1.

[3] »C.M.B.

Caspar, Melchior, Balthasar.


... Diese Namen der heiligen drei Könige aus dem Morgenland schrieb die alte Zeit über Thür und Schwelle eines jedes Christenhauses, um dem Heiland daraus eine Weihnachtskrippe zu bereiten.

Aber sie können noch mehr sagen, die heiligen drei Könige aus dem Morgenland! Sie können euch zurufen: C.M.B.: C – reuzige M – eine B – egierden! C – hristus M – ein B – ekenntniß! C – hristus M – eine B – ahn! C – ommunicire M – it B – edacht! C – abalen M – üssen B – rechen! C – abinetsweisheit M – acht B – ankrott!«

In dieser harmlos zeitgemäßen Weise war in der uralten Archipresbyteriatskirche zwischen Witoborn, Stift Heiligenkreuz und Schloß Westerhof, am heiligen Dreikönigstag gepredigt worden vor einer aus Hoch und Niedrig bestehenden Gemeinde, die auch deshalb so zahlreich vertreten war, weil alles erwartete, der von vierundzwanzig Damenhänden gefertigte Wunderteppich, die vom Doctor[3] Laurenz Püttmeyer gezeichnete Vision der »Seherin von Westerhof«, würde heute vom Pfarrer Norbert Müllenhoff geweiht werden. Diese »Weihe« mußte dem ersten Betreten des Teppichs durch den erwarteten Archipresbyter vorangehen.

Aber noch drei Wochen vergingen, bis diese heilige Handlung vollzogen werden konnte. Die Damen hatten für den Kirchenfürsten zu viel zu sticken und damit jenen Müllenhoff'schen – »Bankrott aller Cabinetsweisheit« zu beweisen …

Armgart war mit ihrem Drachen, den sie, wie Terschka an jenem Abend bei Piter Kattendyk berichtet, durch »längern Umgang lieb gewonnen hatte«, fast die erste fertig und hatte sich bereits wieder in zwei »Vielliebchen« verloren, die sie für Thiebold und Benno fertigte, eine Cigarrentasche und einen Aschenbecher … Nur ihre übrigen Mitfräulein im Stifte zögerten so lange mit Ablieferung ihrer Einzeltheile der großen Arbeit, die dann Jean Tübbicke, nicht Schneidermeister, sondern – man staune des Fortschritts zu Witoborn! – »Maître-tailleur« in der alten Priesterstadt und sogar der Sohn eines Meßners, des alten Meßners Tübbicke hier zu Sanct-Libori selbst, nach Püttmeyer's Zeichnung zusammenzunähen hatte.

Armgart saß am Dreikönigstag gleichfalls in der Kirche.

Ach, sie deutete sich diese akrostichische Nutzanwendung von C.M.B. aus dem Munde des jungen so schlagfertigen Geistlichen, der noch nicht zu lange aus dem Seminar gekommen war und schon auf zwei Pfarren fungirt und seines reformatorischen Eifers wegen zwar überall Spectakel gehabt, aber dennoch diese höchst vortreffliche[4] Pfarre auf den Dorste-Camphausen'schen Gütern bekommen hatte, in ihrer Weise …

Ihr – sprachen Caspar Melchior Balthasar: Herr! C – röne M – ein B – eginnen! … Daß sie dabei »Cröne« mit einem C schrieb, entsprach den Witoborner alten Gesangbüchern. Stand doch die ganze Bildung jener Gegend noch auf dem Standpunkte mehr von 1738 als von hundert Jahren später. Die wunderherrlichen Gedichte der Annette von Droste-Hülshoff, dieser edeln, anschauungsreichen Sängerin, die, wie Benno von Asselyn gelegentlich zum Verdruß der Tante Benigna von Ubbelohde beim Thee auf Westerhof gesagt hatte, auf dem Parnaß auch das Heidekraut und die Buchweizengrütze aussäete, diese Gedichte kannte Armgart; aber mit Andacht las sie seit Kindesbeinen nur die Poesie auf den Kreuzwegstationen und Wallanlagen von Witoborn und in den Corridoren ihres Stiftes Heiligenkreuz. Denn dort war sie eingetreten. In der That hielt sie jetzt Markt mit ihren Naturaleinkünften (in diesem Winter freilich erst Einen einträglichen mit zehn Schinken, zehn Würsten und zehn Speckseiten) … Ueber ihrer Thür stand:


O Libori, o Antoni, zwei Gefäß der Heiligkeit,

Daß wir müssen euch begrüßen, heißet uns die Schuldigkeit!

O Libori, o Antoni, steht uns bei am letzten End',

Daß nicht sterben und verderben! Führet uns in Jesu Händ'!


Welches ist Armgart's »Beginnen«? … Wir können vorläufig nur sagen: Noch mehr, als sie schon sonst war, ist sie Grüblerin geworden. Stundenlang konnten ihre braunen Augen in die innersten Wände ihrer kleinen, ahnungsvollen Gedankenwelt zurückschauen. Stundenlang[5] konnte sie ihre bekannten weißen Vorderzähnchen ohne Bedeckung der schmerzlichverzogenen Lippen lassen, wenn sie über etwas grübelte, was ihr seltsam schien. Und was erschien ihr nicht seltsam! Noch jetzt, wenn von der Erblassenschaft der Dorste'schen Besitzungen, von dem Grafen Joseph, ihrer geliebten Paula Vater, als von dem Erblasser die Rede war, konnte sie sich fragen, ob denn dies schmerzliche Wort nicht eigentlich zu sprechen wäre: Er – blasser und den im Tode tief Erblassenden, leichenweiß erbleichenden edeln alten Herrn bezeichnen sollte? Eine Erbskette nahm sie noch jetzt für eine Kette, die man von geliebten Personen, etwa einer theuern Mutter, erbt, nicht als Kette von Kügelchen, so groß wie Erbsen. Wenn der Onkel Levinus Abends nach dem Nachtessen in Schloß Westerhof vom Untergang der westfälischen Herrschaft und von Napoleon's Sturz in Rußland sprach und die Schlacht bei Mosaisk erwähnte, träumte und grübelte sie, wie doch nur mit dieser Begebenheit das zuweilen in Kunstgesprächen und bei schönen römischen Brochen vorgekommene ahnungsvoll poetische Wort Mosaik zusammenhängen könnte. O, schon das achtjährige Kind ließ sich nicht nehmen, daß in dem auf dem Finkenhof, einem Wirthshause in der Nähe zuweilen gesungenen Liede: »Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht!« keine Lampe, mit der ja ohnehin kein Mensch springen würde, sondern ein springend erhitztes Lämmchen gemeint wäre. Zwölfjährig schon, wo sie noch nicht ahnte, daß sie selbst einst in Lindenwerth wohnen würde, auf das jene Ritter-Toggenburg's-Sage vom angestarrten Fenster der Geliebten in Wahrheit[6] einst gegangen sein soll, sprach sie Schiller's, aus einem Schulbuch ihr bekannt gewordenes Gedicht: »Ritter, treue Schwesterliebe widmet euch dies Herz!« nie anders, als: »Rittertreue, Schwesterliebe –!« Drückte doch beides das ihr Schönste und Herrlichste im Leben aus: Ritterliche Treue und schwesterliche Liebe.

Drei Wochen darauf wurde dann endlich wirklich der Teppich geweiht. Das war ein festlicher, hoch katholischer Sonntag! … Hier in viel rauherer Gegend, als in der Residenz des Kirchenfürsten, war es zwar schon vollständiger Winter und der Schnee lag fußhoch und darunter hatte kurz vor seinem Fallen etwas Frost alles Flach- und Hügelland mit seinen Walleinschnitten und Hecken gehärtet und gefestet … Jetzt erst recht zeigte sich die Isolirung, die hier den Charakter des Zusammenwohnens bildet … Der Bauer auf seinem Kamp, der Junker auf seinem Hof schließt sich ab, wie wenn dies Land, gleichfalls nach Benno's früherer Aeußerung, ein Meer wäre und seine Wohnungen Inseln oder Schiffe … Ringsum hat jeder bei sich in nächster Nähe gleich, was er bedarf. Selbst im Bauernhause liegen sogleich mit der Viehstall und der Backofen. Den Wald opferte man nicht ganz, sondern behielt eine gute Strecke davon als Grenzmarke der Aecker. Nirgendwo findet man hier die langen Ackerfeldfurchen, die in unübersehbarer Einförmigkeit nur von vollständigen Dörfern abgelöst werden. Hier ist das Dorf aufgelöst in Höfe, die auch jetzt im Schnee, der scheinbar alles nivellirt, an den rauchenden Schornsteinen sichtbar sind. Man glaubt eine unterm Schnee nach allen Orten hin sich öffnende unabsehbare Kraterwelt zu erblicken. Gegen[7] Osten hin ragen einige alte Thürme auf, wie wenn sich eine Citadelle dort erhöbe. Das ist Schloß Westerhof. Gegen Süden zu zeigt ein ganz buckelig geschnörkelter, mit Schiefer belegter Thurm (was man heraussehen kann, da der Schnee nicht von allen Seiten an den Rundungen festhielt) das Stift Heiligenkreuz. Und inmitten dieser großen Rundsicht, welche Berge, Wälder, Seen, die Witobach, an der das thurmreiche Witoborn liegt, mehr ahnen, als deutlich unterscheiden läßt, liegt dann am Fuße einer kleinen Anhöhe die alte einst byzantinisch angelegte, jetzt höchst zopfig überbaute Kirche von grünlichem Sandstein Sanct-Libori. In nächster Nähe gehört dazu ein Stückchen Wald, der nur die Einfriedigung eines Kamps ist, dessen Inneres zwei stattliche moderne Häuser bilden, das des Pfarrers und das des Schullehrers von Westerhof … Aber diese ganze Winterlandschaft ist heute belebt, wie im erwachenden Frühling! Sieben bis acht Schlitten stehen unten vor dem Kalvarienberg des Aufgangs, davor schellenklingelnde Rosse mit langen fliegenden Decken … Die putzigen Türkenköpfe auf den Schnäbeln der Schlitten gafft die Jugend von drei Meilen in der Runde an. Dazwischen die Bauern und die »Kötter« und die Knechte in Pelzkappen; die Frauen trotz der Kälte in all den wunderlichen Hauben und fliegenden Aufsätzen, die der Tracht jener Gegend eigen sind; die alten Mütterchen mit großen weißen Krägen, die sie halb den so sehnlichst vom Adel erwarteten Barmherzigen Schwestern ähnlich machten; in der Hand der reichen Bäuerinnen ein goldgeschnittenes Gebetbuch, ein Rosenkranz am Gürtel, auf der Brust eine Ringelkette von vergoldeten Medaillen …[8]

Die Weihe ist endlich vorüber … In den Schnee hineinblickend mußte die sich zerstreuende Gemeinde nur bunte Flecken sehen, wie wenn man in die Sonne geschaut, so prächtig war der Teppich gewesen, der vorm Hochaltar hoch an rothen Stangen mit Goldtroddeln geprangt hatte. Er leuchtete wie der Widerschein eines Fensters im Mailänder Dom. Violett und gelb und blau und rubinroth strahlten die bunten Gewebe und namentlich wurde der Pfau des heiligen Liborius von einem auch dazu gerade hervorblitzenden Sonnenlichtsschimmer prächtig erleuchtet. Norbert Müllenhoff predigte in seiner jungkatholischen Weise. Wieder knüpfte er an Caspar Melchior Balthasar an und sagte, die wilden Thiere des Teppichs da, die wären auch in dem Land heimisch, von wannen jene Morgenlandskönige gekommen. Dann schilderte er diese Morgenlandskönige gelegentlich im Gegensatz zu den Abendlandskönigen. Jene waren theilweise, sagte er, schwarz von außen, diese sind nicht selten schwarz von innen. Jene brachten dem Heiland köstliche Geschenke, diese beraubten nicht selten den Heiland noch und bestöhlen ihn und plünderten ihm das Stroh aus seiner dürftigen armen Krippe, der Kirche. Jene hätten sich auf einen einzigen Stern am Himmel verlassen, diese ertheilten Hunderte von Sternen auf die Brust ihrer Schmeichler und gingen dennoch in der Irre. Dann sagte der Redner: Auch der Pfau, der den heiligen Liborius geleitet hätte, wäre ein solcher himmlischer Stern gewesen! Man sollte doch nur Hinblicken auf sein geschwungenes Rad! Wie das in ihm von Licht und Farbe funkelte! Zwölf Augen säßen in dem Rand des Rades und hätten gewacht über[9] den Weg, den der Heilige damals durch die Heiden hindurch hätte nehmen müssen, um gerade hieher nach Westerhof zu kommen, wohin ihn seine ganze Sehnsucht zog! Jetzt müßte freilich die Kirche, um wie dieser Heilige durch alles noch herrschende Heidenthum hindurchzukommen, viel kleinere und bescheidenere Vögel zu Führern wählen, leider – vor allem nur die schüchterne Taube. Glücklicherweise wäre diese aber denn auch nichts Kleineres, als eben der Heilige Geist selbst. Und so wollten auch sie, zaghaft und schüchtern, die gute Sache des ewigen Gottes und seiner Heiligen in dieser Welt der Gewalt vertreten, wollten flicken an den Schäden, so gut es ginge mit Menschenkraft, wollten die Kirche ausbauen, wo sie allzu schadhaft würde; denn die Kirche Gottes, sagte er mit einem jetzt etwas sonderbar blinzelnden Blick auf den Dorste'schen Kirchenstuhl auf dem Chore ihm gerade gegenüber, die ist nicht byzantinisch, nicht gothisch, nicht Renaissance, nicht Rococo gebaut, sondern einfach blos – felsenfest! Das hat Sanct-Paulus bereits den Korinthern anzuhören gegeben, fuhr er fort, die sich auf ihre Säulenknaufe und Säulenordnungen bekanntlich so viel eingebildet! Warum würde sonst Sanct-Paulus gerade in der zweiten Epistel an die Korinther Kapitel 5 über das wahre christliche Bauwesen seine Meinung abgegeben haben?

Aufrichtig gestanden, diese Bemerkungen des Pfarrers waren Anzüglichkeiten. Aber man war dergleichen an dem jungen, frischen, noch ganz studentisch aussehenden Mann von etwa dreißig Jahren in der Gegend schon gewohnt. In dem gräflichen Stuhl im Emporchor verstand man sehr wohl, was gemeint war mit dem Blick auf Terschka,[10] auf Levinus von Hülleshoven, Armgart's Onkel, der die Dorste'schen Güter verwaltete …

Und trotz des feierlichen Tages, war das erste Wort, das Norbert Müllenhoff nun in der Sakristei, mit beiden Armen sich zum Erwärmen auf die Schultern schlagend, sprach:

Nein hier eine wahre Hundskälte das!

Zähneklappernd trat er an einen in der Sakristei stehenden eisernen Ofen, der auf drei Schritte allerdings eine Glühhitze verbreitete, aber nicht den übrigen Raum erwärmte. Das Rohr entließ den Dampf durch eines der großen Rundfenster …

Ich sagt' es ja gleich, Herr Pfarrer! Die neue Thür, die Sie durchaus durchgebrochen haben wollten – begann der alte Meßner Tübbicke, Vater des maître- tailleur …

Schweigen Sie! sagte der Geistliche und entkleidete sich …

Der Meßner war ein alter hagerer Mann mit einer rothen Flachsperrüke. In seinem langen rothen Rock sah er selbst wie einer der auf den Dörfern wandelnden heiligen drei Könige aus, die mit ihrem: Wir sind die Könige aus Morgenland, ho, je! an den Thüren bettelten. Auch eine Art Scepter hatte er in der Hand, die lange Lichtputze, mit der er in der sich nun entleerenden Kirche die Altarkerzen auslöschen wollte …

Wirklich, Herr Pfarrer, diese neue Thür, die sonst nicht da war – begann Tübbicke aufs neue …

Wollen Sie wol schweigen! wiederholte Müllenhoff aufstampfend und zog sich seine Meßkleider aus. Ein[11] für allemal, Tübbicke, rief er dem Alten nach, wenn ich vom Allerheiligsten komme oder von der Kanzel herab, so sollen Sie mich nicht eher anreden, bis ich Sie gefragt habe!

Gut, gut, gut! antwortete der Alte brummend und kopfschüttelnd über seinen neuen Vorgesetzten … der für sich weniger maliciös, als sozusagen eher burschikos fortbrummte:

Diese Sucht von den Meßnern, überall mit uns umzugehen, als wenn der ganze Gottesdienst ein bloßer Spaß gewesen wäre! Schon wie die Barbiere kommen sie des Morgens zu Gott und kramen in der Sakristei ihre Neuigkeiten aus!

Nun pfiff sich sogar Müllenhoff eine leichte Weise und genoß im Stillen seinen Triumph, in die Predigt hinein eine Rüge des gräflichen Bauwesens eingeflochten zu haben …

Tübbicke kam zurück …

Tübbicke! sagte der Pfarrer, etwas versöhnlicher gestimmt. Daß wir uns so wenig verstehen!

Sechsundsiebzig! war die Antwort …

Ja, Tübbicke, Sie sollten sich einen Beistand halten! Wenn Ihr Sohn nicht in Witoborn maître-tailleur wäre – Schande, Schande auch über diese neubackene Aefferei!

Ei, mein Sohn war in Paris, Herr Pfarrer!

Deshalb will er kein deutscher Ziegenbock mehr sein? Es ist ja wahr! Er trägt einen Bart, der Kerl, so lang wie ein Kameel!

Herr Pfarrer, junge Leute –

Vierzig Jahre alt ist der communistische Mucker![12] Tübbicke, Tübbicke! Ich höre, daß Ihr maître-tailleur auf dem Finkenhof verkehrt! Ich sage Ihnen, rathen Sie ihm Gutes! Der Finkenhof und alles, was wir hierorts von Sodom und Gomorrha noch im Nest haben, hat an mir einen schlimmen Aufpasser! Warten Sie ab! Sitzt auch noch der Kirchenfürst in Ketten und Banden, der Sieg ist unser! Wir haben unsere Kraft fühlen gelernt! Nun muß es von Grund aus in Deutschland anders werden. Jetzt zumal, wo hier auch bald eine luthersche Herrschaft commandiren soll …

Na, ich denke doch, sagte Tübbicke, der Herr Archipresbyter wird an uns beiden seine Freude haben, Herr Pfarrer!

Bald darauf hielt denn auch wirklich der Archipresbyter Bonaventura von Asselyn das Hochamt zu Sanct-Libori und Müllenhoff administrirte dabei nur und mußte sich dem Domherrn unterordnen. Es war ein Fest für die ganze Gegend, wieder die Kirche überfüllt, der Eindruck einer nie so würdig celebrirten Messe, wie vorauszusehen, der heiligste. Auch Bonaventura's spätere Rede zündete. Man hatte hier nie so schön vom Thema der Zeichen und Wunder sprechen hören. Wenn das Wesen der Zeichen und Wunder, hatte der Priester im weißgoldenen Gewande gesagt, schwer zu deuten wäre, so wisse man doch Eines ganz bestimmt, was zu ihnen gehöre: Liebe. »Die Menschen müßten sich gegenseitig erst etwas werth sein, wenn sie sich zu Propheten und Aerzten werden könnten.« Der Redner vermied die ihm gegenübersitzende Paula[13] zu bezeichnen, aber man gedachte nur ihrer. Er übertrug das Uebersinnliche in diejenige Seite der Natur, die uns offen und enthüllt vorliege und zugleich ihre heiligste und höchste wäre, in die Seele, in das Gefühl … Der Text des Sonntagsevangeliums Quinquagesimä: »Jesus weissagt sein Leiden« gab die Veranlassung zu diesem Thema, das Bonaventura sonst wol vermieden hätte. Er mußte darüber predigen. Er sagte, wir wüßten alle selbst unser künftiges Schicksal, wenn wir uns nur mehr gewöhnten in Gott zu leben, d.h. auf die innere Stimme in uns selbst zu hören.

Auch nach diesem ersten Gottesdienste und während Bonaventura (wie sich wol denken läßt) tief schweigsam und von seinen neuen Eindrücken erschüttert in der Sakristei sich entkleidete und ringsum die Bevölkerung aufgeregt, urtheilend, vergleichend, erwartungsvoll sich zerstreute, polterte Müllenhoff, der gewissermaßen nur Bonaventura's Vicar war, wieder über die baulichen Grillen des Barons Levinus …

Für sein chemisches Laboratorium weiß er nicht genug Geld auszugeben! sagte er. Ja, Herr von Asselyn, melden Sie ihm das! Diese Thür hier muß neu gebaut werden! Es ist wahr, ich habe sie verlangt, aber sehen Sie nur, wie der Schnee hereinfegt! Eine Doppelthür muß es sein! Und überhaupt, was hoff' ich nicht alles von Ihnen!

Bonaventura verstand kaum etwas von Tübbicke's dienstgefälliger Erläuterung … Früher war die Sakristei ohne eigenen Eingang gewesen. Der Pfarrer mußte durch die Kirche gehen. Müllenhoff hatte erst eine Thür[14] durchbrechen lassen. Nun lag sie ihm doch dem Wind und dem Wetter zu offen ausgesetzt …

Als noch der Eingang durchs Schiff war, hat hier ein Cardinal celebrirt –! äußerte Tübbicke …

Schweigen Sie! bedeutete Norbert und reichte dem Domherrn eine Prise …

Tübbicke ging auch heute wieder in die Kirche, um die Lichter zu löschen …

Müllenhoff sprach hinter ihm her:

Nicht wahr, der Meinung sind Sie doch auch, Domherr? Malt muß das Reinigen der Kirche mit dem Nächsten anfangen, was nur unser Kehrbesen trifft! Dieser Tübbicke ist wie die Meßner sämmtlich sind! Ich sagte ihm schon neulich: Tübbicke, sitzt das Wachs noch nächsten Freitag an den Leuchtern auf der Epistelseite, so nehm' ich mit eigner Hand vor dem Introito ein Tuch und putze die heiligen Gefäße selbst vor der ganzen Gemeinde rein!

Bonaventura, in tiefen Gedanken, lächelte und sprach:

Dann können Sie ja mit dem Apostel sagen: Es sind Gefäße des Zorns!

Bonaventura sah am alten Tübbicke, er hatte die gewöhnliche Krankheit der Kirchendiener (wie auch Lucindens Vater als Schulmeister), sich mit dem lieben Gott auf einem ganz besonders kameradschaftlichen Fuße zu wissen. Auch Tübbicke war wie ein alter guter Kammerdiener der Heiligen. Die Livree der Mutter Gottes trug er, wie wenn er die hohe Frau einst als Kind auf seinen Knieen geschaukelt hätte. Christus war ihm fast wie der »junge Herr« in seiner Himmelsfamilie[15] und die wechselnden Geistlichen waren ihm nur neuangeworbene Hofmeister, die manches gar nicht in der Weise verstanden, wie die Tradition des hochgräflich himmlischen Hofstaats es mit sich brachte. Das war nun gerade der Anstoß, den Müllenhoff nahm. Ich glaube, Sie dünken sich wol einen Liturgiker, hatte er dem Alten gleich nach seiner ersten Messe gesagt, als dieser ihm bemerken wollte, daß seit neun Jahrhunderten in der Liborikirche die Communicanten erst dann knieeten, wenn sie an die Communicantenbank kämen, vorher dürften sie stehen. Nach Müllenhoff mußten sie gleich knieen und zwar utroque genu! wie er donnerte. Und von dem Tage an, wo Tübbicke sich bei wiederholter Anfechtung seiner alten Art, die Gläubigen zu ordnen und zu scharen und bei erneuetem Rufe: Utroque genu! die Bemerkung erlaubt hatte: Na, Herr Pfarrer, Sie werden sehen, daß die Bauern sich beklagen, weil die Jungens auf die Art zu viel Hosen zerreißen! da war offene Fehde zwischen beiden. Tübbicke vertheidigte das alte Herkommen und die Schwäche aller Creatur, Müllenhoff aber das Gesetz, den hochheiligsten Buchstaben und die neukatholische Reform.

Bonaventura mußte zuletzt sogar des erneuerten Streites lachen. Als wenn Tübbicke alle gegen ihn in seiner Abwesenheit erhobenen Anklagen gehört hätte, brachte er den Leuchter, den er gereinigt hatte, zeigte ihn stumm seinem Vorgesetzten, drehte ihn vor den Augen desselben rundum und schloß ihn ebenso schweigsam in einen Schrank.

Müllenhoff hatte darauf seinen langen wattirten[16] Winterrock angezogen und den Hut aufgesetzt … Einen Stock, den er sonst trug, hatte er sich vor seinem Dechanten geloben müssen abzulegen, weil schon vorgekommen war, daß er bei Vorwürfen, die er zufällig ihm im Felde Begegnenden machte, ihn zur Unterstützung benutzte. Bonaventura hüllte sich in einen Pelz. Auf ihn wartete ein Schlitten, der ihn nach Schloß Westerhof bringen sollte, wo er täglich zu Mittag speiste.

Als Tübbicke die neue Thür aufschloß und den Schnee wegstieß, bat Müllenhoff seinen Vorgesetzten:

Herr von Asselyn! Noch eins! Erinnern Sie doch den Herrn Baron von Hülleshoven, daß ich auch meinen eigenen Eingang haben muß in die Hofkapelle auf dem Schloß!

Herr Domherr, ein Eingang ist in die Hofkapelle, erläuterte Tübbicke; aber er führt durch andere, verschlossene und höchst wichtige Zimmer –

Ein durchbohrend strafender Blick Müllenhoff's verwies ihn zum Schweigen …

Ich will die Schlüssel zu diesen Zimmern haben! sagte er zu Bonaventura mit scharfer Bestimmtheit.

Herr Pfarrer, dieser Eingang führt erst durch die Bibliothek und durch das Archiv! Der Baron hat ja nichts davon hören wollen …

Müllenhoff beherrschte sich …

Ich will, sprach er wie mit einem Märtyrerblick auf Tübbicke und jedes Wort betonend, ich will auch in die Sakristei der Schloßkirche meinen eigenen Eingang haben! Wenn dieser durch das Archiv führt, so gebührt mir um so mehr ein Schlüssel zu demselben, als die Urkunden[17] und Kirchenbücher der Pastorei gleichfalls in demselben aufbewahrt werden!

Der Patron ist, soviel ich weiß, dafür verantwortlich! sagte Bonaventura.

Seit neun Jahrhunderten! setzte Tübbicke hinzu …

Schweigen Sie! brach Müllenhoff jetzt aus – mit kindlich gemäßigter Stimme aber, als fürchtete er, zum blutdürstigen Tiger zu werden, fuhr er zu Bonaventura gewandt fort:

Ich bitte, Herr von Asselyn! Es ist mir nicht angenehm, in meiner bürgerlichen Tracht erst durch die Kirche zu gehen und dann hinterm Altar erst Toilette zu machen. Ich will, daß die Gemeinde, auch selbst die vornehmste, mich gleich nur in meinen Priestergewändern sieht. Der Schlüssel zum Archiv soll von mir wie ein Heiligthum verwahrt werden.

Bonaventura setzte sich mit dem Versprechen in den Schlitten, die Sache nach Wunsch zu ordnen, wenn es irgend thunlich wäre … Noch standen Menschen draußen, die den so lange Erwarteten noch einmal sehen wollten … Mit einem Blick des Neides sah ihm Müllenhoff nach, als er von dannen fuhr, und verwies die Umstehenden, sich nun nicht länger aufzuhalten.

Norbert Müllenhoff war ein noch zelotischerer Geistlicher als Beda Hunnius. Dieser hatte in seinem reformatorischen Wirken doch nur die Lehre und den Kampf mit der Protestantischen Welt vor Augen, jener gehörte schon ganz den jungen Geistlichen der Michahelles'schen Richtung an, die in Allem eine Wiederherstellung des alten kirchlichen Lebens wagten und die Axt nicht blos an die Zweige, sondern[18] an die Wurzel selbst legen wollten. Norbert Müllenhoff war ein Priester im Geist des Kirchenfürsten. Ein Bauernsohn, zeigte er die ganze Kraft, Energie und Selbstgenüge, wie sie hier zu Lande den Nachkommen der alten Sachsen eigen ist. Sein Aeußeres drückte einen ursprünglichen Beruf zur Thätigkeit, zum Krieger, Geschäftsmann, Arbeiter auf einem Felde des muthigen Bewährens aus; aber trotz seiner gewölbten Brust, seiner Stimme wie ein Löwe, war er zum Geistlichen bestimmt worden, wie bei diesen Bauern Sitte ist, die selbst bei Vermögen nicht unterlassen können, eines ihrer Kinder der Kirche zu weihen. Zwar machte Norbert den ganzen Weg, der in diesem Falle Herkommen ist, durch Stipendien, Freitische, Freibücher, Freiwohnungen hindurch, nahm dies aber alles wie etwas, was sich von selbst verstand. Die Priesterweihe gibt einer solchen Natur ein Bewußtsein, als wäre sie gefeit gegen alle Anfechtung der Welt. Aus diesem levitischen Stolz heraus fing die Zeit überall an ihre Kirchenreformen zu befördern. Aus den jesuitisch geleiteten Seminaren kommen die jüngern Geistlichen wie endlich losgelassene junge Streitstiere. Sie bohren die Erde auf mit ihren Hörnern, rennen im Kreise rundum und scheuen den Kampf mit Königen und Kaisern nicht. Leider gehören zu denen, vor denen sie keine Furcht haben, auch die Könige und Kaiser des Denkens und der Wissenschaft. Norbert Müllenhoff war als Vicar in einem Walddorf des Gebirges, dann als Vicar in Witoborn, jetzt hier als Pfarrer zu Sanct-Libori, wie Beda Hunnius, nicht nur im Stande, von einer »hundsföttischen Art« zu sprechen, den lieben Herr Gott beim Benetzen[19] der Brust mit Weihwasser um das Symbol des eigenen demüthigen Kreuztragens zu »betrügen«, indem man nur zwei »zimpferliche, schandbare Pünktchen« machte, statt sich das ewige »Stigma des Heils« und »die Signatur der Erlösung« mit zwei »gründlichen Querbalken« auf die Brust zu drücken … er verwarf Poesie und alle Zauber der Bildung. Er verwünschte »die Niedertracht der Sentimentalität«, sprach von einem nur um unserer gnadenreichen Gottesmutter willen zu duldenden »Weibsvolk«, donnerte gegen den »vornehmen Kirchenpöbel«, der während der Messe nicht knieen wollte oder, wenn er knieete, nur so eine leise Andeutung machte, als wäre »Gott eine Excellenz oder eine Durchlaucht«, vor der eine höfliche Verneigung genüge. »O diese kniesteifen Heiden!« rief er dann wol, wieder zu den Bauern zurücklenkend, aus; »man sollte sie nur sehen, wenn sie Kegel schieben und dabei die Beine wie mit Oel geschmiert ausgrätschen können – daß dich! – als hätten sie's von den Possenreißern gelernt auf dem Liborimarkt zu Witoborn!« Sanft und lieblich und wie mit Lerchentrillern aufsteigend schilderte er dann wieder ein wahrhaft frommes Leben, das alle Ceremonien wie ein gutgeartetes Kind mitmachte; aber gleich schlug er wieder mit Hämmern drein, wenn es »klapperdürren Vorurtheilen« galt oder »fadenscheinigem Tagesruhm«. Wie der heilige Augustinus sagte er: »Die Menschen lieb' ich, aber ihre Irrthümer schlag' ich todt!« – eine Procedur, gegen welche selbst Onkel Levinus im Abendgespräch auf Schloß Westerhof geltend machte, daß der Herr Pfarrer auf die Art denn doch wol auch manchmal in die[20] Lage jenes Bären kommen könnte, der auf der Stirn seines schlummernden Herrn die störende Fliege mit einem schweren Steine und somit ihn selbst erschlug.

Müssen Sie sich denn ewig in alles mischen? fuhr jetzt Müllenhoff heraus zu dem im Schnee hinter ihm hertrottenden Alten, der mit ihm in einem und demselben Hause wohnte …

Es würde, da Tübbicke zu erwidern liebte, unfehlbar zu lebhafterer Discussion gekommen sein, wenn nicht eben aus den kahlen, schneegepuderten Gebüschen jemand herausgetreten wäre, der, halb dem davonfliegenden Schlitten nachschielend, halb die Ankommenden und auf das Pfarrhaus Zugehenden höflich begrüßend, mit scheuer Unterwürfigkeit einen Brief in die Höhe gehalten hätte, den sofort der Pfarrer ergriff …

Der Fremde sprach mit etwas fremdartigem Accent:

Erlaubnis, Herr –!

Er deutete auf den Alten, dem der Brief bestimmt war …

Müllenhoff las die Aufschrift und gab den Brief an Tübbicke …

Er musterte schon den Fremden von oben bis unten …

Von Ihrem Herrn Sohn – in Witoborn – wenn ich die Ehre habe – Herrn Tübbicke –? sprach dieser mit einer eigenthümlichen Betonung …

Müllenhoff ging weiter und murmelte:

Aha! Vom maître-tailleur –!

Auch die andern schritten, sich ihm anschließend, dein Pfarrhause zu und der Meßner suchte mit den Worten:[21] Von meinem Sohn? Was ist denn nur? Was soll es denn? eifrigst nach seiner Brille …

Ich werde lesen! wandte sich Müllenhoff und erbot sich, den Inhalt mitzutheilen, da Tübbicke nicht sofort die Brille finden konnte …

Bitte, Herr Pfarrer – sagte dieser zögernd …

Einige Raben krächzten, flogen auf und schüttelten den Schnee von den Zweigen, auf denen sie gesessen hatten, und gerade auf den Brief …

»Liber Vater!« las schon Müllenhoff und unterbrach sich sofort: Schreibt der Kerl »Lieber« ohne E! – »Lieber Vater! Dieser überbringer« – »Ueberbringer« klein! – »ist ein guter Freund zu mir!« – »Zu mir«! Das ist wol ein Ueberbleibsel aus Paris? – »Es ist ein gelernter Friseur« – Sieh! Sieh! Das Wort schreibt er richtig! – »und sucht ein Enkagement« – Heidengugguck! Der Franzos! – »wo möglich bei großen herrschaften als Bedienter« – Klein die »Herrschaften«, obgleich er sie »groß« nennt; Bedienter groß! Reiner Communismus! – »Lieber vater« – Sanct-Libori! Was ist hier das Schulwesen vernachlässigt! – »Könnten Sie es machen, so recom – man –« – Brich dir den Hals nicht! – »tiren Sie ihn auf das Schloß« – als La – La – Lagay! … Geyer! Als Lakai! … »Tante Schmeling« – Aha! »Läßt grüßen und sorgen Sie doch bei Dem – Sie wissen schon von wegen!« – Das bin ich? – »Fanchon ist recht krank, wenn's nur nichts auf sich hat« – Wer ist Fanchon? Eine Hündin, die geworfen hat – von wegen der Schmeling –?[22]

Jesus Maria! rief der Alte. Mein Enkelchen!

Ist Fanchon krank? – wandte er sich zu dem Ueberbringer …

Dieser war theils mit gespanntester Aufmerksamkeit der Vorlesung des Briefes, theils den Zwischenreden des gestrengen Herrn Pfarrers gefolgt und fand sich nicht sogleich zurecht …

Mein Herzblättchen?! Steht denn nichts weiter im Briefe, Herr Pfarrer? … rief Tübbicke …

Fanchon! Fanchon! Hat den Namen hier ein christlicher Pfarrer gegeben?

Franziska! Herr Pfarrer! Das Kind ist mein Augapfel!

Der Fremde, der einen wassergrünen Winterrock von langhaarigem Flaus trug, eine tief in die Augen gedrückte Pelzkappe, einen rothen Shawl um den Hals geschlungen, Pelzhandschuhe und Filzüberschuhe an den Füßen, gab die Auskunft, daß er eigentlich auf einer Reise nach Polen begriffen wäre, aber gern auch hier bleiben würde, wenn er Condition finden könnte – Herr Tübbicke wäre eine alte Bekanntschaft von ihm aus Paris – er hätte ihm seine Fürsprache empfohlen für die Herrschaft auf dem Schlosse – er könne »frisir«, spräche französisch, könne auch Pferde »dressir'« – Fanchon hätte sich erkältet, läge im Bette – aber Madame Schmeling hätte gesagt, daß es nichts auf sich hätte …

Doctert die also auch, die holdwertheste! ließ Müllenhoff einfallen …

Schon war er weiter voraus, während der alte Tübbicke seinem Schutzbefohlenen still die Schulter klopfte[23] und das Seinige zu thun versprach, ihn auf dem Schlosse zu empfehlen …

Frau Schmeling aber war eine Landhebamme, mit der Müllenhoff gleichfalls im offenen Kriege lebte. Die Frau war an sich die Religiosität selbst. Sie vertheilte Bilder, Amulette und Rosenkränze zur Unterstützung aller der Zustände, die auf ihre Hülfe angewiesen waren; sie rieth jedem, zur heiligen Barbara zu beten während eines Gewitters, zu Sanct-Florian und Sanct-Antonius gegen Feuer, zu Antonius II. gegen Wasser, zum heiligen Dionysius gegen Kopfschmerzen, zum heiligen Blasius gegen steifen Hals, zur heiligen Lucia gegen Augenleiden, zur heiligen Palonia gegen Zahnschmerzen, zum heiligen Dominicus gegen Fiebersfrost, zum heiligen Rochus gegen die Cholera, und ihre Kreißenden und ihre Gebärenden hatten als zwei ihr immer assistirende Hebärzte im Himmel den heiligen Ramon und den heiligen Lazarus, aller der Marienbilder nicht zu gedenken, die unter jenem alten Gemäuer, in dieser alten blitzzerschlagenen Eiche, da und dort eine traditionelle Kraft für die wichtigsten Vorkommnisse im Frauenleben hatten und durch ein »gestiftetes« Lichtchen gerade ebenso zu sympathetischen Curen gebraucht wurden, wie die in Schiller und Goethe lebende Bildung sich manchmal auch mit Sympathie die Rose vertreiben läßt. Alles, was nur zum christlichen Heidenthume gehörte, war in üppigster Blüte bei Frau Schmeling und todt zu schlagen hätte sie angerathen jeden Ketzer, der bei einer Procession vor dem hochwürdigsten Gute nicht wenigstens den Hut abgenommen. Aber über alle diese Dämmerungszustände[24] fehlte der Frau, wie der ganzen Bevölkerung, das theoretische, klare, formelle Bewußtsein. Sie meinte, trotz aller Aves und Rosenkränze ließe sich die Lust am Leben lieben. Die jungen Bursche hier ringsum, stattlichen Aussehens, waren drei Jahre im Kriegsheere gewesen und brachten fröhliche Welt, Leben und Lebenlassen heim. Nun sollten auf Müllenhoff's und vieler hoher Herrschaften Betrieb ein Jünglingsbund und ein Jungfrauenbund gestiftet werden und sich alles verpflichten, nicht zu fluchen, nicht zu trinken, nicht zu tanzen und besonders den Finkenhof nicht mehr zu besuchen. Da war Frau Schmeling eine Gegnerin des eifernden Pfarrers geworden. Ohne den Finkenhof gibt es keine Geburten mehr! fuhr sie Müllenhoff an, als sie gelegentlich von einer Nothtaufe, die sie verrichtet hatte an einem sterbenden Kinde, Bericht erstattete und mit aufrichtiger Beredsamkeit auseinandersetzte, daß die Musikanten auch Menschen wären und auch etwas verdienen müßten. Ja sie ließ sich bei ihren sechzig Jahren nicht von dem jungen Pfarrer abkanzeln und mit »sittenlosem Weibsbild« tractiren. Sie sagte, daß es Familienväter genug gäbe, die ihren Söhnen lieber statt Taschengeld die Erlaubniß ertheilten, sich's im Kegelspiel selbst zu verdienen, genug Familienmütter, die mit sechs bis sieben stattlichen Töchtern gesegnet wären und den Tanzboden für die beste Gelegenheit halten müßten, sie loszuwerden … Von dieser Frau konnte Müllenhoff nichts hören, ohne im höchsten Grade gereizt zu werden.

Er war noch nicht in sein Studirzimmer getreten, als der alte Tübbicke schon mit einer der Mägde, die[25] für ihn und den Pfarrer sorgten, darüber einverstanden war, daß der Freund seines Sohnes vorläufig gleich zu Mittag bleiben sollte …

Müllenhoff fand Briefschaften vor und ließ den Ankömmling außer Acht …

Es war dies aber ein williger Mann, dieser Herr Dionysius Schneid aus Strasburg, der sich jeder Arbeit unterzog. Einen Beistand bedurften der alte Tübbicke und die Kathrein; der Domherr wohnte nicht auf dem Schloß, sondern hier in seinem geistlichen Hause von Sanct-Libori oben im ersten Stock; zu den jetzt doppelt nothwendigen Hülfsleistungen fehlten die Hände … Aber war auch der Herr Dionysius Schneid schon etwas steif und schwerfällig, so war er doch keineswegs unbrauchbar, ob im Stall des Schlosses für die Pferde oder im Hausdienst zum Spalten des Holzes oder zur Hülfe in der Küche oder selbst zur Pflege einer herrschaftlichen Garderobe – ja er wurde zuletzt auf das Schloß empfohlen und dort wirklich angenommen.

Wenn auch für Westerhof große Veränderungen bevorstanden, an Leben und Bewegung fehlte es nicht, und besonders da gerade jetzt, an demselben Sonntage, nach der Heimfahrt von der Kirche, alle Herrschaften, die in der Kirche gewesen waren, von der wenn auch nicht überraschenden, doch gerade für Schloß Westerhof nicht bedeutungslosen Nachricht empfangen wurden, daß in verwichener Nacht der Onkel der Comtesse Paula, der Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof, gestorben war.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 5, Leipzig 1859, S. 3-26.
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