5.

[122] Armgart lag, als müßte sie irgendwo ihr sie überwältigendes Gefühl aufs mächtigste ausströmen, im Arm des Onkels …

Sie küßte ihm den Reif von seinem großen graublonden Bart, in dem sich ein Antlitz verbarg – vergleichen wir's nur geradezu mit einem menschlich gemodelten Thierkopf; denn gibt es gutmüthigere Augen als die des Pferdes oder eines treuen Hundes? Stirn, Backenknochen, Nase (mehr konnte man vor dem Barte nicht sehen) waren hart und massiv, aber die wasserblauen Augen, ohnehin von der Fahrt und der Kälte feucht, glänzten so scheu, so gut, so treuherzig, wie – rügt den Vergleich! – die Augen der großen Bulldoggen an den Ketten im Hof. Armgart umschlang ihn mit einer Innigkeit, als sollte alles, was durch das Gespräch in der Kapelle sich in ihrer Brust vom Gefühl einer mit Gewalt abgelehnten Liebe gesammelt hatte, doch jetzt Einem zugute kommen …

Benno grüßte einfach und schüttelte dem gewissensscheuen,[123] im Laternenschimmer vollends geisterbleichen Thiebold die Hand …

Terschka war schon unterwegs, die Tante zu begrüßen, die allen auf halber Treppe entgegenkam, während sich oben auf dem Corridor auch Paula sehen ließ, vor der schon einer der mitgekommenen Diener mit einem silbernen Leuchter von mehreren Flammen stand und ihre zu allen Zeiten feierliche Erscheinung würdevoll beleuchtete.

Gesund und wohl? konnte man freudigst und ungehindert fragen …

Alles glücklich abgelaufen? fragte man schon weniger ungehindert … Denn in Gegenwart Paula's mochte man nicht verrathen, daß sie eine Störung des Leichenbegängnisses im Düsternbrook gesehen hätte – darüber war keinem von den Zurückgebliebenen ein Zweifel, daß wirklich dort etwas vorgefallen sein mußte …

Oben im Vorsaal ließen die Männer ihre schweren Bekleidungen und fanden, links sogleich durch das Eßzimmer schreitend, in einem heute noch gar nicht geöffnet gewesenen, inzwischen geheizten gemeinschaftlichen großen Wohnsaale im linken Thurm die Zurüstungen zum Thee.

Das war denn ein traulicher Raum. Ein großer runder Tisch, höchst kunstvoll ausgelegt, war nur in der Mitte mit einer kleinen Damastdecke belegt … Auf diesem stand schon die siedende Theemaschine … Nähtische waren dicht noch an diesen Tisch gerückt mit weiblichen Handarbeiten … Eine große, mit einem Blechschirm bedeckte Ampel mit mehreren Flammen, die mit metallenen Ringen an der Decke befestigt war, beleuchtete das ganze, rings mit Gemälden geschmückte,[124] teppichbelegte Zimmer … Die weißen Fenstervorhänge waren niedergelassen … die Gardinen waren zugezogen … das Feuer in einem hohen Kamin prasselte … es war eine Stätte des Friedens …

Onkel Levinus schritt, umschlungen von Paula und Armgart, wie ein von langen Reisen Zurückgekehrter daher … Es war ein untersetzter, stämmig gebauter Herr … In seinem Lächeln lag sogar etwas List, jene List, die der Ausdruck des Geistes ist, den dieser immer dann hat, wo er sich waffen- und harmlos gibt. Der Junggesell zeigte sich in der chevaleresken Begrüßung der Tante, die ihm auch ihrerseits ganz holdseligst entgegenkam und jetzt nicht das Mindeste verrieth von ihren gewohnten Misbilligungen z.B. seiner Methode, die Merinoschafe aus Spanien einzuführen, seines Bohrens auf Steinkohlenlager, die sich nicht fanden, seiner Gestütsveredelungsversuche und ähnlicher Dinge, die sie seit Jahren an dem phantastischen und kostspieligen Wirthschaftsführer controliren mußte …

Terschka fragte nach dem Postpacket, das sie mitgebracht hätten von Witoborn … Armgart wurde sogleich von der Tante bedeutet, es aus dem Wagen zu holen …

Schon sprangen drei Männer zu gleicher Zeit, den Auftrag ihr abzunehmen … Thiebold nicht am sichersten … Benno schon in beschleunigterer Hast … Terschka der Flinkste …

Armgart hielt indeß alle zurück, bat, sich zu ruhen, und ging allein …

Benno, von einer der Tante an ihm ganz ungewohnten[125] Eleganz, wie ein Hochzeiter, zog die Handschuhe aus und strich sich vor innerer Erregung den schwarzen Bart und sein lockiges Haar …

Und der Onkel erzählte schon:

Bonaventura's Mutter war auf dem Schlosse noch nicht anwesend, aber das große Déjeûner dinatoire, das man zur Stärkung bei den weiten Distanzen der Wohnorte aller Geladenen mit voller Genugthuung antreffen durfte, war höchst kostbar gewesen … Man hatte das Mahl im Stehen eingenommen … um ein Uhr brach endlich der Zug auf … Die Segnungen hatte dann dem Sarge der Geistliche des Sprengels gegeben, in dem das Schloß liegt … Dann hatten die Mönche den Sarg in Empfang genommen, an der Spitze der neue Provinzial, Pater Maurus, Nachfolger des verstorbenen Henricus … Die Beisetzung im Kloster selbst war ohne Feierlichkeit erfolgt … Bonaventura hatte dabei etwas zu sprechen keine Veranlassung … Im Kloster Himmelpfort hatten sich alle Eingeladenen und nur aus Rücksicht um die Dorstes Gekommenen getrennt … Bonaventura war noch mit einem der Wagen des Präsidenten zurückgeblieben, um im Kloster den Pater Sebastus zu besuchen … Dann hatte er wieder nach Schloß Neuhof umkehren und erst morgen im Kreise von Westerhof erscheinen wollen …

Paula hörte diesen Mittheilungen mit Aufmerksamkeit und Ergebung zu …

Benno ergänzte:

Besonders geistlich sind die Gedanken der Leidtragenden nicht gewesen! … Der Landrath machte curiose Späße …[126]

Ja, sagte der Onkel, Späße, die für eine Kindtaufe gepaßt hätten! … Niemand ging jedoch besonders darauf ein …

Die Verabredung zur Jagd ist zu Stande gekommen? fiel Thiebold zerstreut ein …

Graf Hovden, die Hakes, Graf Münnich und andere beauftragten uns, mit der gräflichen Jägerei Rücksprache zu nehmen, sagte Terschka, und die Leute meinen, daß gerade heute Abend noch im Finkenhof das Jagdpersonal versammelt sein würde … Herr von Asselyn schlug vor, heute Abend den Umweg über den Finkenhof zu machen … Ich begleite ihn und so bringen wir alles in Ordnung!

Gut! Gut! sagte der Onkel und deutete die Autorität an, die vorzugsweise Terschka hier gebührte. Der Weg ist ja nicht weit …

Die Tante war inzwischen wieder ungeduldig geworden über Armgart, die erklärt hatte, die Post allein besorgen zu können, und nun nicht wiederkam … Sie schien auch schon zu bemerken, daß die Männer in der That etwas im Rückhalt hatten …

Terschka sprach mit Paula und war die Artigkeit und Rücksicht selbst …

Die zurückgekommenen Diener, die in ihrer etwas altfränkischen Staatslivree, Grün mit Gold, geblieben waren, arrangirten den Thee … Die Herren setzten sich …

Wie still, begann der Onkel mit einer wohltönenden, aber nur leisen und, wie dem Forscher ziemt, nur prüfenden Stimme … wie still kann nun so ein wildes Menschenkind werden! Wie lange hat doch dieser Mann in der Welt rumort! Es ist dein Onkel, Paula! Aber[127] der hat die Spanne Zeit, die ihm der Schöpfer gemessen, benutzt wie sein unveräußerliches Eigenthum! Ein schauerlicher Augenblick, als wir in dem dunkeln, schneeverschütteten Grunde an dem hohlen, blitzzerschlagenen Eichbaum vorüberkamen, wo einst der Deichgraf Klingsohr gefallen! … Ja, vorher schon! … Ich erstaunte, im Dickicht ein gewisses Kreuz wiederzufinden, das, solange der Kronsyndikus noch im Gebrauch seiner gesunden Sinne war, an jener Stelle nie stehen durfte … Bruder Hubertus scheint es gewesen zu sein, der es wieder aufgerichtet hat … Er ist von seiner Reise zurück …

Terschka, immer die Thür fixirend, durch die Armgart zurückkehren mußte, und eine Tasse Thee entgegennehmend, sagte:

Ich bin nun fast ein halbes Jahr in der Gegend, hörte soviel vom Bruder Hubertus und sah ihn heute zum ersten mal …

Er ist erst jetzt von Wanderungen heimgekehrt, die ihn bald in dieses, bald in jenes Kloster seines Ordens, oft bis in die Schweiz hineinführen, erwiderte Onkel Levinus. Gleich beim Anblick des Kreuzes, vor der Störung an der Eiche, dachte ich mir: Jetzt muß wol der Knochenmann wieder dasein!

Welche Störung? fragte schon vor dem »Knochenmann« die Tante und sah Thiebold an, der seinerseits zu der vom herabfallenden Lampenschimmer wie verklärten und nur auf die Erwähnung Bonaventura's harrenden Paula mit gedankenverlorener Andacht blickte …

Ja! fuhr der Onkel fort, das war, um es nur zu[128] sagen, ein recht verdrießlicher Augenblick! Ein förmliches Todtengericht! Ich zitterte für den Präsidenten, der neben dem Domherrn saß und die Scene erleben mußte! Auch der Landrath, wie uns Herr von Terschka später mittheilte, soll sich furchtsam in seine Ecke gedrückt und vergessen haben, daß gerade seine Autorität hier am Platze war … Wer weiß, wie lange diese Scene gedauert hätte, wäre nicht Herr von Terschka zum Wagen hinausgesprungen und hätte die gehemmte Ordnung des Zuges wiederhergestellt …

Tante Benigna's Augen hafteten an denen Thiebold's …

Bruder Hubertus unterstützte Sie endlich, Herr Baron! schaltete Benno ein, den Terschka's gespanntes Warten auf Armgart zu stören schien … Man hätte von ihm, soviel ich höre, diese Großmuth kaum erwarten sollen …

Welche Großmuth? fragte Terschka. Was hat es mit dem Bruder für eine Bewandtniß?

Das zu erklären, fuhr der Onkel fast frauenzimmerlich erröthend fort, möchte –

Die Tante wußte, daß die »Gegenwart der Damen« hinderlich war und fiel sogleich ein:

Welche Störung fiel denn nur vor?

Paula saß jetzt, als besänne sie sich auf einen Traum, den sie vor langer, langer Zeit gehabt haben konnte … Auch Benno sah sie auf das Wort des Onkels mit einem ehrfurchtsvollen Blicke an. Sie machte den Eindruck, als wären unter dem Schutz ihrer weit ausgebreiteten Cherubsflügel alle Dinge der Erde rein und unentweiht …[129]

Der Zug mußte im Düsternbrook eine Biegung machen, erzählte der Onkel, sodaß wir auch im Wagen alles mit ansehen konnten, was vor uns mit dem Sarge geschah. Vier Laienbrüder trugen ihn. Voraus gingen der Provinzial Maurus und die Mönche und alle sangen. Hintennach folgten die Dienerschaften von Schloß Neuhof, die Vorstände der Wirthschaft, die Beamten der Wittekind'schen Verwaltung. Dann erst kamen die Kutschen. Wie der Sarg an der bekannten Eiche vorüberkam, empfing ihn an dem zum Zusehen bequemsten Platze eine dort versammelte Menschenmenge … Bauern, Knechte, Weiber, Kinder, alles dicht geschart … Zufällig machten die Gesänge der Mönche eine Pause … Da ertönte anfangs eine Geige … In lustiger Melodie fiedelte irgendjemand, den man nicht sah, und gerade aus dem Menschenknäuel heraus … Erst konnte man an einen Bettler denken, der die Gelegenheit nutzen wollte, auf die Art zu einem Almosen zu kommen … Bald aber hörte man eine laute Stimme rufen: Schweig, Todtengräber! Hier erst noch drei Hände voll Erde!

Ihr Heiligen! rief die Tante erstaunend, da auch der Onkel im Erzählen feierlich die Stimme erhob …

In demselben Augenblick ging die Thür auf und Armgart kam zurück …

Sie kam ohne die Brief- und Zeitungsmappe …

Niemand fragte jetzt danach, so ergriffen war noch alles von dem eben Mitgetheilten …

Thiebold klärte Armgart rasch über das auf, wovon die Rede war …

Diese hörte wie geisterhaft und abwesend zu …[130]

Schweig, Todtengräber! wiederholte der Onkel. Hier erst drei Hände voll Erde! rief die Stimme. Da trat eine hohe, kräftige Gestalt in grauem Mantel aus der Menge, hielt einen Gegenstand hoch empor, zog den Hut, als wenn er die Raben ringsum, die grauen Wolken, die kahlen zackigen Zweige, die Trauerkutschen grüßen wollte, und rief: Kronsyndikus von Wittekind-Neuhof! Nimm zu deinem himmlischen Ehrenkleid auch noch diesen Orden mit! Ein ab instantia absolvirter Mörder empfiehlt dich der Gnade Gottes, des Heilands und der allerseligsten Jungfrau! Erschein' am Tage des Gerichts mit diesem grünen, damals nicht verbrannten Fetzen Tuche –

Die Frauen blickten starr auf den Onkel, der alle diese Worte mit Feierlichkeit nachsprach … Die Tante war vor Entsetzen halb aufgestanden …

Benno berichtete weiter; denn dem Onkel stockte schon die schwache Stimme …

In diesem Augenblick, sagte er, wo wir alle die gleichen Empfindungen haben mußten, wie Sie sie jetzt allein vom bloßen Berichte haben, war die Scene bereits von Herrn von Terschka unterbrochen worden …

Doch nicht! doch nicht! sagte dieser von einem Nachdenken auffahrend … Noch ehe ich aus dem Wagen war, um die Störung zu unterbrechen, war schon ein anderer Zwischenfall eingetreten … Die Geige –

Bitte! ergänzte Benno. Erst hörte man einen schreckhaften Schrei …

Aber auch Paula erhob sich jetzt … Armgart hatte nicht Platz genommen, obgleich ihr Terschka und Thiebold einen Stuhl holten, wie sie eintrat …[131]

Ganz recht! bestätigte der Onkel. Man erfuhr, daß im Dienstpersonal ein Frauenzimmer ohnmächtig geworden war. Es war das die Lisabeth, die Beschließerin von Schloß Neuhof …

Dann war – das ja wol – jener Küfer? schaltete die Tante mit Entsetzen ein …

Stephan Lengenich! bestätigte der Onkel. Wir erfuhren es später. Die Verwirrung des Augenblicks ließ sich nicht ganz übersehen, weil inzwischen der Zug schon weiter ging und die Mönche schon wieder sangen. Aber den Anblick alles Spätern hatten die doch noch, die nur langsam nachfuhren. In die Rede des damals ungerechterweise angeklagten Küfers hinein ertönte wieder die Geige. Ihr Spiel war so frech, so teuflisch, so voll Hohn fiel sie ein in die furchtbare Rache des Küfers, die sie gleichsam unterstützen wollte, daß jedermann dem nur danken mußte, der sich plötzlich auf den Geiger warf, ihm sein Instrument aus den Händen schlug und ihn, da er Widerstand leisten wollte, fast mit Füßen trat. Das war dann niemand anders, als unser alter guter Freund, der Bruder Hubertus …

Benno und Thiebold mußten sich mit Besorgniß Paula nähern, die wie in Erstarrung wieder in ihrem Sessel saß, während die Tante an die Thür eilte, um sicher zu sein, daß in diesem Augenblick der Erörterung mislicher Familienverhältnisse die Diener nicht hereinkamen …

Ja, das Maß ist gerüttelt und geschüttelt voll, sagte der Onkel tiefschmerzlich und die Hände gefaltet auf den Tisch vor sich hinlegend, das Maß der Ehrenkränkung, die seiner Familie ein wilder und entsetzlicher Mann hinterlassen[132] hat! So ging es doch mit ihm fast funfzig Jahre hindurch! So klagen ihn todte und lebendige Zeugen an! So öffnen sich die Gräber, um ein Geheimniß nach dem andern ans Tageslicht zu bringen! Paula! Du gutes, gutes, treues Kind –

Auf diese liebevolle Anrede, die dem Schmerz galt, den Paula um die Ehre ihrer Familie, um Mutter und Vater empfinden mußte, hatte sie sich rasch aus dem Zimmer entfernt … Armgart flog ihr wie ihr Schatten zu hülfreichem Troste nach …

Nun erzählte die Tante den theilweis hocherstaunenden Männern Paula's Traumgesicht … Alles was sie gesehen hatte, wurde von den Männern bestätigt …

Wild, wild war der Anblick dessen, was an der Eiche geschah! sagte der Onkel, der seinerseits an diese Visionen schon gewöhnter war. Da mußte sie wol erwachen … Der Geiger war der Taugenichts, der alte buckelige Stammer! Rächen wollte er sich für die Verweisung aus dem Schlosse durch den Präsidenten … Der Küfer hatte den Fetzen Tuch, der einst vom Deichgrafen dem Kronsyndikus abgerissen war und so lange nicht gefunden werden konnte, wenn es überhaupt der echte war, auf den silberbeschlagenen Sarg, mitten unter die Ordensinsignien gelegt! Als er das gethan, taumelte der Mann – es war auf den Schrei der Lisabeth – wie ein Kind und wurde von dem anwesenden Löb Seligmann gehalten, dem Juden, der ihn zu kennen schien. Herr von Terschka, Sie werden ja wol das Nähere von dem drolligen Musikschwärmer erfahren[133] können! Aber dem Geigenspieler ging es schlimm. Hubertus zertrat ihn fast; obgleich Stammer der Bruder des Mädchens war, um das auch der Bruder Abtödter den Kronsyndikus so bitter haßte …

Die Tante, die den Onkel in der weitern Mittheilung der Geschichte des Mönchs Hubertus nicht stören wollte, entfernte sich, um nach Paula zu sehen … Es kamen jetzt Bestandtheile eines Soupers, auch einige Flaschen Wein, die sie den Männern überließ …

Der Abtödter, hört' ich, nennt man ihn? fragte Terschka kopfschüttelnd, als die Diener fort waren …

Man nennt diesen Mönch so in den Klöstern und im Volke! erklärte der Onkel. Sein eigentlicher Name ist Buschbeck …

Buschbeck! wiederholte Terschka befremdet und wiederholte lange sinnend: Buschbeck? Buschbeck? …

Terschka's eigenes, allen hier unbekanntes Leben schien mit diesem oder einem ähnlichen Namen eine Beziehung zu haben …

Der Onkel erzählte mit gedämpfter Stimme und rasch die Abwesenheit der Frauen nutzend:

Auch Sie, Herr von Asselyn, werden sich ja wol aus Ihrer auf Hof Borkenhagen verlebten Jugend des Försters Buschbeck – nein, Sie mußten ihn schon nur als Mönch gekannt haben –

Es muß jener Laienbruder sein, sagte Benno, der dem alten Hedemann einmal ein Pferd mit Sympathie curirte … Dreizehn Haupthaare von einem Scharfrichter in einem Teig von Weizenmehl und Oel eingegeben und das Pferd erhielt sich …[134]

Der Glaube macht selig! lachte Thiebold, der sich allmählich zu finden und schon wieder zu serviren anfing …

Aber der Onkel entgegnete:

Warum? Die Geheimnisse der Natur sind unergründlich!

Terschka, immer sinnender und ein anerkannter Virtuose der Reitkunst, fiel ein:

Die Hauptsache an dem Mittel werden das Oel und vielleicht auch die Haare gewesen sein! Wann kam denn dieser Mann hier in die Gegend?

In den Jahren vor den Befreiungskriegen, etwa 1808, erzählte der Onkel. Es war ein schlanker und gewandter Mann, der bei den Holländern in Java gedient hatte …

In Java! sprach Terschka leise und sein sonst schon immer wachsbleicher, fast gelblicher Teint nahm eine eigenthümliche Färbung an … Er verlor in dem Grade seine gewohnte Elasticität, daß er jetzt ganz als der Vierzigjährige erkannt werden konnte, der er war, während sonst der viel jugendlichere Benno fast älter aussah, als er …

Er rühmte sich mancher geheimen Jägerkunst und manchem galt er für einen Freischützen! fuhr Onkel Levinus fort … Aber sein Lebenswandel war achtbar und stimmte wenig mit dem Ton, der damals auf Schloß Neuhof herrschte, wo ihn der Kronsyndikus anfangs zum Revierförster machte … Es gab einst eine wilde Zeit auf dem Schlosse da, das wir heute so still und gespenstisch sahen! … Freiherr von Wittekind war durch die Verführungen des damaligen kasselschen Hofes in ein Leben der[135] tollsten Liebeshändel gerathen. Immer hab' ich gefunden, daß Männer bei einer solchen Lebensweise zuletzt von ihrer Sinnenglut förmlich unterjocht werden. Jeder Gedanke verwandelt sich ihnen in Unlauterkeit, jeder Blick auf ein Weib in Begehrlichkeit, jede Voraussetzung über die Tugend des Menschen in den frechsten Glauben an schlechte Möglichkeiten. Damals war auf dem Schlosse eine Person allmächtig, ein Frauenzimmer zweideutiger Herkunft – eine gewisse –

Benno befreite den Onkel von der Verlegenheit, ganz offen über eine ominöse Beziehung zur Dechanei zu sprechen …

Legen Sie sich keinen Zwang an! sagte er. Frau von Buschbeck hat für die Dechanei nie existirt … Höchstens, daß jetzt ihre Schwester mit dem alten Windhack ihr Privaterstaunen austauscht, wie das hübsche Vermögen der Ermordeten, doch an zwanzigtausend Thaler, an den Bruder Hubertus testirt wurde. Die Stifter und Kirchen sind betrogen worden! Hammaker's Vertraulichkeit mit der Alten beruhte auf den Codicillen, die er möglich zu machen wußte, um die durch Nück und unter Zeugenassistenz zweier Herren Schnuphase und Klingelpeter getroffenen gottseligen Bestimmungen für den Fall ihres Todes wieder aufzuheben …

Terschka war über die Ermordung der sogenannten Frau Hauptmann von Buschbeck unterrichtet und lauschte mit der größten Spannung …

Diese außerordentliche Zärtlichkeit einer Person, fuhr der Onkel fort, die nicht einen, nein mehrerlei Teufel im Leibe gehabt haben muß, diese auffallende Anhänglichkeit an den Mönch Hubertus ist eine Folge der Eitelkeit, da sich[136] Brigitta von Gülpen durchaus als die Frau Hauptmann von Buschbeck geberden wollte … Als Hauptmann war der holländische Lieutenant Buschbeck verabschiedet worden; er war nicht von Adel, auch nicht etwa schimpflich entlassen; aus eigenem Antrieb hatte er und leider vor Erreichung seines höhern Pensionsgrades seinen Abschied genommen. Man sagt, weil ein dunkler Schleier gehoben wurde, der auf seiner Vergangenheit ruhen soll … Ich kenn' ihn nicht … Man spricht ja wol von ihm, es wäre ein Scharfrichterssohn? …

Auf diese Frage, die der Onkel an sein eigenes Gedächtniß richtete, wurde Terschka's Auge das des Falken …

Diesem Fremdling, der in einer erwerbslosen Zeit, müde des damals nur noch einträglichen Kriegsdienstes, hingehalten mit seiner nur geringen Pension, die einfache Stelle eines Försters annahm, schenkte die damalige Wirthschaftsführerin des Freiherrn, Fräulein Brigitta, ihr Herz. Sie war feurigen, lebhaften Sinnes, häßlich dabei wie eine Fledermaus. Der Fremdling konnte sich ihrer Zudringlichkeit nicht erwehren; der Kronsyndikus that nie etwas umsonst und wünschte auf diese Art von einer Person befreit zu sein, die ihm über den Kopf wuchs. Der Abenteurer mag aus Willensschwäche und verblendet von glänzendern Anerbietungen, zugleich berauscht von der Wildheit des damaligen neuhofer Lebens, Zugeständnisse gemacht haben, die er später bereute. Seinen spätern Aeußerungen zufolge will er niemals ein Weib geliebt haben, als nur einmal eine Tochter eines seiner Waldhüter, ein allerdings auffallend schönes Kind, Hedwig Stammer hieß sie, schlank, hochgewachsen,[137] die Schwester dieses Buckeligen, den er heute mishandelt hat …

Nach einer Pause des Erstaunens über diese Zusammenhänge fuhr der Onkel fort:

Hedwig Stammer wurde im stillen seine Liebe und bald entdeckte diesen Treubruch, wie sie es nannte, die Megäre auf dem Schlosse. Sie ersann eine Rache, zu teuflisch um sie nur nachzudenken, wenn nicht die Umstände Begünstigungen zur wirklichen Ausführung des Unglaublichen gegeben hätten. Die Leidenschaften des Kronsyndikus kannten keine Grenzen. Keine Tugend war ihm heilig. Kein Weib, dem er irgend sich glaubte nahen zu können, ließ er ohne Anfechtung. Dabei begünstigte ihn sogar das Glück, ohnehin sein Reichthum und, wie das in solchen Fällen geht, die Courage. Ihm schien ein Widerstand unmöglich und so vermessen war seine Menschenverachtung, daß er sich an die Unschuldigsten wagte, ja durch Umtriebe aller Art es oft dahin zu bringen wußte, daß diese plötzlich in irgendeiner Weise wirklich von seinem Willen abhängig wurden. Hätte der Mann auf einem Throne gesessen, er würde den größten Tyrannen beizuzählen sein …

Ein Blick auf die Nebenthüren und ein Lauschen nach einem fernen Geräusch drückte die Furcht des Onkels aus, die Frauen möchten zurückkommen … Dem fast übersiedenden Wasser im silbernen Kessel sprangen Benno und Thiebold zugleich bei durch Mildern der Flamme …

Ich will es kurz fassen! fuhr der Onkel sich eilend fort. Der Kronsyndikus hatte sein Auge auf die Frau des Deichgrafen Klingsohr geworfen. Die Vertraute seiner Lüste, die Gülpen, unterstützte seine Hoffnungen,[138] weil ihn Unmöglichkeiten unerträglich im Umgang machten. Mit Verachtung zurückgewiesen, entbrannte er in nur noch wilderer Glut. Da entdeckte die Gülpen die Neigung ihres sogenannten Verlobten und schmiedete einen Höllenplan. Durch verstellte Handschriften machte sie die Deichgräfin, wie sie hieß, zur Correspondentin des Kronsyndikus. Die Eitelkeit des Frevlers war einer völligen Sinnlosigkeit fähig. Taumelnd in seinen Hoffnungen, die ihm leider nur selten fehlschlugen, glaubte er der Versicherung der Gülpen, die Deichgräfin warte nur eine Reise ihres Mannes ab, um ihn zu erhören. Dann würde sie selbst einmal aufs Schloß kommen. In einer Nacht, wo kein Stern am Himmel stand, der Kronsyndikus gegen Mitternacht von einem Gelage heimkehrte, wisperte ihm das Scheusal zu: Die Deichgräfin ist da! Sie bleibt auf die Nacht bei mir zum Besuch, das Wetter ist zu schlecht – Wo? ruft der Trunkene und folgt in rasender Begier dem Weibe, das ihn an ihrer knöchernen Hand im Dunkeln geleitet. Plötzlich ist ihr Licht erloschen, alles ringsum finster. In einer engen, dunklen Kammer trifft er eine schlanke, sich eben entkleidende Gestalt, wirft sich auf sie – und erst wenige Minuten später, als es zu spät war, erkennen zwei Menschen ihren grauenhaften Irrthum …

Die Männer saßen erstarrt … Es bedurfte von Seiten des Onkels kaum einer Erklärung, welche Rache hier ein weiblicher Bösewicht vollzogen hatte, der denn auch das Leben durch die Schlinge eines Mörders verlassen sollte … Dennoch erklärte der Onkel das Vorgefallene ausführlicher:[139]

Brigitte von Gülpen hatte Hedwig Stammer, die sie tödlich haßte, allmählich an sich gelockt und sicher zu machen gewußt … In ihrer Waldwohnung suchte sie sie öfters auf, erklärte, die Untreue des Hauptmanns bräche ihr zwar das Herz, doch wolle sie sein Glück nicht hindern … Sie befahl nur dem Mädchen, die Besuche, die sie ihr, um ihren guten Willen zu zeigen, machte, dem »Herrn von Buschbeck« zu verschweigen … Sie versprach eine glänzende Ausstattung, die Unterstützung des Kronsyndikus und lockte das arme Kind immer mehr und mehr an sich … Eines Abends, da sie es so veranstaltet hatte, daß Hedwig einen Auftrag im Schlosse auszurichten hatte, behielt sie sie bei sich, erzählte von dem »Herrn von Buschbeck«, Hedwig's Geliebten, der noch diesen Abend aufs Schloß kommen müßte und mit dem Kronsyndikus von einer Jagdpartie zurückkäme. Es regnete, es stürmte. Sie versprach, Hedwig's Ausbleiben über Nacht sogleich bei den besorgten Aeltern ansagen zu lassen und brachte sie in eine Kammer, wo sie zur Nacht ruhen sollte. Das arglose Ding, das bis zwölf Uhr vergebens gewartet hatte, entkleidet sich, läßt, da die Gülpen noch erst gute Nacht zu sagen zurückzukommen erklärte, die Thür offen, löscht auf Befehl das Licht, weil die Gülpen von den Wunderlichkeiten des Kronsyndikus und seiner Strenge gegen Untergebene spricht, und nun stürmt die Gülpen plötzlich herein, ruft: Buschbeck ist da! Er kommt … Hedwig fährt auf, rafft ihre Kleider zusammen – – Genug, drei Tage hielt sich das Weib, dem seine Rache nur zu gut gelungen war, vor der Wuth des Försters, dem die[140] Getäuschte, noch in der Nacht vom Schlosse entfliehend, sich sogleich entdeckte, verborgen … Buschbeck würde sie ermordet haben … sie wußte das … Der Kronsyndikus, damals noch sein eigener Gerichtsherr, verfügte gegen den Förster, der ihn persönlich anfiel, erließ sofortige Verhaftung, dann Dienstentlassung. Lachend verzieh er der Gülpen, nannte noch später, als in der That zufällig die in aller Unschuld abwesende Deichgräfin eines Sohnes genas, diesen, den jetzigen Mönch Sebastus, seinen wahren Sohn, d.h. den Sohn seiner Einbildung, seinen Sohn im Geiste. Hedwig Stammer verfiel in ein Nervenfieber und starb. Den sogenannten Hauptmann von Buschbeck wollten die französischen Gensdarmen zwingen, Kriegsdienste zu nehmen oder die Gegend zu verlassen. Er flüchtete sich nach Kloster Himmelpfort, wo ihn der damalige würdige Guardian Henricus beschützte, vollends als er nach dem Tode Hedwig's in den Orden trat. Das böse Weib konnte sich nicht länger im Schlosse halten. Reich ausgestattet an Geschenken, für ihre Lebenszeit gesichert durch eine Pension, zog sie von dannen. Sie stellte sich so wahnsinnig verliebt in ihren Verlobten, daß sie alles, was sie von seinen Sachen als Andenken nur ergattern konnte, mitnahm, javanische Pfeilspitzen, chinesische Götzen, große ausgestopfte Vögel … Die Stammers wohnten dann später in einem Pavillon des Schloßparks und hatten das Gnadenbrot vom Kronsyndikus, der seine Jugendthorheiten späterhin, wie das so geht, wenn die Kraft nachläßt, zu bereuen anfing … Und schon einmal wurde ihm der Geiger zum Verhängniß. Dieser Taugenichts war es, der den Tod seines Sohnes[141] Jérôme dadurch veranlaßte, daß er diesen, der zur Pflege in einem Dorfe jenseit des Gebirges beim Pfarrer Huber, der jetzt hier in Witoborn steht, die Nachricht von der nach Hamburg gerichteten Flucht eines gewissen fremdartigen, schönen Mädchens anzeigte, das damals wiederum auf Schloß Neuhof, wenn auch freilich unter andern Verhältnissen, auftauchte –

Bis zur gänzlichen Vollendung seiner Erzählung gelangte der Onkel nicht, denn in diesem Augenblick kehrten die Frauen zurück …

Tief erschüttert schwiegen die Männer …

Was ihnen auf die Lippen ein ernstes Schweigen legte, war nicht blos das Entsetzen über das Vernommene, nicht blos bei Terschka der mannichfache, fast persönliche Antheil, den er an allen diesen Berichten zu nehmen schien, nicht blos bei Benno die Verbindung alles dessen, was er über Klingsohr und Lucinden wußte, und der Nachhall des grauenhaft dämonischen Wortes des Kronsyndikus: Im Geist ist doch Heinrich Klingsohr mein Sohn! – nicht blos bei Thiebold die Rückerinnerung an jenen Morgen, wo eine so böse Uebelthäterin ermordet gefunden wurde, und an die ihm noch unbekannte Wendung, die das Testament der Ermordeten genommen hatte (Bruder Hubertus sollte in der That das Geld angenommen, aber zu bestimmten Zwecken cedirt haben) – das ernste feierliche Schweigen wurde noch mehr hervorgerufen durch den Gegensatz, in welchem die reine, lichtumflossene, weiblich verklärte Gegenwart der Wiedereingetretenen zu dem Unreinen stand, das durch menschliche[142] Leidenschaft wie aus einem Schwefelpfuhle heraufbeschworen so im Leben ans Licht treten kann.

Die endlich von der Tante mitgebrachte Postmappe, aus der sie schon ihre eigenen Briefe und die für Paula herausgenommen hatte, bot Gelegenheit, daß sich die Empfindungen sammelten und eine Stimmung des Friedens und wenigstens äußerlichen Behagens wiederherstellte …

Auch von Püttmeyer's Besuch erzählte jetzt die Tante … Das lebhafte Interesse, das daran der Onkel nahm, wurde an einem ebenso lebhaften äußern Ausdruck dafür nur durch die weit ausgebreiteten Zeitungen und das fortgesetzte Mahl verhindert …

Auf Schloß Westerhof war man sonst, was die Zeitereignisse anlangte, immer ziemlich spät hinter ihnen zurück. Die neuen französischen Ministerien wurden gewöhnlich erst bekannt, wenn sie schon wieder abgedankt hatten. Man hielt die Zeitungen der nahe liegenden Städte, las sie aber nur von hinten her nach vorn, erst in den Familiennachrichten und dann erst in der politischen Rubrik und diese überschlug man oft auch gänzlich … Paula durfte sogar keine Zeitung früher lesen, ehe nicht die Tante sie censirt hatte; denn schon lange kam es vor, daß Berichte: »Aus Witoborn« oder: »Von der Witobach« über die »Seherin von Westerhof« oder über die »Dorste'sche Erbschaftsfrage« schrieben. Seit dem Kirchenstreit war eine etwas größere Leselust eingetreten. Die Tante, Paula, Armgart, das Stift Heiligenkreuz schwärmten für den abgesetzten Kirchenfürsten. Onkel Levinus entzog sich dem gemeinsamen Geiste der Provinz um so weniger, als für ihn zwar nicht, wie bei Professor Guido Goldfinger,[143] schon der Schöpfer in der Erschaffung der Pflanzen und Blumen das katholische Princip voraus signalisiren wollte, doch die Geschichte, vorzugsweise die der alten Hindus, ihm entschiedene Tendenzen zum römischen Glauben verrieth. Oft schon hatte er mit dem Bruder Hubertus über den Glauben der Chinesen gesprochen und sah überall die Anknüpfungspunkte der Missionäre verfehlt. Er konnte oft auf einige Monate ganz die Chemie, leider auch die Oekonomie vergessen, nur um die Dreieinigkeit nicht in den Glauben des Confucius hineinzutragen, sondern sie »ganz evident« aus ihm heraus zu entwickeln. Eine Reise nach Aethiopien, zunächst um daselbst dem wirklichen Vorhandensein des bekanntlich nur im englischen Wappen und in der Bibel vorkommenden fabelhaften Einhorns nachzuforschen, dann aber auch um sich über alles zu orientiren, was mit dem Cultus der »schwarzen Madonna« bis zum Völkervater Ham zurück zusammenhing, wäre ihm schon bei geringerer Liebe zur Bequemlichkeit eine seiner bedeutendsten Lebensaufgaben gewesen … Den Ghibellinen gegenüber sagte auch er, wie hier alle: »Religion muß apart sein!« d.h. in keine Verbindung und Abhängigkeit mit der sonst verbürgten politischen Loyalität treten.

Der Erörterungen über das Neueste in diesen Streitigkeiten gab es genug …

Terschka schwieg dazu … Er sah in seine Briefe, die zahlreich waren …

Einen schien er darunter zu vermissen. Er betrachtete die Poststempel und fragte:

Ist das die ganze heutige Post?[144]

Armgart fiel ihm in die Rede und begann mit einer plötzlich aufleuchtenden, für die Stimmung des kleinen Kreises fast unpassenden Lebendigkeit und jetzt auch zu Benno gewandt, dessen schmerzlich fragende Blicke sie anfangs gemieden hatte:

Wann soll die Jagd sein? Ich gehe mit! Nicht auf Münnichhof zu den Transparenten, nein! Ich schieße mit den Männern um die Wette! Lassen Sie mir den Pancraz als Leibschütz, Herr von Asselyn!

Armgart! lautete der einstimmige Verweis aus des Onkels, der Tante und Paula's Munde … Alle blickten dabei von ihren Briefen und Zeitungen auf …

Warum denn nicht? fuhr Armgart mit glühendem Antlitz fort. Kann ich nicht schießen? Ich hab's vom Heydebreck gelernt! Soetbeer und Pancraz können bezeugen, daß ich vor Weihnachten auf dem Wege zum Stift im Niederholz ihnen begegnete, dem Pancraz die Flinte aus der Hand nahm und einen Hasen traf, der unfehlbar mir über den Weg gelaufen wäre! Ich wollte kein Unglück haben …

Die Männer mußten auflachen über diese eigene Art, dem Schicksal seine bösen Vorbedeutungen mit Gewalt zu vereiteln …

Die Tante sah nur kurz vom Brief einer guten Freundin auf und bemerkte:

Deshalb entdeck' ich auch in deinem Zimmer immer die meisten Spinngewebe! Du denkst, Spinnen bon espoir. Ich aber denke, jedes Unglück, das sich nur durch Wildheit und Unordentlichkeit abwenden läßt, muß man getrost ertragen![145]

Auch dieses Streiflicht auf Armgart's nicht eben besonders pünktliche Natur blieb nicht ohne ein Lächeln der Männer. Nur, daß sie hätten hinzufügen mögen: Aber laß uns doch über dich lachen, du süßer Narr! Gerade dein Koboldsgeist ist's ja, der andern so himmlischer Abkunft erscheint! Rumore, wie du willst, verschleppe Bücher und Nähtereien und Federn und Dintenfässer; gerade darin liegt uns ja dein bestrickender Reiz! … Armgart faßte jedoch dies Lächeln nicht so. Düster blinzelte sie die Reihe herum und musterte, wer sich zu lachen erlaubt hätte … Vorwurfsvoll blickte sie besonders auf Thiebold, dem sie sogar laut sagte: Das amusirt Sie wol? … Benno's Blick hielt sie nicht aus … An Terschka huschte ihr Auge noch scheuer vorüber …

Benno sah das ganze seit Wochen so befremdliche Wesen und staunte …

Inzwischen sprach die Tante von den Ombres chinoises und jetzt mit der größten Schonung. Sie rühmte die Philosopheme Püttmeyer's ebenso, wie sie sie heute früh verworfen hatte … Sie kam darauf durch ihre Lectüre …

Ich lese da eben einen Brief von der guten Angelika Müller aus Paris! schaltete sie ein. Was ist die in neuen Verhältnissen! … Die Fulds sehen die Minister und die berühmtesten Namen bei sich … Ei, Herr von Terschka, Madame Fuld läßt sich Ihnen empfehlen … Und ob Sie nicht im nächsten Sommer wieder auf ihrer Villa erschienen? … Die neue Erweiterung des Gartens, des Pavillons, würde ganz nach Ihren Ideen gebaut werden, schreibt Angelika … Und wann Sie denn[146] nach Wien reisten? ließe Madame Fuld fragen … Ei, ei, Herr von Terschka, welches Interesse von einer so jungen und gewiß höchst liebenswürdigen Frau!

Armgart fixirte Terschka aufs lebhafteste, als er dies Lob der Frau Bettina Fuld bestätigte … Paula mußte ihre Hand auf Armgart's Scheitel legen, wie gleichsam um ihre stürmenden Gedanken zu beruhigen …

Jede Lücke des nicht im wohlthuenden Zusammenhange bleibenden Gesprächs gehörte natürlich wieder Thiebold … Mit seiner immer lebendigen Theilnahme, mit seiner Empfänglichkeit für alles und jedes füllte er sie … Die Tante überhäufte ihn mit Thee, Zwieback, kalten Fleischspeisen und einem »Herr von Jonge« nach dem andern. Er war eben der Liebling ihres Herzens. Als endlich die Rede fiel, daß die Männer wirklich noch auf den Finkenhof gehen und mit dem gräflichen Jagdpersonal die versprochene Rücksprache nehmen wollten, und Benno und Thiebold erklärten, sie würden von dort auf einem kürzern Wege zu Fuß nach Witoborn zurückkehren, protestirte die Tante mit Beseitigung aller ihrer noch unbeendigten Lectüre entschieden und behauptete, eine solche Gefahr vor Schneeverwehungen nimmermehr zuzugeben … Die jungen Männer versicherten, daß der Schnee fröre und ihnen diese Wanderung den größten Genuß gewähren, ja Bedürfniß sein würde. Auf die immer und immer wiederholten Einwendungen der Tante wurde zuletzt Armgart ausfallend und fand es sonderbar, Männern ihren Willen zu nehmen. Sicher hätte dies kühne Wort dann die wechselnde Ebbe und Flut im Gemüth der Tante zum Ueberströmen der letztern gebracht, wäre nicht der Onkel gleicher Meinung[147] gewesen und hätte erklärt, wie man nur den jungen Herren ein Vergnügen rauben könnte. Dabei that er, als wenn ja auch nur sein aufopferndes jahrelanges Leben hier unter den Frauen auf Schloß Westerhof schuld daran wäre, daß er nicht die anstrengendsten Entdeckungsreisen nach Cochinchina unternommen hätte.

Paula's Schweigen gebot den Aufbruch zu beschleunigen … Es war ihnen allen schon geschehen, daß die Leidende eben noch theilnehmend ihren Gesprächen lauschte und plötzlich auf eine Anrede im Traum erwiderte …

Als die Männer gegangen waren – Thiebold mit bedeutsamen Seufzern, Benno vergebens auf den Händedruck hoffend, der ihm von Armgart sonst immer so unbefangen geworden, Terschka fast von ihr ausgezeichnet durch manche beflissene Frage, manche lebhaft erwidernde Antwort – überschüttete die Tante Armgart mit all dem Mismuth, der sich in den gespannten Zuständen ihres Gemüths seither angesammelt hatte. Von Tage zu Tage nahm die Reizbarkeit und Ungeduld Benigna's zu. Ein ängstlicher Blick in die Zukunft verdüsterte ihr alles, was sie umgab, und schon lange war es immer nur Armgart, die der Blitzableiter aller ihrer Verstimmungen werden mußte.

Nein, je älter, desto unerträglicher wirst du doch, Armgart! rief sie und das noch in Gegenwart des Onkels. Seit du von Lindenwerth zurück bist, erkennt man dich nicht mehr! Verkehrt warst du schon immer; aber so vorwitzig, wie jetzt deine Aeußerungen sind, so keck, wie ich dich z.B. vorhin drüben im Durchstöbern der Postmappe fand,[148] bist du nie gewesen! Hat es das Fräulein Müller versehen, die in ihrer Geduld und Nachgiebigkeit sich jetzt sogar den Sitten eines vornehmen Judenhauses in Paris fügt, oder ist dir die Stiftsdame zu Kopf gestiegen oder ich weiß es nicht, was die Schuld trägt! Die Jagd mitmachen! Hasen schießen, die einem über den Weg laufen könnten! Wahrhaftig! Ich habe gar keine Geduld mehr für dich!

Nun, nun, nun, nun –! beschwichtigte der Onkel fortlesend …

Und Paula bat schmeichelnd:

Tantchen!

Armgart aber stand wie das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt trägt. Alles Weh der Erde legte sich um ihren mit lächelnder Duldung geöffneten Mund …

Deine Mutter war aber ebenso! fuhr die erzürnte Schwester derselben fort. Und dein Vater, der nicht minder! duckte sie den aufblickenden Onkel nieder. Von einer Jagd kam auch deren erste Uneinigkeit. Monika wollte auch schießen können und ging mit auf die Jagd und als Ulrich einigemal fehlschoß, lachte sie und hielt es ihm mit Spott vor. Ein Mann kann vom Weibe viel ertragen, aber ihm unritterlich zu erscheinen, reizt. Zumal bei einer solchen Empfindlichkeit, wie bei allen diesen Hülleshovens! Ja, versteck' dich nur jetzt so hinter Paula! Geh nur so herum und thu', als wenn du deine Rechtfertigung wie eine verlorene Stecknadel im Zimmer suchtest! Auch liesest du nichts, du arbeitest nichts, die Vielliebchen werden wol nach einem Jahre fertig sein, Musik hörst du kaum, geschweige daß du sie wieder vornimmst; ganz wie[149] deine Mutter war, die auch noch jetzt, »hoch in den Dreißigen«, ein reines Kind sein soll! Auch an dir wird die Familie wenig Freude erleben …

Armgart, statt zu reden, hob die gefaltenen Hände gen Himmel …

Paula besänftigte die Tante, die jedoch von Armgart selbst unterbrochen sein wollte, um versöhnt zu werden. Armgart blieb still. Keine Schmeichelküsse, keine Liebkosungen, keine Scherze, nichts gab sie wie sonst. Ebenso erblaßt, wie vorhin hocherglühend, ging sie im Zimmer hin und her, machte sich mit ihren glänzend aufgeschlagenen Augen dies und das zu schaffen und sagte nur zur »factischen Berichtigung«:

Die Mutter ist fünfunddreißig Jahre!

Der Onkel wollte jetzt auf sein Zimmer und Frieden und die Stimmung der Güte zurücklassen. Das neue Aufbrausen der Tante unterbrach er durch ein lautes Vorlesen eines der erhaltenen Briefe. Dabei hielt er seine linke Hand in die Höhe. Er wollte, daß sie Armgart ergriff und als Ablenker ihrer Stimmung benutzte. Armgart sah die freundliche Geberde und stürzte auch auf die Hand zu, küßte sie und drückte sie heftig an ihr Herz.

Jetzt empfand die Tante den Neid ihrer »Liebe«. Dieser Neid äußerte sich in Thränen, die ihr auf die Wange rollten …

Des Onkels fest vorlesende Stimme hinderte noch die Rückkehr zu den sich schon in Güte lösenden Empfindungen; vorläufig war es Paula, von der die Tante ans Herz gezogen wurde …

Die Gräfin Erdmuthe von Salem-Camphausen dankte[150] (nach des Onkels in alle diese aufgeregten Stimmungen eines hochgestellten, edlen, doch von seinen vielen Erlebnissen tief erschütterten Familienkreises beschwichtigend einfallendem Bericht) auf das von ihm erhaltene Schreiben aufs verbindlichste. Sie war glücklich in England angekommen, wohnte auf dem Lande bei Lady Elliot und wünschte ihrerseits nur den friedlichsten Fortgang aller der Dinge, die Gottes Rathschluß über das Schicksal beider Linien verhängt hätte. Erst bei einigen religiösen Anzüglichkeiten und der Erwähnung der Krankheitszustände der jungen Comtesse hörte der Onkel im lauten Vorlesen, das er zur Dämpfung des Streites wörtlich begonnen, auf …

Die Tante benutzte die nun entstehende Pause und knüpfte an London Betrachtungen über Paris und würde sich selbst auf Aethiopien, China und die Chemie eingelassen haben, wenn das Gespräch nur ausdrückte, wie sehr »ihr Herz« bei alledem unter Armgart's Trotz und verhärteter Gesinnung litt …

Der Sturm der Gemüther war indessen vorüber … milderes Wetter stellte sich ein und endlich schlug es neun, wo man auf dem Lande schon an die Nachtruhe denkt …

Der Onkel erhob sich zuerst und erklärte wiederholt, noch arbeiten zu müssen … Die Tante plauderte von einigen Anmeldungen ihrer Freundinnen zu den Exercitien, die Pfarrer Müllenhoff auf Betrieb der Frau von Sicking arrangiren sollte …

Der Onkel erwiderte:

Aber der rauhe Mann eignet sich doch gar nicht zu[151] dergleichen! Die indischen Fakirs sind keine Braminen! Im Ganges gibt es mancherlei Bäder! Ich hoffe, daß er nichts unternimmt ohne den Domherrn, seinen Vorgesetzten …

Die Tante, mit dem unendlichsten Bedürfniß nach Einverständniß, stimmte vollkommen diesen Aeußerungen bei. Auch sie fand Müllenhoff's Weise so übertrieben, so aufreizend, daß es für die Religion selbst Gefahr brächte …

Und der Onkel fiel ein:

Wie ich immer gesagt habe …

Wie Sie immer gesagt haben … bestätigte die Tante …

Den Finkenhof kann man den Leuten nicht nehmen …

Den kann man ihnen nicht nehmen …

Man macht dem Mann alles nach Wunsch …

Und doch ist ihm nichts recht …

Den eigenen Eingang zur Sakristei in unsrer Kapelle geb' ich ihm auf keinen Fall …

Wie werden Sie denn! …

Seine Manieren sind unglaublich! Mitten in der heiligen Messe putzt er an den Leuchtern und schüttelt den Kopf über den alten Tübbicke …

Den guten alten Tübbicke …

Armgart kam jetzt wirklich zur Gruppe, die der Onkel, die Tante und Paula bildeten, mit hinüber …

Die Schulkinder, fuhr der Onkel fort, läßt er eine Stunde lang knieen, um ihnen seine sogenannte Kniesteifigkeit zu vertreiben!

Zu Lichtmeß will er Unterricht geben im richtigen Tempo des Rosenkranzgebetes![152]

Diese Harmonie braucht der Himmel nicht, wenn's nur in unsern Herzen keine Dissonanzen gibt!

Wer jetzt ein Blumenstöckchen in eine Kapelle stiftet, von dem will er vorher die Anzeige haben, ob er auch keine Alfanzereien bringt!

Und ich denke, wenn ein liebend Gemüth einen Tannenzweig brächte oder ein thönernes Lämmchen …

Es ist das gewiß auch eine kindliche Gabe!

Ei, es hat sogar einen ernsten Sinn und erinnert an manchen bedeutungsvollen Mythus, der bereits bei denen alten Aegyptern als eine Vorahnung zu betrachten war zu manchem heiligen spätern Gebrauch!

Die Tante gähnte nun zwar, sagte aber:

O Sie sollten ihm das alles einmal auseinandersetzen, lieber Hülleshoven!

Der Onkel küßte jetzt Armgart … Das süßeste Einverständniß schien hergestellt … Nur Eines fehlte noch, daß auch die Tante mit Armgart sich ausdrücklich aussöhnte …

Aber dieser feierliche Moment blieb nach der Entfernung des Onkels aus …

Paula ging … Die Diener waren schon zugegen … Armgart sprang sofort hinter Paula her und schloß sich ihr an … Die Tante blieb allein … Sie blieb es einige Minuten … Niemand kam zu ihr zurück … Thränen traten der alten Jungfrau in die Augen und mit einem Gefühl des Vorwurfs, das ihr über diese und ähnliche Dinge sagte: Deine Strafe das für die alte Zeit! ging sie auf ihr Zimmer.

Armgart! sagte inzwischen Paula, als sich diese ihr[153] anschloß und ihre schlanke Hüfte krampfhaft umfaßte. Du solltest bei der Tante bleiben!

Wenn ich in meinen Thurm gehe, poch' ich noch einmal bei ihr an und sag' ihr gute Nacht! flüsterte Armgart …

Sie ließ den Diener, der leuchtete, vorangehen …

Armgart durfte nicht mehr in Paula's unmittelbarer Nähe schlafen wie sonst. Seit ihrer Rückkehr von Lindenwerth hatte beide die Tante getrennt … Aber Abends noch eine Weile mit Paula, wenn diese sich wohl fühlte, zu plaudern, ließ sie sich, so oft sie in Westerhof verweilte, nicht nehmen …

Die Vorhänge des Schlafzimmers Paula's waren schon zurückgelehnt … Im Vorgemach, wo ein kleiner Ofen stand, der geheizt wurde, half Armgart die geliebte Freundin entkleiden … Oft sprach Paula schon im Gehen und Stehen Dinge, die »einer andern Welt angehörten« … Dann brachte sie Armgart zur Ruhe, rief einem Kammermädchen, das in der Nähe schlief, und trennte sich nicht eher von beiden, als bis Paula in völligen Schlummer versunken war …

Heute leuchteten Paula's Augen hell auf … Eine stille Sehnsucht lag in ihnen … eine Sehnsucht, die Armgart vollkommen verstand …

Stürmisch warf sich Armgart der Freundin, die zu ihr herniederblickte, an die Brust und rief mit erstickter Stimme: Ach! Ach! Was sind wir doch unglücklich!

Meine gute Armgart! erwiderte, dies Wort ablehnend, die ältere Freundin. Warum unglücklich? …

Paula's Leben war ja ein einziges Schmerz-, oder ein[154] einziges Wohlgefühl, sie wußte es selbst nicht zu unterscheiden … Sie liebte einen Priester; sie hatte auch das sichere Gefühl, wieder geliebt zu sein … Geständnisse hatte es früher nicht und auch jetzt noch nicht gegeben … Vor Armgart aber war alles das nicht mehr geheim … Selbst wenn Armgart zu viel Scheu gehabt hätte zu sagen: Du liebst den Domherrn! stand es doch schon lange ohne Worte zwischen ihnen fest … Selbst das stand fest, daß sogar Paula's etwaiger Eintritt in ein Kloster eine Art höherer Vermählung mit Bonaventura sein konnte … So flossen noch die reinen Gedanken, die Jungfrauenseelen mit der Liebe verbinden, gleichviel, ob zu Besitz oder zu Entsagung, bei beiden mit ihrem religiösen Pflichtgefühl ineinander …

Seit einiger Zeit trat Armgart freilich immermehr aus dem Bann des harmlosen Träumens heraus … Lag das an der Flucht aus der Pension in Lindenwerth? … Oder jetzt an dem Zusammenleben mit so vielen liebebedürftigen jungen und alten Mädchen im Stift? … Lag es an ihrer eigenthümlichen Schwankung zwischen den Bewerbungen Benno's und Thiebold's? … Sie regte schon seit lange jeden Abend die Phantasie ihrer Freundin auf. Auch heute durch Klagen über des Domherrn Ausbleiben … über Thiebold's Fragen, die sie andeutete … über Benno, »der sich so sicher dünkte« … und endlich stockte sie …

Paula fragte befremdet:

Du hast heute etwas –?!

O könntest du doch für mich in die Zukunft sehen! rief Armgart wie aus tiefster Seele heraus …[155]

Laß das! Laß das! erwiderte Paula schmerzerfüllt.

Armgart hob ihre Augen bittend auf … Das Weiße darin blitzte wie Email, wie feuchtes Silber …

Paula wandte sich, als unterläge sie schon diesem Glanz und Schimmer und Armgart's Bitten … Laß uns beten! sagte sie … beten gegen Versuchung!

Paula! – hauchte Armgart. Morgen mußt du mir sagen – ich frage dich –

Nimmermehr! rief Paula. Ich verbiete dir alles! … Und wie wild erregt von einer Furcht, die sie plötzlich in allen ihren Geistern vor sich selbst ergriff, fuhr Paula fort: Ihr seid so grausam gegen mich! Ihr tödtet mich noch!

Paula! bat Armgart …

Ich kann ja so nicht fortleben! sprach Paula zitternd vor Aufregung. Laßt mich doch sein, wie ihr alle seid! Jesus Maria! Es sprengt mir noch das Herz! Geht das so fort, muß ich wünschen, jenes Mädchen kehrt zurück, das allein gehindert hat, daß ich im Traume sprach! Wenn sie kam, wich jede Kraft von mir! Ich will ja nur sein, wie alle andern Menschen sind …

Armgart wußte, daß Lucinde gemeint war, jene Lucinde, in deren unmittelbarer Nähe Paula mit der Zeit ganz von ihrer Ekstase zurückkam, doch mit großem damit verbundenen physischen Schmerz, den auch Armgart damals an der Maximinuskapelle selbst empfunden haben wollte, als sie Lucinden nach den Beschreibungen Paula's sofort erkannte …

Beide Mädchen standen lange schweigend und in Wehmuth verloren … Ob sich ihnen wol vergegenwärtigte, daß Paula genesen konnte, wie alle Aerzte sagten, durch –[156] die Liebe? Ob sie wol ahnten, daß Bonaventura auch da von sich sagte, was er, zwischen Lucinde und Paula in der Mitte der Versuchungen stehend, am Abend jener Beichte verzweifelnd ausrief: Ein Priester bist du! Ein Mensch ohne Leben! Ohne männliches Zeugniß für deinen Schöpfer! … Das alles lag nur dunkel in ihnen. In allen jungen Mädchenherzen, ehe das Los über sie geworfen ist, zittert nur ein schmerzlichsüßes Ahnen von ihrem zukünftigen Geschick. Bald leiser, bald stürmischer meldet sich die Sehnsucht, die Pforte der Zukunft geöffnet zu sehen. Oft ist es wol plötzlich ein jugendlichschöner Gott, der aus düsterm Nebel heraus, wildfremd, wie das herrlichste Ebenbild der Mannesschöne, mit riesiger Umarmung die Harrende umfängt; oft liegt aber auch nur ein ödes, trauervolles Einerlei auf ihrem unbestimmten Innern und alles, was ihr wird und was sie beginnt, ist ihr wie Ohnmacht und todte Dämmerung.

Da rief der Wächter wieder die Stunde …

Schlaf wohl! hauchte Paula und drückte Armgart an ihr Herz …

Armgart wollte anfangs gehen …

Aber, zur Thür des Vorgemachs angekommen, blieb sie stehen, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und rief:

Paula! Paula!

Was hast du? sprach diese, sie wieder näherziehend …

Ein »Du mußt – mir –!« preßte sich von Armgart's Brust …

Ich begreife dich nicht – Was muß ich?

Armgart zog einen Brief aus der Brust und sagte:[157]

Paula! Diesen Brief – an Terschka – den hab' ich aus der Mappe – zurückbehalten … Ich gebe ihn nicht eher ab, als bis du ihn gelesen hast!

Armgart! rief Paula und zitterte … Sie ergriff vorwurfsvollen Blicks den aus der Residenz des Kirchenfürsten gekommenen Brief und fragte:

Von wem ist er?

Von meiner Mutter! … Was hat Terschka – mit meiner Mutter! Sie lieben sich! Paula, Paula! Das ist mein Tod!

Armgart! sagte Paula beruhigend …

Nur Ein Ziel meines Lebens hab' ich! fuhr Armgart in zitternder Erregung fort. Meine Aeltern auszusöhnen! Sonst will ich nichts! Wüßtest du nur, wie ich neulich in Witoborn war! Ich war bei Hedemann! Ich ließ mir eine Stunde lang vom Vater erzählen! Ich lieb' ihn mehr, als meine Mutter – nein, ich liebe auch meine Mutter – mein Gelübde hat der Himmel und ich will es vollziehen und wär's durch meinen Tod … Armgart faltete die Hände und hielt sie empor zu einem Crucifix, das an der Wand hing …

Warum soll – aber Terschka nur – nicht deiner Mutter schreiben und sie – an ihn? fragte Paula, entsetzt über den fanatischen Ausdruck der Gefühle Armgart's …

Wie, entgegnete Armgart; dieser lebhafte Briefwechsel? Diese Begeisterung, wenn er von ihr spricht? Neulich seine schnelle Reise, um die Gräfin zu begrüßen? Nur ein Vorwand war es, um die Mutter zu sehen! O, schon im Hüneneck sah ich an der Eile, mit der er[158] die Zimmer bestellte, wie er sie liebt! Und sie, sie – sie könnte –! Dieser Brief ist von ihr – Paula, du, du sollst ihn lesen!

Paula verwies Armgart ihr Ansinnen mit Unwillen; denn sie wußte wol, was Armgart meinte … Sie wußte, daß der Brief nicht erbrochen zu werden brauchte; sie wußte, daß sie alles lesen konnte, was man ihr im Hochschlaf aus ihr Nervengeflecht legte … Ob auch uneröffnete Briefe? … Versucht war es nicht … Hier glaubte man nicht an die Unmöglichkeit.

Wie eine unreine Versuchung wehrte Paula Armgart's überredende Geberde ab. Sie sagte schmerzerfüllt, doch entschieden:

Gute Nacht, Armgart! … Misbrauche mein Unglück nicht! … Ich verbiete es dir! … Es muß ein Ende damit werden … Gott wird mich erlösen … Sei gut, Armgart! … Sei gut! … Und nun, gute Nacht!

Damit verschwand sie hinter dem Vorhang, den sie wieder fallen ließ, und schloß die Thür zu ihrem Schlafgemach ab … Wieder tönte das Horn des Wächters …

Armgart ging zögernd auf ein Zimmer weiter zurück … Sie hörte noch, daß sich Paula sogar einriegelte … Dann trat sie durch eine Nebenthür auf den kalten Corridor …

Ein Diener folgte und begleitete sie mit einem Licht in ihren Thurm …

An dem Zimmer der Tante ging sie vorüber, ohne daß sie es merkte. Ein äußerster Entschluß kämpfte in ihr, ein tiefes Sinnen beherrschte ihr ganzes Sein …[159] Krampfhaft preßte sie den Brief, den sie in ihr Busentuch gesteckt hatte … Schon hatte sie den Finger an das Siegel gelegt … schon zuckte die Hand, es aufzureißen … Sie dachte an den Beistand der Beichte, der sie leichter über die Folgen eines solchen Vergehens hinwegführen würde … an Bonaventura … an Benno …

Da verließ sie allmählich der wilde Muth …

Der Diener stand und harrte ihres Befehls …

Legt das – in Herrn von Terschka's – Zimmer! hauchte sie. Es ist ein Brief für ihn, der – vergessen wurde …

Der Diener nahm den Brief und wandte sich den Zimmern Terschka's zu.

Armgart verschwand in ihrem Zimmer.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 5, Leipzig 1859, S. 122-160.
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