4.

[87] Dies Vorcabinet war ein Neubau, der eine frühere Unterbrechung der Wohn- und Schlafzimmer durch einen Gang verhinderte und verdeckte. Von einem obern Zimmer hatte es ein durch gedämpftes Glas hereinfallendes Kuppellicht …

Das Schlafzimmer daneben war fast dunkel, aber die dunkeln Schatten leuchteten bunt. An den Fenstern prangten praktikable bunte Läden von bleigefügten, schön zusammengestellten alten Kirchenfenstertrümmern …

Es sah hier aus wie der Eingang in eine Kapelle …

In dem Vorcabinet, beschienen von dem matten Kuppellicht, lag Paula, völlig angekleidet auf einem Ruhebett … Die Haare glänzten golden … Ihre Augen waren geschlossen, ihre Blicke lächelten … Armgart stand zu Paula's Häupten, selbst geisterhaft wie eine Botin aus jenem Traumreich, von dem einst der griechische Sänger sagte, es hätte zwei Ausgangspforten, eine von Elfenbein, aus dieser kämen die unwahren Träume, eine von Horn, aus dieser kämen die zutreffenden … Die Tante hielt Paula's Hände …

Thiebold wagte nicht einzutreten, zog sich aber auch[88] nicht zurück und winkte vielmehr dem Doctor, der so kreideweiß war, wie seine Halsbinde …

Deutlich hörte man die langsam und hellgesprochenen Worte:

O die liebe, liebe, liebe Sonne! … Wie glitzert das im Schnee … Ein Brillant auf jeder Tannenspitze … Ach, ach! … Das ist ein Schatz – im Düsternbrook …

Im Düsternbrook?

Püttmeyer glaubte, die Seherin wäre in dem Reiche der ewigen Kreise, Tangenten und Sekanten – Der Düsternbrook lag nur drei Meilen von hier …

St! sagte aber Thiebold schon, nur auf eine Ahnung hin, Püttmeyer könnte sich erläuternd oder anzweifelnd bewegen …

Püttmeyer schluckte nur seine Angst hinunter und hielt sich an einen Stuhl, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren …

Nun kommen sie! fuhr die Träumende fort … Wie sie so lieblich singen, die Mönche! … Silberbeschlagen ist der Sarg … Laienbrüder tragen ihn … Die Armen! Wie die Füße so nackt durch den Schnee müssen! … Alle singen: Dona eis pacem … Wie heißt das, Fräulein – Schwarz? …

Die Träumende schwieg …

Thiebold stand schreckergriffen. Er glaubte, »versichert sein zu dürfen«, daß die Gräfin drei Meilen weit das eben stattfindende Begräbniß des Kronsyndikus sähe; aber was sollte dann Fräulein Schwarz, die doch wol niemand anders sein konnte, als ihre frühere Gesellschafterin,[89] jene Lucinde, der Benno ein lateinisches Wörterbuch gekauft hatte? War denn diese bei dem Begräbniß zugegen?

Püttmeyer schlich athemlos einen Schritt näher …

Die Gräfin sprach schon wieder laut, doch etwas unverständlicher …

Erst allmählich unterschied man die Worte:

Die Wagen nehmen ja kein Ende … Ich zähle schon dreiundzwanzig … in dem ersten hinter den Franciscanern sitzt der Präsident von Wittekind … Neben ihm der Domherr …

Wieder eine Pause …

Dann der Onkel mit Benno –! fuhr Paula fort …

Wieder schwieg sie …

Es geht so langsam … Den Schnee schütten die Bauern auf … Da läuft ein Reh über den Weg … Alles ringsum Wald … Aber die Menschen … Singen die und sie läuten auf dem Schlosse … Der Zug kann jetzt nicht durch … Jetzt schweigen die Mönche … Einer singt … Pater Ivo … »Maria, Maienkönigin! Dich will der Mai begrüßen!« … Der Mai in diesem Winter! …

Püttmeyer kannte ja auch den Mariensänger, den Grafen Johannes von Zeesen, der mit seinem Husch! Husch! die Melusinen verjagte …

In der dritten Kutsche … fuhr Paula den Bebenden fort zu erzählen … da sitzt der Herr von Terschka … Bei ihm der Landrath … Wie jung ist der heute wie der! … Herr von Enckefuß ist ganz geschminkt und schön frisirt … Die Mönche singen … Wie scheint die liebe Sonne auf den silbernen Sarg! … Ein Kissen[90] liegt auf ihm mit allen Orden des Onkels! … Wie funkelt das! … Vierzehn Mönche sind es … Zwei fehlen … Sebastus und Hubertus fehlen …

Sebastus? – sagte, seinem Temperament verfallend, Thiebold halblaut …

Den seh' ich ja jetzt auch! … hauchte Paula, als wenn sie Thiebold's Frage gehört hätte und alle, auch wol drinnen die Frauen, mochten denken: Den Sohn des Mannes sieht sie, der erschlagen wurde von dem Todten, den sie eben begraben?

Der liegt recht krank! fuhr Paula fort. Er liegt im Krankenkämmerchen von Himmelpfort … Ach, das ist da eng und klein! … Durch ein Gitter … Da kann er in eine andere Zelle sehen, nicht acht Schritte lang … Das ist die Kapelle der Kranken … Fünf Schritte breit ist auch die nur … Maria von altem bunten Holze … Neben ihr – dahin also legen sie ihre Weihnachtskrippchen? … Ein Oechslein … ein Eselein … wie zum Spiel für Kinder … Gebt sie ihm doch! … Geht das Eselchen nicht durch das Gitter? … Es geht … Armer Pater, spiel' mit dem Krippchen der Franciscaner! …

Lange blieb es jetzt drinnen still …

Tante Benigna sprach endlich laut und betonte die Worte so scharf, als könnte Paula dadurch verhindert werden, ferner ihren Geist außerhalb der körperlichen Hülle dahin schweifen zu lassen …

Armgart aber schien das höchste Verlangen zu tragen, vom Leichenbegängniß mehr zu wissen …

Nein! Nein! Komm! sagte die Tante mit Entschiedenheit …[91]

Laß sie doch, Tante! bat Armgart …

Sie träumt das nur so – komm! … Sie sieht es nicht …

Die Tante hatte schon die Vorhänge ergriffen und bedeutete die Männer, sich nicht den Zwang anzulegen, zu leise aufzutreten; man dürfte getrost ganz laut sprechen …

Schon wollte sich entfernend Püttmeyer in Andacht, Thiebold in Bewunderung ausbrechen, als Armgart, die sich nicht trennen konnte und jetzt weit über dem mit einer seidenen Decke belegten Ruhesopha hingestreckt lag und das in glatten Scheitel gewundene Haar der Freundin streichelte, hastig winkte und die Tante bedeutete, Paula schiene einen heftigen Schmerz zu fühlen …

Schnell wandte sich die Tante …

Da sie gleichfalls zu sehen glaubte, daß sich Paula durch irgendetwas erschreckt fühlen mußte, kehrte sie zurück …

Der Vorhang, der die Männer von dem Gemache trennte, fiel wieder zu; aber sie hörten die angsterfüllte Stimme der Träumenden in kurzen Sätzen die Worte ausstoßen:

Wer stört nur da – die Ruhe des Todten? … Der Zug hält ja … Wer spricht? … Das ist die Eiche, an der … Wer spricht nur immer und predigt so laut? … Ha! … Herr von Terschka springt aus dem Wagen … Die Mönche schweigen … Benno … Gensdarmen … Der – Jude …

Merkwürdig! rief Thiebold, dem das Traumsprechen Paula's an sich nicht neu war, und ergriff die Hand des zitternden Doctors, dem der Angstschweiß auf die Stirne trat. Was mag denn nur vorgefallen sein? …[92]

Nichts mehr wurde hörbar … Man vernahm ein Murmeln der Gräfin, ein unverständliches Sprechen, wie durch die Zähne … Dann war alles still.

Die Tante kam heraus und sagte, scheinbar voll Beruhigung und doch voll Bestürzung:

Sie ist erwacht!

Jetzt – in einem Augenblicke – flüsterte Thiebold …

Wo ich, konnte die Tante für sich hinzusetzen, schon die Freude habe zu sehen, wie dieser liebenswürdige junge Mann förmlich schon unter dem Umstand leidet, seinen Hut nicht holen und sich bei etwas Vorgefallenem nützlich machen zu können … Wie ganz anders das, als einst z.B. mein Levinus war! …

Im Erwachen weiß sie nichts mehr von dem, was sie im Traumschlaf gesehen? fragte Püttmeyer im Gehen und athemlos vor Beklemmung …

Kein Wort weiß sie dann! bestätigte die Tante. Sie können sich denken, wie diese Dinge uns aufregen. So besonders lebhaft sprach sie seit lange nicht wieder, und wir glaubten schon den höchsten Grad erreicht zu haben … Sie werden sehen, daß sich unser Engel nach einigen Minuten erholt hat und am Arm ihrer Freundin eintritt, als wenn nichts geschehen wäre … Was mag nur die plötzliche Störung gewesen sein! Und gerade da, an – der verhängnißvollen Eiche? …

So kamen sie in das behagliche Wohnzimmer zurück …

Und Sie dürfen in der That annehmen, meine Gnädigste, begann Püttmeyer, daß das alles –

Na natürlicherweise! fiel Thiebold ein und erklärte es für »selbstverständlich«, daß die Herren, die gegen[93] Abend zurückkommen würden, alles das als wirklich so vorgefallen bestätigen würden …

Püttmeyer mußte bedauern, daß die weite Entfernung Eschedes ihn zwang, unmittelbar nach dem Diner sich schon in den Wagen zu setzen, der ihn heute früh abgeholt hatte, und wieder in sein Städtchen zurückzufahren …

Die Tante war inzwischen mit der Nachfrage um das Diner beschäftigt. Die Störung des Leichenbegängnisses nahm sie allmählich für etwas wirklich Vorgekommenes, vielleicht doch nur Unverfängliches. Sie wüßte, sagte sie, wie schreckhaft Paula wäre und wie schon die geringste Abweichung von dem, was in der Ordnung, sie in Verwirrung bringen könnte …

Thiebold schwebte hoch über der Erde. Er erzählte eine Anzahl von Geschichten, die ihm die alten Holzvermesser seines Geschäfts, die Förster und Holzschläger auf seinen Reisen als glaubhafte »Ahnungen« versichert hätten. Er behauptete, in Canada englische, aus Schottland gebürtige Soldaten gesehen zu haben, die am zweiten Gesicht krank waren; krank, betonte er, wenn man krank eine so wunderbare Gabe nennen könnte, die sogar ansteckend sein soll; ja in der That, Herr Doctor –! Thiebold versicherte, daß ihm Hedemann erzählt hätte, wenn in einer schottischen Compagnie nur ein einziger Geister sähe, sähen bald alle welche. Selbst der Oberst von Hülleshoven, der doch gewiß ein Mann ohne Vorurtheile wäre, hätte dies versichert –

Nun kam die Tante von einer Inspection des jenseit des großen Empfangssaales gedeckten Tisches zurück[94] und Thiebold mußte von dem hier bedenklichen Obersten schweigen …

Die Tante reichte Püttmeyern den Arm … Thiebold bedeutete, auf Paula und Armgart warten zu müssen. Die Tante bat ihn zu kommen; die jungen Damen würden nicht ausbleiben …

In der That erschien, als die drei Vorausgegangenen in einem fast im Styl eines klösterlichen Refectoriums angelegten, rings mit kunstvoll ausgelegten hohen Schränken und krystall- und silberbeschwerten Büffets versehenen Zimmer an ihren Stühlen standen, Paula, geführt von Armgart.

Beide kamen wie aus der Märchenwelt. Paula wie eine Fee, Armgart wie ein ihr dienender Elfe. Jene in heiterer Sicherheit, ahnungsvoll im Besitz ihres Reichthums und in der Fülle ihrer Gaben, sie ohne Anspruch auf Dank verschenkend … Diese der Erde angehörender, minder zuverlässig, eher wie das Licht des Mondes gehalten gegen den Strahl der Sonne … Beide hätten Kränze auf ihren schönen bleichen Häuptern tragen sollen, Paula von himmelblauen Winden, Armgart von grünem Epheu … Armgart klammerte sich an ihre Freundin, wie wenn diese das Geheimniß auch ihres Lebens hielt … Paula, selbst so hülfsbedürftig, selbst so schwankend bewegt von ihrem innerlich bangen, äußerlich zwar noch immer glänzenden, aber doch ungewissen Geschick, bewegt von ihrer stillen Liebe, bewegt von ihrem Naturlose, das sie sogar von dem, was ihr eben geschehen war, selbst nichts wissen ließ, schwebte sicherer dahin als Armgart, die fast mit scheuem Gewissen zur Erde blickte …[95]

Das Mittagsmahl stand in seltsamem Gegensatz zu dem eben Erlebten. Suppe, Rothwild, Auerhähne, grünes Kraut und Kastanien – und hinter jedem Stuhl vielleicht ein abgeschiedener Geist! In einem Winkel des Zimmers auf einem Fußsessel, vielleicht mit der Trauerhaube die Schwester des Kronsyndikus, Paula's längst verstorbene Mutter … Vielleicht Graf Joseph, der eben an einer alten, neuvergoldeten Rococo-Wanduhr die zufällig schnurrenden Gewichte aufzog … Wer hätte nicht außer sich vor Staunen fragen mögen: Wie ist dir denn nun das, du Heiligste deines Geschlechts? Wie fühlst du dich nur? Was sahst du denn am gespaltenen Eichbaum? Wer predigte nur so laut? Kann das wirklich derselbe Mund sein, der vorhin ein wunderbares Ferngesicht erzählte und der jetzt so den silbernen Löffel leert, wie wir, völlig harmlos von des Doctors bedauerlicher Abreise spricht und sogar Armgart neckt, die »ein Buch über Philosophie zu schreiben scheine; denn so, wie sie sich seit einigen Tagen umgewandelt hätte, das könnte nur eine Gelehrte, die freilich auch von Angelika soviel Mathematik gelernt hätte« …

Thiebold war glücklicherweise der Mann, der jetzt über die schwierigsten Fragen wie über schwindelnde Brückchen hinwegschlüpfte, dabei jeden niederfallenden Knäuel einer Bemerkung episodisch aufhob und ein seltenes Gemisch von geselligen Tugenden zur Bewunderung der Tante bot, die solchen Männerschlag in der Welt für unmöglich gehalten hatte. Püttmeyer versank in ein stillbeschauliches Grübeln … er sah Paula starr an, verwechselte sein[96] Messer mit der Gabel, nahm zum Braten zu gleicher Zeit Compot und Salat und beging all die Diätfehler, vor denen ihn seine Verehrerinnen in Eschede beim Abschied so ernstlich gewarnt hatten. Thiebold hatte dabei ganz nach Moppes' und Piter's Theorie die Art, den Wein einzuschenken, als wär's Wasser. Da fand kein Nöthigen statt, kein Abwarten, ob ein Glas schon ganz geleert war; wie er in sein Haar griff, um seinen Scheitel zu ordnen, ebenso leicht griff er an die Flasche. Die Tante fand das alles entzückend. Sie lebte auf in dem heitern Anblick, wie die beiden Mädchen wol ein halb Dutzend mal dieselbe Geberde machen mußten, die Hand auf ihre Gläser zu legen und dem Einschenkenwollen zu steuern, während Thiebold ebenso oft dann, ohne sich in seinen Reiseberichten über Amerika, Paris, London und Kocher am Fall stören zu lassen, die Wassercaraffe ergriff und die Wassergläser der Damen bedachte. Er ist allerliebst! sagte ihr zwischen Paula und Armgart hin- und hergehender Blick … Nur Ein Diener konnte dabei bedienen, da zur Vertretung der gräflichen Würde beim Leichenbegängniß fast die ganze Dienerschaft abwesend war und der neuhinzugetretene Dionysius Schneid für ein unmittelbares Bedienen der Herrschaften zu wenig Geschick zeigte …

Im Strom seiner Mittheilungslust und einer bei dem Gefühl, »mit Geistern zu Mittag zu speisen«, höchst natürlichen Aufregung gerieth Thiebold wiederholt auf Armgart's Aeltern. Er konnte diese Erwähnungen nicht länger zurückhalten; denn bald hatte er vom Obersten eine entschlossene That, bald von der[97] Oberstin eine überraschende Aeußerung zu berichten. Die Tante ermuthigte ihn auch, sich keinen Zwang anzulegen, denn diese Veränderung hatte allerdings stattgefunden: sie war völlig geneigt zur Versöhnung. Ihre Sorge um Armgart wurde zu groß; im Stifte Heiligenkreuz konnte des jungen Mädchens Bleiben nicht sein. Sie hatte bisjetzt die schlechteste Stelle, jährlich nur zwanzig Thaler baar und kaum sechzig in Naturalien. Die Verhältnisse in Westerhof wurden zu schwankend; die Ansiedelung des Obersten von Witoborn mit dem auf die Hedemann'schen Mühlenwerke gerichteten Plane war vor der Thür; Onkel Levinus wurde je älter je grilliger; Tante Benigna sah demnach ganz gern, daß Thiebold ihre Schwester und ihren Schwager zugleich pries … Thiebold wurde dabei auch von ihr nur immer Herr von Jonge genannt … In ihren auf Armgart gerichteten Blicken lag: Wie benimmst du dich nur heute wieder gegen diesen besten aller deiner Bewerber!

Thiebold erzählte von Hedemann, von seiner Lebensrettung, von den Mühlenwerken und von Hedemann's Vettern …

Ich war in Borkenhagen … mit meinem Freunde Benno von Asselyn zugleich, der – Sie wissen ja wol, in dem Dorfe da geboren und erzogen worden ist …

Geboren? warf die Tante lächelnd und fast verächtlich ein …

Ganz recht! verbesserte sich Thiebold. Wie kann ich vergessen – Mein Freund ist –

Ein Spanier ja wol? unterbrach den Einschenkenden Püttmeyer, den seine Freundinnen trotz seiner Verborgenheit [98] au courant aller Verhältnisse der Gegend hielten und den der Wein und die Geisterwelt seltsam anregten …

Das doch wol eigentlich nicht! berichtigte die Tante mit einem mysteriösen Lächeln. Sie mußte auf die Schüssel, die eben herumgereicht wurde, niederblicken, weil aus Paula's Augen ein bittender Blick sie traf …

Ein prächtiger Spaziergang! fuhr Thiebold fort. Selbst im Winter! Wir suchten im Wald bei Borkenhagen, in den Vorgebüschen von Schlehdorn, erst den Finkenfang, dann die Wolfshöhe und einen großen dort befindlichen Ebereschenbaum, der in Benno's Jugenderinnerungen – übrigens wird ja nächstens dort die große Jagd stattfinden – eine merkwürdige Rolle spielt – bitte, gnädigstes Fräulein, genirt Sie die Sonne? …

Schon war's ein Strahl der abendlichen Sonne, der der Tante ins Antlitz fiel …

Thiebold war schon aufgesprungen, um den Vorhang niederzulassen …

Man bat, sich nicht zu incommodiren …

Püttmeyer wünschte gelegentlich den Tag der Jagd zu wissen, seiner Transparentbilder wegen …

Wir schreiben Ihnen das! sagte die Tante und fuhr, auf Thiebold gewandt und zugleich ärgerlich über ein Erglühen Armgart's, als von Benno die Rede war, fort: Dann waren Sie gewiß auch auf dem armseligen Hof der närrischen verwilderten Alten, der dicht beim Walde vor Borkenhagen liegt?

Allerdings! rief Thiebold vom Fenster zurückkehrend …

Armgart aber fiel mit leuchtenden Augen ein: Armselig?[99] Das war ehemals der schönste Bauernhof zwischen Borkenhagen und Witoborn! Die Ställe voll Vieh, dabei fünf Pferde und die Scheuern voll Korn … Auf dem Hof hat Benno reiten gelernt! Da hob ihn Hedemann zuerst aufs Pferd! Die Alten schenkten ihm sogar ein schwarzes Füllen! Wie ich im letzten Herbst hinkam und sie daran erinnern wollte, wiesen sie mir freilich die Thür …

Aus dieser Mittheilung ersah man, daß Armgart in der ganzen Gegend zu hospitiren pflegte und überall den Bruder Gutentag machte …

Alte, verdrehte, abscheuliche Menschen sind's! rief die Tante. Ruchlose sogar!

Warum hast du sie nicht lesen und schreiben gelehrt? entgegnete Armgart …

Ich? Ich? Wie so ich? Soll das eine Anspielung auf – mein Alter sein? erwiderte die Tante und lächelte selbst sogar der Feinheit ihrer Bemerkung, ohne darum ihre zornige Aufwallung zu mildern …

Tantchen! bat Paula und reichte ihre schöne, lange, ovale weiße Hand über den Tisch zur gereizten Verlobten des Onkel Levinus hinüber, während Armgart's Antlitz glühte und ihre starren Lippen sich nicht regten, eine so absichtlich verkehrte Auslegung ihrer Bemerkung zu berichtigen …

Diese Menschen, fuhr die Tante fort, sind die starrköpfigsten Bauern, die nur je hier zu Lande gelebt haben! Gottesverächter sind sie geworden! Ich gebe zu, sie wurden schlecht behandelt –[100]

Von einem Geistlichen! schaltete Püttmeyer gar nicht mehr zaghaft ein …

Auch vom Landrath! ergänzte die Tante. Solcher Trotz dann aber auch gleich! Das kann auch nur bei uns vorkommen! Ich seh' und erleb' es ja täglich! Jetzt wieder der Streit um den Tanz im Finkenhof! Bitte, Herr von Jonge, was man Ihnen auch erzählt hat und was Sie in Borkenhagen – mit Herrn von Asselyn – er heißt nur so, es ist ein Adoptivname – gesehen haben mögen, glauben Sie mir, diese Leute sind wie die Büffel! Und die Hedemanns von je die obstinatesten! Den künftigen Herrn Papiermüller nannten sie schon vor Jahren Herrn Remigius Dickschädel!

Auf solche aus dem Munde der Tante, die ja selbst einen Kopf wie von Eisen besaß, überraschend genug kommende Worte, stand seit Jahren fest, konnte keine Einrede gewagt werden. Paula's Auge richtete sich auf Armgart, deren Inneres vor Parteinahme zu Gunsten Hedemann's und ihres an Hedemanns Namen betheiligten Vaters aufloderte. Die braunen Augäpfel gingen hin und her, die Lippen öffneten und schlossen sich, die zitternden Finger drehten aus dem frischen witoborner Weißbrot kleine Vierundzwanzigpfünder wie zu einem Bombardement auf alle Welt …

Gnädigstes Fräulein! wandte sich Thiebold zur Tante, ich weiß nicht, ob ich gut unterrichtet bin … Ich weiß nur so viel … Als Freund Hedemann nach Amerika ging, war der Abschied von den Aeltern auf ewig und Hedemann ließ zwei alte Leute in schönem Besitzstand zurück. Damals hatte der »so unglücklich[101] geendete« Klingsohr, genannt der Deichgraf, die Ablösungen des ganzen Regierungsbezirks zu reguliren. Auch die alten Hedemanns wollten sich freikaufen. Auf ihrem Besitzthum haftete die Verpflichtung, dem Gutsherrn, zufällig dem Landrath, dem dieser Besitz von seiner Frau her gehörte, einen gewissen Theil des Ertrages – enfin, wie viel – kurz, ihm regelmäßig zu zehnten! Zank hatte es schon um dieser Abhängigkeit willen genug gegeben; denn nicht einen Baum durften die Hedemanns abhauen ohne den Willen des Gutsherrn …

Das liegt in den Verhältnissen! sagte die Tante …

Ich glaube das! Nun aber kam nach einem gewissen Leo Perl der Pfarrer Langelütje, der sich schon auf andern Pfarreien den schlechtesten Ruf erworben hatte und mehr Vieh- und Fruchthändler, als ein Seelsorger war …

Darüber ist allerdings nur eine Stimme! gestand die Tante …

Die alten Hedemanns, erzählte Thiebold immer wie forschend, ob er recht berichtet wäre, waren mit ihrem Gutsherrn in Spannung und bedienten sich des Pfarrers, um zu ihrem Ziele zu gelangen. Der neue Pfarrer erbot sich dazu aufs bereitwilligste … Die Hedemanns cedirten ihm in aller Form die Ablösung und gaben ihm die nicht unerheblichen Summen zur Realisation des Loskaufs. Gut, das Geschäft ist gemacht; die alten Leute, die froh sind, mit dem Landrath in keine directe Beziehung gekommen zu sein, bieten auch dem Pfarrer eine Erkenntlichkeit an. Er schlägt sie nicht aus. Er nimmt sich eine Kuh aus dem Stalle …

Und noch dazu die beste! schaltete die Tante ein …[102] Sie wollte jetzt schon Versöhnung mit Armgart und begann nachzugeben … Er hat sie am Strick gleich selbst sich mitgenommen!

Inzwischen, fuhr Thiebold fort und schenkte wieder ein, indem er die schmollende Armgart fixirte … inzwischen ließen die alten Leute, die, wie fast alle ringsum, Geschriebenes nicht lesen konnten, doch einmal von einem hausirenden Juden die Ablösungspapiere durchsehen. Es war an einem Sonntag Vormittag. Beide, der alte Mann und die alte Frau, saßen bereits in Toilette, um zur Kirche zu gehen. Die Glocken läuteten. In dem Augenblick studirt der fremde Rathgeber heraus, daß in den Papieren in Worten geschrieben eine viel kleinere Summe steht, als sich der Pfarrer von den Hedemanns hatte auszahlen lassen. Nicht wahr? Sie waren von ihrem Seelsorger um zweihundert Thaler und ihre beste Kuh geprellt worden. Diese Menschen, von einer großen Verehrung vor allem, was geistlich ist, glaubten dem Juden nicht. Sie gingen mit ihrem Papier zum Kamp hinaus, um in der Kirche, gleich nach dem Gottesdienst, den Pfarrer selbst zu fragen. Da begegnet ihnen die Kutsche des Landraths. Hedemann's Vater grüßt und hält nickend sein Papier empor. Herr von Enckefuß läßt halten und frägt, was es gäbe? Die alten Leute tragen ihren Gegenstand vor. Der Hausirer steht in einiger Entfernung. Und jedenfalls merkte Herr von Enckefuß gleich, was die Uhr geschlagen hatte. Um aber den Pfarrer zu schonen, fuhr er den Juden an, hieß ihn sich hier augenblicklich zum Teufel zu scheren – bitte um Entschuldigung! – und behauptete rundweg zu[103] seinem eigenen Nachtheil, der Schein lautete wirklich auf die Summe, die der Pfarrer von ihnen verlangt hätte …

Püttmeyer ergänzte:

Es war gerade die Zeit, wo der Rittmeister eine noch viel größere Unthat aus Gutmüthigkeit verborgen gehalten hatte! …

Die Tante setzte mit Rücksicht auf die noch immer finstere Armgart hinzu:

Sein Herr Sohn ist dafür um so strenger! Der bringt ja alles heraus! Den Kirchenfürsten, den hat der junge Enckefuß verhaften helfen! Den Hammaker hat er auch entdeckt! Den Pater Sebastus hat er hierher geführt! Nur den Leichenräuber von Sanct-Wolfgang hat er noch nicht aufgetrieben …

Diese Zwischenplauderei war zunächst dazu bestimmt, Armgart's gute Laune zu gewinnen … Dann fing aber auch die Tante schon an, ihren Unmuth auf die Bedienung abzulenken. Sie hörte draußen sprechen, hörte die groben Tritte des die Speisen aus der Küche herzutragenden Dionysius Schneid und zischte um Ruhe …

Paula begleitete die Rede und das Benehmen der Tante mit Blicken auf Armgart, die so viel sagen wollten als: Närrchen, sei doch lieb!

Nun hört' ich so! fuhr nach einer Discretionspause Thiebold fort. Die alten Hedemanns blieben in der Sache zweifelhaft. Da der Hausirjude das Blinzeln des Landraths wohl verstanden und sich aus dem Staube gemacht hatte, gingen die alten Leute an die Kirche, nicht in sie hinein. Sie sahen von der Thür aus den Pfarrer im Meßornat, wie er das Hochheiligste segnete; sie mußten vor innerm[104] Groll umkehren. Mit dem tiefsten Zweifel in ihrer Brust vergruben sie sich in ihrem einsamen Kamp und ließen, anfangs vor Ungewißheit, vor Ahnung, dann vor sicherer Zuversicht, daß der Pfarrer sie betrogen hätte, mit der Zeit alles lässig gehen. Den Pfarrer anklagen? Ihn unglücklich machen, die Religion schänden –? Das ist diesen Leuten nicht gegeben. Sie bebauten noch ihr Feld, hatten auch noch Knecht und Magd; aber ein Tiefsinn kam über sie, der sie von der Welt nichts mehr hören und sehen lassen wollte. Noch einmal wagten sie zum Schulmeister zu gehen – sie bekämpften sich, da ihnen wieder die Scheu vor einem geweihten Priester kam … So ging der Lebensmuth der alten Leute hin. Sie ließen Hab und Gut in Verfall kommen. Einmal rief die alte Mutter Hedemann die Schulkinder an und ließ sich heimlich von denen die Urkunde vorlesen. Sie hörte leider die Wahrheit; ein Betrug war's von zweihundert Thalern. Sie verschwieg ihn ihrem Alten. Zur Kirche ging nun keines mehr und Langelütje, den man meist nur in großen Wasserstiefeln sah, auf den Märkten hinter seinem Knechte stehend, beim Fruchtverkauf, der hinderte sie darin auch nicht. So in Mistrauen und Unmuth kamen die alten Leute zurück. Sie entließen den Knecht, die Magd, bestellten ihren Acker nicht mehr, brachen ihr Holz am Wallheck nicht mehr, ließen ihr Vieh sterben und verderben und behielten nichts, als was zum nothdürftigsten Unterhalt diente. Sie säen jetzt nur, was sie selbst brauchen. Jahraus jahrein besteht ihre Mahlzeit aus Bohnen, die sie in Wasser abkochen und über die sie Milch gießen. Nur zu diesem Bedarf werden die Kühe abgemolken …[105]

Abgemistet wurde schon lange kein Stück Vieh mehr! ergänzte die wirthschaftskundige Tante. Alles verdarb! Sie zogen ein gefallenes Thier aus dem Stalle und ließen es einfach vorm Hofe liegen. Die Nachbarschaft machte dann dem Lärm der Hunde ein Ende, die sich um das Aas stritten. Nie brauchten sie noch Licht oder Oel; im Winter sitzen sie um den Feuerherd, den sie mit ganzen Bäumen heizen, die sie an ihrem Wall fällen, ins Haus hereinziehen, auf den Herd legen und nun langsam abschwehlen lassen. Oft liegt das eine Ende vom halbbelaubten Baume noch draußen im Freien, vom Schnee überschüttet. Als sie in ihrer Kleidung so weit verfielen, daß sie die Lumpen mit Stroh umbanden, um sie vor dem Herabfallen zu schützen, legten sich die Nachbarn drein. Sie fanden zwei halb schon zu Kindern gewordene Menschen, die in innigster Uebereinstimmung mit sich selbst an ihrem Wahn festhielten, daß die Welt kein Vertrauen mehr verdiene und nichts überflüssiger wäre als die Religion. Man zwang ihnen dann Beistand auf, eine Aufsicht, die dann und wann den Schmutz aus ihrer verfallenen Wohnung entfernt. Der Alte sitzt und raucht aus einer Hollunderpfeife, deren Spitze und Rohr und Abguß und Kopf er sich selbst geschnitzt hat und die immer kleiner wird, weil die paar Zähne, die er hat, sie nach und nach fast ganz »aufmümmeln«. Taback ist sein einziger Luxus. Geld kennen sie nicht. Wer ihnen etwas liefert, Brot, das sie nicht mehr backen, Bohnen, die sie nicht mehr säen, den verweisen sie auf das, was ringsum auf ihrem Eigenthum noch wild wächst. Aber an dem Langelütje kam dann freilich alles heraus. Er sitzt im Jesuiten-Profeßhaus der Residenz des Kirchenfürsten.[106] Wohl kamen bessere Geistliche, aber die alten Leute wiesen jeden ab, der sie auf ihrem verfallenen Hofe besuchte. Sie flüchteten zuletzt zur Kuh in den Stall, bis selbst unser Herr Norbert Müllenhoff müde wurde, auf dem brennenden Baumstamm am Herde zu sitzen und ihnen zu predigen … So fand Hedemann seine Aeltern, als er im Herbste hier war. Natürlich hatte er dann Zank mit dem Landrath. Wie's jetzt mit den alten Leuten aussieht, weiß ich nicht … Die Leute leben im Kirchenbann.

Wäre Monika zugegen gewesen, ihr flammendes Wahrheitsgefühl hätte ohne Zweifel ausgerufen: Gerade aus Liebe zur Religion, gerade aus Verehrung vor der größten Frage der Menschheit geschah dieser Abfall von ihren äußeren Formen! … Und auch in Püttmeyer schürte der Wein und sein vor Jahren tiefgekränkter Denkerstolz den Ausbruch ähnlicher Empfindungen … In Thiebold wirkte Benno's Urtheil nach, der bei Erzählung dieser Verhältnisse gesagt hatte: Jetzt versteh' ich, Hedemann, warum Sie die Bibel lieber lesen, als das Brevier …

Armgart aber rief von ihrem Standpunkte: Ja, so muß man die Welt verachten können! Was hilft es, die schlechten Menschen anklagen? Aergern man muß sie und beschämen! Beschämen durch unser Unglück, das man sie zwingt mit anzusehen! Ich gehe doch noch in Witoborn zum Bischof und bitte ihn, von diesen so großen, so echt frommen, so unübertrefflich vornehmen Menschen den allerdings nur zu gerechten Bann zu nehmen!

Man schwieg jetzt … Es war das Mahl vorüber …[107]

Auch wurde die Tante von einem Anliegen des Dieners in Anspruch genommen …

Der Diener flüsterte ihr etwas in plattdeutscher Sprache …

Er brachte das Gesuch des alten Kirchendieners Tübbicke, der draußen harrte …

Die Tante erröthete … aber »Herr, sprich nur ein Wort und meine kranke Seele wird gesund!« sagte der Blick, den sie auf Paula richtete …

Diese bemerkte den Ausdruck eines der ihr schon bekannten Anliegen … Sie hörte das Leid des Alten, der um Hülfe für sein Enkelchen bat …

Paula erhob sich … Ihre Hand zitterte … die blauen Augen wurden tiefdunkel … Aus den Falten ihres weiten schwarzseidenen Kleides nahm sie einen kleinen Rosenkranz von einfachen bunten Steinkügelchen, betete einen Augenblick leise, während alle ihrem Beispiel folgten, küßte das Amulet und reichte es hin … Armgart ergriff es in leidenschaftlichster Erregung und stürzte damit hinaus …

Die Tante nahm Püttmeyer's Arm, um sich von ihm in das grüne Wohnzimmer führen zu lassen … Sie sah im Gehen auf die Uhr … Es war schon gegen vier … Dunkel war es geworden und der Diener sagte, daß auch der Wagen schon bereit stünde für Eschede. Thiebold hatte Paula geführt … Eine drückend feierliche Stimmung umspann die kleine Gesellschaft, eine Stimmung, die sich mehrte durch Armgart's Zurückkunft …

Der Alte war zu glücklich! rief sie. Das Kind wird genesen![108]

Paula war weiß geworden wie eine Wachskerze … Sie riß sich los. Sie hatte Thränen im Auge und verschwand … Gern wäre Armgart ihr nachgestürzt, aber die Tante befahl, daß sie blieb. Auch kam der Kaffee, den sie in silberner Maschine zu machen und zu credenzen hatte. Die Tante sank in einen der ringsum stehenden grünseidenen Fauteuils … Ihr »Nick-Viertelstündchen« kam …

Und Püttmeyer sollte nun so, unter solchen wunderbaren Eindrücken, seinen ganzen Menschen zurücklassen? Er verzweifelte fast … Doch mußte er nach Eschede … Der Weg war zu weit und auch dort wohnten Seelen, die er nicht ängstigen durfte! Mochte er auch von diesen nach allem, was er heute hier erlebt, fühlen wie Armgart, als sie im letzten Herbst im Nachen zu Angelika gesagt hatte: Eine derselben würde als geflügelte Kaffeekanne dem Fegfeuer zufliegen, eine andere als geflügelter Strickstrumpf! er mußte sich losreißen … Auch sein Hund und seine Katze mochten nicht wenig nach ihm kratzen und winseln … Lassen Sie sich nur recht oft bei uns sehen! sagte ihm die Tante schon wie zum Abschied. Geben Sie Ihr Vergrabensein auf, Herr Doctor! Solange wir auf Schloß Westerhof noch hausen werden, sind Sie uns immer willkommen! Adieu, Herr Doctor! Grüßen Sie in Ihrem nächsten Brief – die – die gute – liebe – Angelika …

Die Tante wurde auch schon in ihrer Art somnambul und schlief schon halb. Laurenz Püttmeyer stand da, wie ein vierzigjähriges Kind. Er sah sich um, um beim Abschied nichts zu vergessen. Es that noth, daß Thiebold ihm in die Hand gab, was er mitnehmen mußte, seinen Hut, seine[109] Handschuhe, von denen sich nur einer in seinem Frack, der andere noch drüben im Speisezimmer befand, und nun empfahl er sich wirklich. Thiebold und Armgart, die sich ihren noch im Vorzimmer liegenden Pelz überwarf, begleiteten ihn … Schon hörte man das Schellenklingeln der Pferde … Schon war der Schlag geöffnet … Man hatte dem Gaste vorsorglich noch ein heißes Kohlenbecken in den Wagen gestellt … Man gab ihm noch eine Wildschur des verstorbenen Grafen Joseph zur Benutzung mit … Püttmeyer war im Losreißen von dem merkwürdigsten Tage seines Lebens in einer Verwirrung, die ihm sogar den Streich spielte, daß er ein splendides Trinkgeld statt dem Diener Thiebolden in die Hand steckte … Und Thiebold nahm den Thaler und sagte sich mit verklärter Rührung: »O das kann kommen! Bei gewissen Stimmungen ist dem gebildetsten Menschen nichts unmöglich!« Er gab das Geld feierlich dem Diener … Schon rollte der Wagen dahin und Thiebold, der in bloßem Kopf stand, war nicht wenig geneigt, Armgart zum Hinaufführen den Arm zu bieten … Schon aber war diese vorausgesprungen … Und Thiebold, als er dem flüchtigen Reh langsam nachfolgte, dachte: Jetzt, jetzt endlich findest du wol den langersehnten, immer vergeblich gesuchten Augenblick, sie allein zu sprechen und jene Geständnisse zu machen, die dir Bonaventura in der Beichte anbefohlen hat! … Er faßte sich Muth, obgleich so vieles, so vieles in Armgart's Benehmen gegen ihn sowol wie gegen Benno anders geworden war.

Oben befand sich noch die Tante unter dem magnetischen Einfluß ihrer Verdauung … Sie trank zwar den[110] von Armgart bereiteten Kaffee, der bekanntlich wach erhalten soll … Ihr aber machte er die Wirkung, im Lehnsessel Reden zu halten, die etwa in folgender anakoluthischer Verwickelung sich vernehmen ließen und endlich gänzlich abbrachen:

Nun, lieber Herr von Jonge! Nun aber, bitte, bitte, lieber Herr von Jonge, nun spielen Sie uns etwas! … Ich hätte doch den alten Tübbicke noch etwas fragen sollen … Bitte, Herr von Jonge! … Armgart! Noch eine Tasse vielleicht, Herr von Jonge? … Die Schlüssel zum Archiv jeden Sonntag aus der Hand lassen, das geht nicht, Herr von Müllenhoff – von Jonge! … Bitte, Mozart … Das Kind von dem jungen Tübbicke –! Bitte, Herr von Jonge, spielen, spielen! – Nein, man muß sagen, Müllenhoff geht in vielem zu weit! … Ich liebe so die Musi –! … Die Jagd … Transparente Bilder von … Wenn nur unsere Herren bald gesund und wohlbehalten von Neuhof zurückkommen! … Die Musik! … Was sie nur erlebt haben mögen – am Düsternbrook – Bitte, Herr von Jonge! – Die – Die – Sona – Pathé – tique – von van – van von Beetho –

Damit war das Gangliensystem der Tante bezwungen. Sie entschlief, ohne ihre Rede ganz beendet zu haben.

Die Sonate pathétique zu spielen würde sich Thiebold in seiner Vaterstadt nie getraut haben. Die Gegenwart einer Johanna Kattendyk, einer Josephine Moppes, einer Lisette Maus, einer Betty Timpe hätte ihn unrettbar dem »Fluche der Lächerlichkeit« preisgegeben. In diesem hochadeligen Hause aber, dem, wie in vielen tausenden solcher katholischen Herrensitze Europas, principiell die Bildung[111] des 19. Jahrhunderts halbwegs immer fremd bleibt, gestattete man ihm jede freie Variation über das große Meisterwerk, jede Zuthat aus den seinen Fingern noch geläufigern Cramer'schen Etuden. Thiebold spielte wirklich etwas, wie die Sonate pathétique. »Ein Genuß für Götter!« sagte er sich selbst voll Bescheidenheit. Er war in jeder Beziehung froh, daß Benno fehlte.

Armgart stand an der Kaffeemaschine … Endlich blies sie die Flamme aus … Es wollte damit nicht so schnell gehen, wie sie wollte … Thiebold brach mitten in seinem schönsten ad libitum ab und sprang hinzu … Mund gegen Mund gerichtet, endete die Flamme …

Thiebold seufzte und wurde kühner und kühner durch das Bewußtsein, daß sich hier einer gemüthlichen Familienscene ein beliebiger Rahmen geben ließ … Die Tante schlief … Paula blieb fern … Sollte er wieder spielen? … Fräulein! sagte er leise. Ich habe Ihnen durchaus eine Mittheilung zu machen …

Armgart betrachtete ihn kalt und doch war ihr die »Liebe« schon lange ein Begriff geworden, so klar, so verständlich wie sonst nur der Glaube … Sie fürchtete, Thiebold wollte von seiner Liebe sprechen … Sie wollte sich eben deshalb gleichgültig zeigen …

Spielen Sie! sagte sie. Ich lese indessen …

Nein, ich muß Sie sprechen! betheuerte Thiebold mit gedämpfter Stimme. Ein Befehl in der Beichte verlangt es! Der Domherr will es!

Armgart maß Thiebold mit weitgeöffneten Augen …

Wirklich, Fräulein Armgart, ich schwöre Ihnen das beim Heil meiner Seele![112]

Auf so hochheilige Versicherung hin winkte Armgart leise mit der Hand, deutete auf die Thür und ging mit Seufzen in den Vorsaal.

Ein Blinzeln des Auges sagte, Thiebold sollte folgen.

Nehmen Sie Ihren Mantel, Herr de Jonge! sagte sie, sich im Vorsaal wendend und auf des Zögernden Nachkommen wartend …

Thiebold blickte erstaunt auf sie nieder …

Auch sie ergriff ihren Ueberwurf und hüllte sich in ihn mit Thiebold's Hülfe ein. Dann drückte sie ihm seinen Hut in die Hand …

Sie ging entblößten Hauptes zum Corridor hinaus …

Wohin führt sie dich denn? sagte sich Thiebold mit gesteigertem Befremden …

Draußen war die vom Hofe hereinfallende Beleuchtung am Tage schon immer eine halbdunkle. Jetzt war der Abend hereingebrochen und in den langen Corridoren hatte man sich als Fremder ohne Licht kaum noch zurecht finden können …

Führt sie dich auf ihr Zimmer? sagte sich Thiebold, als Armgart sich links gewandt hatte und in einem dunkeln Gange voranschritt, auf welchen fast klösterlich eine Menge Zimmer, größtentheils an den Thüren mit Hirschgeweihen geschmückt, hinausgingen …

Sie kamen an Zimmern vorüber, die der Tante und Paula gehörten, an Lauftreppen, die für die Dienerschaft bestimmt waren, an einem der vier Eckthürme, in dem auch Armgart ein eigenes Wohnzimmer hatte … Sie wohnte halb im Stifte, halb hier … beide Wohnungen schmolzen auf so eigenthümliche Weise zusammen, daß sie im[113] Grunde nur eine bildeten … in Heiligenkreuz lag oft ihre Schere und hier ihr Fingerhut … dort arbeitete sie an der Cigarrentasche, hier an dem Aschenbecher … dort lag zuweilen ein Schuh oder ein Strumpf, der durch einen andern, der hier sich befand, erst ein Paar bildete … seit Weihnachten erst besaß sie infolge des entschiedensten Verlangens und nach mannichfacher Prüfung und Berathschlagung Schiller's Werke … da sie Tag und Nacht darin las, so lagen sie halb in Heiligenkreuz, halb hier in ihrem Thurm. Wenn sie zwischen Heiligenkreuz und Westerhof hin- und herfuhr oder auch zu Fuß ging, begleitete sie ein Bündel von Sachen, das sie hin- und herschleppte. Oft wurde sie von der Tante dafür »Trödelliese« genannt …

Als Armgart aber auch nicht beim Eingang in ihr Zimmer anhielt, sagte Thiebold stehen bleibend: Ja aber, mein Fräulein, was wird denn nun? …

Er mußte seine Verwunderung abbrechen und folgen … Armgart eilte vorwärts … sie war tief in sich verloren und schloß nur zuweilen gelegentlich ein offen stehendes, in den Hof führendes Fenster. Die Wanderung war jetzt rechts gegangen in einen andern Corridor des großen Geviertes … Hier kamen die Zimmer des Onkels, sein Laboratorium … Auch an diesem – wo oft der Stein der Weisen gesucht wurde und in der Retorte sich als Resultat nur ein Pfund Berliner Neublau ergab, dessen Anfertigung ebenso viel Thaler kostete, als Groschen hingereicht haben würden, den Gegenstand in Witoborn beim Krämer zu kaufen – an zwei Ritterharnischen, die vor des Onkels Thüre Wache haltend im Dunkeln gespenstisch genug[114] aussahen, ging Armgart vorüber, sprang dann eine Treppe hinunter, wandte sich im Erdgeschoß einem neuen Gange zu und führte Thiebold an den im untern Stockwerk befindlichen Bureaustuben, am Archiv, an der Bibliothek vorüber zu einer hohen Thür, die den Eingang in die Schloßkapelle bildete …

Wohl gingen Mägde, Schreiber an ihnen vorüber, wohl sah man über den großen, mit Sandsteinquadern gepflasterten, jetzt mit zusammengeschaufeltem Schnee bedeckten Hof hinweg im Eingangsportal wieder die hier schon gewohnten Hülfesuchenden: Armgart hielt sich bei niemand auf und huschte in die Kirche, die dem Bedürfniß der frommen Bewohner- und Dienerschaft des Hauses immer offen stand …

Dieser Raum war nun erst völlig dunkel …

Armgart blieb an der Thür stehen, ließ den vor Erstaunen sprachlosen Thiebold eintreten, legte den hohen Thürflügel wieder an und ging durch den schmalen Gang der Sitzreihen, voraus zum Altar. Dort knixte sie, wie in der Ordnung, vor dem Erlöser, und sagte zu Thiebold, der auf zwei Schritte hinter ihr stand:

Nun, Herr de Jonge! An diesem heiligen Orte – Was ist es, was Sie mir zu sagen haben!

Mein Fräulein, stotterte Thiebold, befremdet von so viel Feierlichkeit und befangen durch die Einsamkeit des weihrauchduftenden Ortes, Sie überraschen mich! In der That …

Herr de Jonge! Sie wissen noch nicht, daß ich mein ganzes Leben unter die Befehle der allerseligsten Jungfrau gestellt habe! Ihr will ich vertrauen, was ich auf[115] dem Herzen habe! Von ihrem Rath hängt all mein Thun, all meine Entschließung ab. Was wollen – oder was sollen Sie mir mittheilen?

Armgart hatte sich vor diesen feierlichen Worten auf die erste Bank dicht am Aufgang zum Altar niedergelassen und kniete …

Allmählich gewohnte sich Thiebold's Auge an das Dämmerlicht der auch am Tage wenig erhellbaren Kapelle … Die heiligen Gegenstände, die er rings erblickte, milderten die Weltlichkeit seiner Absichten, obgleich an sich diese »die reellsten« waren und nichts Geringeres bezweckten, als Armgart seine ganze Verhandlung mit Bonaventura zu erzählen …

Thiebold sah nun, daß die Betende zitterte. Den Kopf hatte Armgart aufs Pult gelehnt. So lag sie wie eine dem Himmel Angehörige … Thiebold hätte sich schon vor ihr selbst niederwerfen mögen; es lag ein so bestrickender Reiz in dein exaltirten Wesen, so viel Zauberisches in dieser gleichsam vor sich selbst entfliehenden, sich mit Gewalt mäßigenden und doch erglühend genug, man sah es, vorhandenen Leidenschaft, daß Thiebold nur durch die geringe »höhere Ausbildung seiner Gefühle« verhindert wurde, seiner begeisterten Stimmung die einer solchen Situation entsprechenden Worte zu geben.

Fräulein von Hülleshoven! sagte er aber, sich dennoch einen Schwung gebend. Die unvergeßliche Reise von Drusenheim – die Reise durch die Siebenberge – diese Nacht dann mit Extrapost –! O ich erinnere mich nie etwas Aehnliches – oder ich erinnere mich allerdings … oder Sie vielmehr erinnere ich – das ist nämlich der bewußte Gegenstand –[116] an den Moment, wo ich Ihnen gegenübersaß und Sie mir die Hand gaben – Wissen Sie noch?

That ich das? sagte Armgart und blickte die neben dem Erlöser stehende Madonna an, als läse sie alles, was sie zu sprechen wagen dürfte, erst von deren Zügen ab …

Das heißt, sagte Thiebold und rückte auf der Bank etwas näher, das heißt, liebenswürdigstes Fräulein, Sie setzten ohne Zweifel damals voraus, daß Ihnen –

Ich setzte nichts voraus! sagte Armgart. Ich war in einem Zustand völliger Betäubung …

Einmal doch – ging Thiebold seinem Ziele, Bonaventura's Auftrag zu erfüllen, näher, – einmal doch schienen Sie völlig und sehr, sehr zurechnungsfähig – als Sie nämlich mit Innigkeit mir oder vielmehr – ja mein Freund und ich – Sie wissen – Benno von Asselyn – liebt Sie, und auch ich – ich kann bei Gott und auf Ehre! ich kann allerdings nicht leugnen –

O nicht das, Herr de Jonge! hauchte Armgart und hielt die Hand wie zur Abwehr …

Hätt' ich eine Ahnung gehabt, daß mein Freund Sie in sein Herz geschlossen hat, nie würde ich selbst Ihnen soviel – Beweise meiner – Hochachtung gegeben haben, meiner aufrichtigsten – Fräulein, ich kann wol sagen, stellenweise wahnsinnigen …

O nicht das! Nicht das! wiederholte Armgart …

O Sie kennen die Liebe nicht, diejenige, mein' ich, die Ihr Anblick in einem – Männerherzen – entzündet, in einem Herzen, das im Stande ist – wie gesagt – einem Freunde zu Liebe selbst die schmerzlichste Entdeckung seines Lebens –[117]

Was befahl Ihnen der Domherr mir zu sagen? unterbrach Armgart …

O mein Fräulein! O ich bin zu tief beschämt! O, im Wagen damals glaubten Sie, leugnen Sie es nicht, Benno, der, der säße Ihnen gegenüber! Ja, in der »Verschwiegenheit des Dunkels« ergriffen Sie – Ihre Hand wenigstens, Ihre Handschuhe waren es – die Hand Asselyn's, drückten diese voll Innigkeit, ja es fehlte nicht viel, was ich dem Domherrn nicht einmal sagte – Ich beichtete ihm nämlich meinen Betrug – daß nämlich Ihre Hand die seinige – ans Herz zu drücken vermeinte – worauf – wie gesagt aber – Sie waren im stärksten Irrthum! Nämlich der von Ihnen Beglückte war ich! … Und, weit entfernt nun, mein Fräulein, dem Glück eines von mir aufrichtig geschätzten Freundes – oder vielmehr eines meiner »besten Bekannten« entgegenzutreten, möcht' ich nur eine Antwort auf die Frage haben: Soll ich ihm nicht das aufrichtige Geständniß machen, mein angebetetes, liebenswürdiges Fräulein, über das, was in jener Nacht zwischen uns allen dreien vorgefallen ist, soll ich es ihm nicht sagen, ihn aufklären –? …

Nein! rief Armgart … Nein! wiederholte sie, und noch einmal sprach sie mit fester Stimme: Nein!

Thiebold wußte nicht, wie ihm geschah … Er mußte sich vor Schrecken über diese leidenschaftliche Ablehnung unwillkürlich umsehen …

Ich soll nicht –? stotterte er …

Nein! war die wiederholte Antwort, die sie nur abbrach, weil am Tabernakel hinter dem Altar plötzlich[118] ein Geräusch gehört wurde. Es schien eine Thür gegangen zu sein …

Dennoch nahm Thiebold nach einigem Aufhorchen die Rede wieder auf und war sogar geneigt, in sein Erstaunen den Vorwurf der Undankbarkeit gegen Benno zu mischen – »von ihm selbst sollte allerdings keine Rede mehr sein« – aber Fräulein, Sie misverstehen mich! Oder vielmehr im Gegentheil … Der Domherr wünscht, daß ich die Wiederherstellung der Wahrheit und Benno's Glück befördere! Er selbst will es übernehmen, Benno dann zu sagen –

Nein! Nein! Nein!

Aber ich beschwöre Sie – soll denn alles, was gewesen ist, ausgelöscht –?

Ja!

Die Fahrt durch die Berge gar nicht stattgefunden –?

Nein!

Benno glaubt aber in Ihrem Herzen –

Nichts soll er glauben –

Das ist ja unglaublich! Geradezu fürchterlich! Ich habe ja mit Benno ein ganz freundschaftliches Abkommen getroffen, daß blos Ihre eigene Entscheidung –

Nun sprang Armgart auf …

Ein Ton war beiden zu gleicher Zeit vernehmbar geworden, der ganz in der Nähe dem Schließen eines Schlüssels oder dem Zufallen eines Schlosses entsprach …

Da ist ja jemand! rief Armgart mit erstickter Stimme.

Und schon war auch Thiebold aufgesprungen. Mit drei Sätzen war er auf der Erhöhung des Altars und starrte abwechselnd auf die beiden Vorhänge, die zur Seite hingen …[119]

Hinter dem Altar war's! rief ihm Armgart nach …

Thiebold hob links die rothen Vorhänge auf … Er sah den Raum, der die Sakristei bildete …

Wer ist hier? donnerte Thiebold, wild gereizt wie er war, in das Dunkel hinein …

Armgart, bei aller Angst mit schnell gefaßtem Entschluß, sprang an den zweiten Vorhang, als wenn ihre schwache Kraft einen hier Durchschlüpfenden zurückhalten könnte …

Auf Thiebold's Rufen folgte keine Antwort … Deutlich aber vernahm man immer noch ein polterndes Geräusch, das die Anwesenheit irgendeines lebendigen Wesens bestätigte …

Es wird eine Katze sein! sagte endlich Thiebold mit dem ganzen, überströmenden Ausdruck seiner Wehmuth, während Armgart sich bereits in gleicher Stimmung auf einen Geist vorbereitet hatte … Sie stand starr und hielt krampfhaft den Vorhang in ihren Händen fest …

Thiebold ging im Dunkeln mit wiederholtem: Wer ist hier? um die Hinterwand des Hochaltars herum …

Stoßen Sie sich nicht! rief Armgart mit elegischem Schmelz. Dort steht Schrank an Schrank …

Es waren die Schränke zur Aufbewahrung der Opfergeräthschaften und Meßgewänder …

Thiebold kam auf der andern Seite Armgart entgegen und versicherte, nichts gesehen zu haben …

Er ging dann noch einmal zurück. Armgart folgte sogar … An einer Thür, die zum Archiv führte, rüttelten beide … sie war verschlossen … An den Schränken rüttelten sie … alles war unversehrt …[120]

Wie beide auf der andern Seite wieder herauskamen und Thiebold das Erstaunen über Armgart's Erklärung und ihre den beiden Freunden nun schon während ihrer ganzen Anwesenheit in der Gegend bewiesene Kälte in feierlichstem Ernste wieder aufnehmen wollte, Armgart sich ihm entzog und fast entfloh, wurde die Aufmerksamkeit auf ein anderes Geräusch gelenkt, das sich leichter erklären ließ …

Peitschen knallten, Schellenbehänge von Rossen klingelten, alle Hunde des Schlosses bellten …

Sie kommen von Neuhof zurück! rief Armgart wie erlöst …

Jetzt hätte Thiebold viel darum gegeben, wenn die Rückkunft des Onkels und Terschka's sich noch um eine Viertelstunde verzögert hätte … Sich selbst gab er auf, nur in der That die Liebe zu seinem Freunde hieß ihn noch reden … Er hatte schneidende Vorwürfe, bittere Vermuthungen auf seinen Lippen …

Im ganzen Schlosse wurde es mehr und mehr lebendig …

Kommen Sie! rief Armgart. Sie sind's!

Damit drängte sie zur Thür …

Die Rückkehrenden waren es in der That, und Thiebold hatte sogar eine Ahnung, Benno und Bonaventura würden mitkommen; ersterer vielleicht um ihn abzuholen und auf seinem Heimgang nach Witoborn zu begleiten …

Er konnte Armgart nicht zurückhalten, nicht um Aufklärung bitten, keines seiner aufgeregten Gefühle weiter aussprechen … Schon gingen im Schlosse an allen Flanken die Klingelzüge … Man hörte das Anfahren[121] der großen vierspännigen Kutsche, des Staatswagens der Dorstes, und einer zweispännigen kleinern, die für Terschka und Benno bestimmt gewesen war …

Thiebold, mit äußerstem Schmerz das Verschwinden einer schönen Lebenshoffnung wie für ewig fürchtend, hätte wenigstens nur noch Armgart's Hand ergreifen mögen und er that dies auch und hielt sie fest und bat und flehte um Aufklärung …

Lassen Sie! sagte Armgart. Das Wort war fast verletzend, vornehm sogar. Sie war plötzlich wie gereift zur Jungfrau …

Aus allen seinen Himmeln gestürzt, von Armgart's Kälte wie mit Eisesluft angeweht, folgte Thiebold mit langsamem Schritt …

Im Hofe – da war es lebendig … Die Hunde sprangen und rissen an den Ketten, an die sie zur Nacht gelegt wurden … Laternen wurden emporgehalten … Hin und her rannten die mitgekommenen Diener … Mit Lichtern kam der Diener, der bei Tisch servirt hatte, von der Stiege herunter und rief nach dem neuen Hausknecht, den niemand bemerken konnte …

Vorm Portal hielten die Wagen. Schon standen in der großen Eingangsflur, sich aus ihren Pelzen herauswickelnd, in schwarzen Fracks und weißen Halsbinden und Trauerhandschuhen der Onkel Levinus von Hülleshoven, Baron Wenzel von Terschka und in der That auch Benno …

Bonaventura fehlte … Es ließ sich annehmen, daß er im Trauerhause bei seinem Stiefvater zurückgeblieben war.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 5, Leipzig 1859, S. 87-122.
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