wurde dem Kronsyndikus von Wittekind nach Neuhof die Anzeige gemacht, daß sie ohne Lucinden den Kammerherrn nicht mehr bei sich behalten könnten, mit ihr aber länger nicht mehr mochten.

Lucinde übersah das alles. Ihrem wühlerischen Umblick entging selten etwas, während sie alles an sich zu verbergen wußte, selbst den Schreck und ihr wirkliches geheimstes Erschüttertsein durch den Tod der Schwester. Trotzig warf sie die Lippen auf und erklärte, sie ginge jeden Augenblick, wenn man's wünschte. Man irrte sich keineswegs, wenn man voraussetzte, daß sie auch vom Kammerherrn sich trennen wollte, wenn nicht eine andere[100] Festsetzung ihres Verhältnisses zu ihm stattfände. Die Aussicht sogar, die Gattin desselben zu werden, schien ihr keineswegs zu hoch. Sie besaß einmal die Formel, die diesen verdunkelten Geist einigermaßen zu erhellen vermochte. Sie sagte sich, daß der vornehmen und stolzen Familie wenig daran liegen könnte, sich bei einer doch schon aufzugebenden Persönlichkeit auch noch gegen diese Ausnahme von der Regel zu stemmen.

Darin irrte sie sich aber, wie sie von der hierin entscheidenden Persönlichkeit selbst erfuhr.

In den ersten Tagen des April erschien der Kronsyndikus, der Vater des Kammerherrn.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 1, Leipzig 1858, S. 88-101.
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