6.

[160] Drei Männer, in Mäntel gehüllt, schreiten in die Winternacht hinaus …

Nicht mondhell ist sie; nur sternenlicht … Und weithin über das wellige Land liegt mitleuchtend die Decke des Schnees …

Grabesstill rings die Welt … Schlummernd alles Erdenloos … Wer flüsterte sich nicht: Gibt es denn geheimnißvolle Kräfte, die schicksalsmächtig über Raum und Zeit und das Herz in unserer Brust gebieten? Und wer antwortete nicht: Ihr stilles Hüten glaubt man jetzt zu hören … Winterlandschaftsstille ist – Friedensmahnruf – Sehnsuchts- – Ahnungsweckruf …

Anfangs noch hallte zwischen Terschka, Benno und Thiebold der erlebte Tag und Abend nach. Man bewunderte die Kraft der Vision, die sich so in die Vorgänge des Leichenconductes hatte versetzen können. Benno mußte Thiebold zurückhalten, der eine natürliche Erklärung, die Terschka gab, nicht wollte gelten lassen. Terschka hatte gesagt: Wer die Gegend und die Verhältnisse kennt, würde[161] sich die Scenen, die heute vorfallen konnten, auch ohne ein Wunder haben ausmalen können! … Aber die Unterbrechung? entgegnete Thiebold … Benno antwortete statt Terschka's: Ich will der Natur nichts von ihren Tiefen nehmen. Aber ich glaube doch, daß wir uns durch die Gewohnheiten des Daseins in geistigen Dingen zu sehr die Sinne abstumpfen, wie in leiblichen. Ein bis in sein Alter mit den einfachsten Speisen Aufgezogener ist empfindlich für jede Veränderung seiner Nahrung. Ebenso gewöhnen wir uns durch Misbrauch unserer seelischen Kräfte die Feinfühligkeit des geistigen Spürsinns ab. Bei der Ankunft am Düsternbrook mußte die junge Gräfin etwas Unerwartetes voraussetzen; sie dachte an die Eiche, sah sie und nahe lag das allen Bekannte.

Von Armgart wurde nur bei Gelegenheit – der Hasen gesprochen, deren Spuren sich an kleinen Eindrücken links und rechts im Schnee auf den Aeckern verfolgen ließen … In Thiebold und Benno dämmerte die Ahnung, daß Terschka es war, um dessentwillen sie von Armgart vernachlässigt wurden … Ja, beim Weidwerkgespräch wieder sah man Terschka's blendende Eigenschaften. Auch Benno und Thiebold verstanden sich darauf, aber nicht so, wie er, der die Jagd verfolgen konnte bis auf alle Vorzüge neuer Entdeckungen aus den Gewehrfabriken von Suhl und Lüttich. Von Terschka sah man täglich das Erstaunenerregende. Der schmächtige bleiche, immer bewegliche Fremdling war ein Reiter, der im Sturm dahinflog. Manches Roß, das den Koller hatte, bestieg er und bändigte es wie ein Beschwörer. Noch neulich, wie ein dem Grafen Münnich gehörendes Thier sich[162] unter ihm schmiegte, wie es die mit seiner Linken mächtig geschwungene Reitgerte über den Kopf hinweg fühlte, sich krümmte bis zur Erde und den Kopf fast in den Schnee bohrte, dann wieder aufschnellte, mit beiden Hinterfüßen sich ebenso rasch auf die Kruppe setzte, dann davonflog pfeilgeschwind und fast wie mit Scham, sich überwunden zu sehen – da war das ein Schauspiel voll Vernichtung für Benno und Thiebold; Armgart stand dicht in der Nähe und sagte nur immer: Nein, nein, ich habe gar keine Furcht für Herrn von Terschka! …

Nach einer halben Stunde war der Finkenhof erreicht. Versteckt lag er unter Bäumen und Wallhecken. Eine Mühle, ein Tanzhaus, eine Kegelbahn, ringsum Nebengebäude; ein großes Anwesen. Den Finkenmüller hatten Schank und Mehlsack reich gemacht inmitten mannichfachen Elends. Auf der Saline, bei den Kalköfen, in den Moorbrennereien wurde schnell baares Geld verdient, ebenso schnell auch glitt es wieder weg und meist im Finkenhof, wo Sonntags die bekannte falschgestimmte Trompete ländlicher Musik von vier Uhr Nachmittags bis zehn Uhr zu Tanz und Jubel zu locken nicht müde wurde.

Anfangs schien es auf dem Finkenhof stiller, als man erwartete. Schon besorgte man, die gräfliche Jägerei nicht anzutreffen. Man hätte sie aufs Schloß rufen können. Terschka weilte aber gern unter den hiesigen Menschen; sie hatten ihn mit Haß empfangen; schon waren alle für ihn eingenommen … Wir kommen zu spät! sagte er und deutete auf manchen Heimkehrenden, der an ihnen vorüberging[163] und grüßte … Dann fragte er sie … Es hieß: Die Jäger sind da, Herr Baron!

Nun bogen sie vom Fahrweg ab und sahen den Finkenhof hell und belebt. Der jeden Morgen frisch aufgeeiste Bach schien zu dampfen. Die Kegelbahn hatte Licht. An den wie mit Fett bestrichenen Fensterscheiben hätte man Scenen aus dem vaterländischen Rekrutenleben an die gegenüberliegende Wand gemalt erblicken können: »Fritze riecht zum ersten male Pulver« oder: »Fritze macht die erste Bekanntschaft mit blauen Bohnen«, alles im Stil von Krähwinkel ausgeführt … Im Tanzsaal ist's still; aber im Wirthshaus sitzen Menschen genug und Gesang sogar gibt es. Benno sagte: Ihren Volkstanz stampfen sie! Den lustigen Pfaffen von Ystrup! Und schon hörte man:


He, he! Der ist zu arm,

Daß Gott erbarm'!

He, he! Der ist zu dick,

Hat kein Geschick!


Behalte die Besinnung, wer kann, der da eintritt in diesen Dampf und Dunst von Hitze und Taback und Bier und Branntwein! Unter einem Heiligenbild an der Seite des Flurs hängt eine Lampe, eine ewige sogar; Fidibus von dünnen Holzspänen liegen daneben: man kann sich Pfeifen und Cigarren an ihr anzünden. Die drei Gäste thun es, um ein Antidoton zu haben gegen die Dünste, die ihrer drinnen harren. Was jedoch stärkt das Ohr, diesen Gesang zu ertragen, der mit einer Festigkeit, wie wenn man Holzblöcke in die Erde rammt, den Eintretenden entgegenbraust? …[164]

Jetzt ertönt das »He, he!« plötzlich schwächer und die Pfeifen gleiten einen halben Zoll aus dem Munde. Man erkennt die Eintretenden. Eine Magd, zu gleicher Zeit an zehn Fingern zehn Biergläser in der Schwebe haltend, blinzelt um den Weg zu weisen mit den Augen dahin, wo die hochgräfliche Jägerei sitzt, hinter einen Ofen von einer so pagodenhaften Dimension, daß Onkel Levinus über die gelegentliche Aeußerung studirt haben würde, zwischen den Oefen der witoborner Heide und den alten Bauten der Indier zu Dschaggernaut fände ein urweltlicher Zusammenhang statt.

Und während nun hier mit dem Oberförster, mit dem Wild- und Hegemeister, mit dem Jagdzeugmeister und einem Unterförster des letzten Grafen von Dorste-Camphausen die Vorbereitungen verabredet wurden, die zu einer großen Vertilgungsjagd in einem von Thiebold de Jonge um 80000 Thaler gekauften Walde – seufzend hatte er draußen die mangelnde Floßgelegenheit am Mühlbach erwogen – gehören sollten, zu einer Jagd, die unter den scheinbaren Auspicien des nächsten Nachbars, Grafen Münnich auf Münnichhof gehalten werden sollte; während die Zahl der Treiber, der Hunde, die Vorräthe des Jagdgeräths besprochen und von Benno mit lebhafter Orientirung die Schauplätze seiner geheimnisvollen Jugend unterschieden wurden, der Zehnterwald von der Birkenschonung, die Knüppelheide von der borkenhagener Saustiege – während dann auch noch der Finkenmüller, der Meyer, der Moorbauer ehrerbietigst in den Kreis eintraten, verfolgen wir einen Ankömmling, der langsam daherhumpelnd noch spät von Witoborn herüberkommt …[165]

Es ist ein kleiner Mann, nicht unkräftig gebaut. Zwischen den Schultern trägt er die Last eines Buckels und unter den Armen, in ein Tuch gewickelt, einen länglichen Gegenstand, den man an einem hervorstehenden Fiedelbogen für eine Geige halten darf … Der weiße beulenreiche Hut ist tief über den Kopf gestülpt, den ein Pflaster am Auge entstellt … Ein grauer Mantel, angezogen wie ein Militärmantel, schützt den Wanderer auf seinem Wege, den er nur langsam fortsetzen kann, da er heute aus den Händen des Bruder Hubertus eine schlechtere Testamentszahlung vom Kronsyndikus bekommen hat, als ihm dieser in dem beim Pfarrer Huber in Witoborn niedergelegten letzten Willen zugedacht …

Es ist Stammer, der Geiger …

Alle wissen schon sein Unglück und jeder, der ihm begegnet, lacht seines Hinkens und seines Pflasters … Besonders gram ist ihm dabei niemand; Müllenhoff hatte schon Recht: Dies Volk hat zu lange die Milde des Krummstabs gefühlt und liebt Zechen und wildes Aufschlagen auf den Tisch und alle Sünden, die freilich dann so viele Wächter des Himmels, wie Witoborn einst zählte, auch wieder leichter vergeben konnten. Sie fehlen wol bei keiner Procession, sie werfen sich vor jedem Altar nieder, lassen sich jeden Besuch im witoborner Münster und jeden Kuß auf einen Reliquienschrein vom Küster schriftlich bescheinigen, um damit einst vor Gottes Thron oder bei einem Anliegen um freies Brennholz aus einem geistlichen Walde auftreten zu können; aber nirgends wird auch noch soviel wildes Naturrecht geübt, nirgends soviel Holz schon von selbst gestohlen, nirgends soviel Wild[166] im Mondlicht in die Büsche geworfen, mit Zweigen überdeckt und bei guter Gelegenheit harmlos von einem vorüberfahrenden Heuwagen abgeholt, nirgends wird dem damals nur langsamen Vorschreiten des Zollvereins und der nahen »Grenze« soviel Vortheil abgeschmuggelt für Kattun, Zucker, Kaffee, nirgends ein Hader mit dem Gutsherrn so listig geführt … Stammer fiedelte ihnen in alles das seine lustigen Weisen hinein oder sprach sogar über die alte und die neue Zeit in offner Rede und setzte einen Refrain drauf, eine Strophe gesprochen und eine gespielt, bis der Gensdarm kam oder der Meyer oder der Finkenmüller und die Schwänke des bösen Alten verbot, dessen lästernder Mund schon einst ein halbes Kind, Lucinde damals, aus ihrem Pavillon verbannt hatte nach dem Tode des Deichgrafen.

Mancher redet den Geiger an … Er knirscht fast mit den Zähnen vor Wuth … Mitleid wird ihm nicht; Alle wissen's doch, boshaft ist er und Bruder Hubertus »der Abtödter« ist der endlich zurückgekehrte Liebling der ganzen Gegend; die Kinder werden dem frommen Bruder doch wieder mit der dampfenden Schüssel entgegenkommen, wenn er sich mit seinem Topfe naht; er wird die Pferde und die Kühe und die Menschen heilen – und sieht er auch aus wie der leibhafte Tod und ist sein Lachen ein Grinsen wie aus einem Knochengesicht, die Mädchen fürchten ihn nicht, wenn er ihnen einsam im Kornfeld begegnet … sie wissen, daß er ihnen doch Briefe schreibt nach der Garnison, wo ihre Liebsten weilen, daß er ihnen doch heimlich Botengänge ausrichtet zu allen Husaren, die in Witoborn stehen …[167]

An einem Kreuzweg sieht der racheschnaubende Stammer einen Mann, der des Weges nicht kundig scheint und nicht weiß, ob er geradeaus gehen oder lieber links sich wenden soll …

Landsmann! ruft der andere den Geiger an … Wo ist die Route nach Libori – Pfarrhaus –?

Stammer zeigte nach rechts:

Gerade da, wo Ihr herkommt! Oder dort drüben herum, wenn Ihr erst noch auf dem Finkenhof einheizen wollt! Es macht kalt!

Der Verirrte war ein stämmiger Mann mit Pelzkappe und Düffelrock und rothem Comfortable um den Hals und hatte die Hände in den Seitentaschen … Er kannte den Namen des Finkenhofes und fragte:

Geht Ihr dahin?

Auf zwei Beinen. Sind Sie fremd in der Gegend?

Aus Strasburg –

»O du schöne Stadt!« sang der Geiger mit verbissener Lustigkeit. Ich bin ein Musikus, und Sie –?

Von Metier Perrükenmacher!

Möcht' ich Ihnen meine gelben Haare verkaufen! Eine Hand voll schlug ich heute umsonst los! Daß dich! Und jetzt –?

Dionysius Schneid sah inzwischen das Pflaster über der Nase seines Auskunftgebers, bedauerte ihn, plauderte allerlei Schnickschnack und klimperte zur Antwort auf die letzte Frage in der Tasche mit den Worten, Geld hält' er genug, um bis nach Polen zu kommen … einstweilen wär' er hier in gräfliche Dienste getreten auf Schloß Westerhof, wenn auch noch ohne Livree; heute Abend[168] wollt' er sich den Rest seiner »Bagage« aus dem Pfarrhause holen, wo ihn auf einige Tage der alte Tubbicke »logirt« hätte …

Sind Sie doch nicht gar der große Prophet, den immer Herr Tübbicke junior aus Paris erwartet? Der, der die Welt wie ein Stück Tuch zerschneiden soll und jedem einen Fetzen gibt – ja so! mir (sagte Stammer innehaltend und nach einer wunden Stelle seines Leibes greifend, die ihn schmerzte) schon meinen – Fetzen – von einem adeligen – Jagdrock –

Dionysius Schneid verstand nicht diese in den Bart gemurmelte Anspielung auf die Ursache der Schmerzen, die dem Geiger durch vielleicht zu schnelles Gehen gemehrt wurden … wol aber begriff er vollkommen die Anspielung auf die Communauté, die ihn einst mit dem jungen Tübbicke in Paris bekannt gemacht hatte …

Ha, ha, ha! fiel er mit grobem Gelächter ein. Diese Propheten stecken jetzt alle in Prison! Einer kriegt soviel Wasser und Brot wie der andere! Das ist die Theilung der Propriété!

Dionysius Schneid, der sich dem seinen Witz ganz freundlich begrinsenden Geiger befreundete, schien auf dem Schloß Urlaub für die ganze Nacht genommen zu haben und ging in den Finkenhof mit. Das Lachen der Vorübergehenden über den Buckeligen reizte seine Neugier nur noch mehr und am Finkenhof angekommen sah er, welchem verwogenen alten Knaben er folgte. Stammer zog, obschon ein tiefer Verdruß an ihm nagte, seine Geige aus dem alten Tuch, nahm seinen Fiedelbogen und hielt feierlichen Einzug mit schlenkernd[169] ausgeworfenen Beinen, frech und übermüthig einen Geschwindmarsch streichend, den er schon auf der Schwelle begann … Ein schallendes Lachen empfing beide Ankömmlinge …

Auch Dionysius Schneid ließ die brennenden Augen vergnügt im Kreise rollen. Das Lachen und Glückwünschen belustigte ihn … Die jungen Bursche sprangen auf und tanzten hinter dem Geiger her … Die Alten streckten ruhig fortrauchend die Beine vor, um ihn zum Fallen zu bringen … Stammer wich aus, warf seine gelbweißen langen Haare mit kecker Geberde hinterrücks und marschirte gerade auf den Tanzsaal zu … Dieser war nicht geheizt, aber einige Bursche sprangen doch an, ergriffen die Mägde, die aufwarteten, und würden wenigstens einmal mit bloßer Begleitung einer Geige den Pfaffen von Ystrup gestampft haben, wenn nicht der Meyer, der Moorbauer und der Finkenmüller selbst gekommen wären und eingedenk der Gelöbnisse, die sie heute dem Pfarrer gegeben, und trotz der vielbelachten, allgemein verbreiteten und alle guten Vorsätze entkräftenden Nachricht, nächstens würde bei Herrn Müllenhoff getauft werden, Ruhe geboten hätten …

Stammer vermittelte die neue Bekanntschaft mit solchen, die sich, wenn ein anderer Geld zeigte und »anfahren« ließ, ihrerseits auch nicht »kohlen« ließen … Die Hauptsache war Kartenspiel … Guthmanns und Herren von Binnenthals gibt es auch im Bauernstande und aus »Schafskopf« kann man verhältnißmäßig ebenso geprellt werden, wie Piter in Pyrmont auf »Einundzwanzig« … Stammer berechnete schon seinen Antheil,[170] als er Herrn Dionysius Schneid mit ein paar Salzsiedern bekannt gemacht hatte, die im glücklichen Kartenspiel Meister waren …

Inzwischen hätte das Geschäft der »Herren vom Schlosse« hinter dem urweltlichen Kachelofen schon vorüber sein können. Indessen »ein Wort gibt das andere« und wo sich einmal Thiebold's Zunge festgehakt hat, kann sie sobald nicht wieder los. Aus einer löblichen Popularitätsbestrebung hatte man sogar dem Finkenmüller nicht abgeschlagen, von ihm, natürlich gegen Zahlung, drei »steife Grogs« anzunehmen, die er ihnen als die vorzüglichste Leistung seiner Großmagd offerirte. Die Aussicht, daß Herr de Jonge den Wald kaufte, in dem nächstens zum letzten male gepirscht werden sollte, eröffnete dem ganzen Jagd- und Waldhutpersonal glänzende Aussichten auf Schlag- und Holzvermessungstrinkgelder. Bedauern, daß im Zehnterforst die Hirsche zum letzten male junge Tannenkeime knuspern sollten, war eine hier unbekannte Sentimentalität. Nur der Meyer äußerte von der künftigen Bestimmung dieses Forstes zu Eisenbahnschwellen einige fromme Seufzer, die an Müllenhoff's Predigten erinnerten, der die Locomotive darzustellen pflegte wie die vom Teufel entführte Braut der Hölle, voran Satan mit einer Peitsche aus lichterlohem Kometenfeuer, hintenauf hockend Drachen und Ungethüme der Unterwelt und in den Waggons fahrend Juden und Judengenossen, Gottesläugner, Consistorialräthe, Offiziere und Gensdarmen, alles was zum Leben des neunzehnten Jahrhunderts gehöre … Ja auch Benno seufzte: Der Zehnterwald! Kein Holz hatt' ich[171] so lieb, wie das! Stellen gab's da, die für's Edelwild ein Paradies waren! Büsche an kleinen Wassern, wie gemacht für die Brunst, einsam wie Mutterschoos!

Brauchte da ein Jäger wol aufs Blatten zu schießen? fiel als leiser Wehmuthsaccord vom Hegemeister ein …

Nein, sagte der Oberförster, wischte sich aber nur das »neu angefahrene« Bier aus dem greisen Barte, keine Thräne, der ganze Forst gab schon einen Ton von sich, auf den die Rehe von allen Weltgegenden hereinkamen!

Den Ton des Schweigens! sagte Benno für sich und horchte auf die Terschka'sche lebhaftere Seitendebatte, wo man vom Düsternbrook sprach, als von einem Gehölz, wo seit Menschengedenken kein Hund »ein Wild stellte«.

Das führte denn auf das heute von Allen Erlebte …

Man legte sich freilich die Rücksichten auf, die der An- und Abstand geboten …

Man lächelte nur, munkelte, stopfte sich »mit Verlaub« eine neue Pfeife und wartete auf den, der die meiste Courage hätte, um mit der Rede durchzubrechen …

Des Küfers Stephan Lengenich entsannen sich alle von vor Jahren …

Auch Löb Seligmann war jedem bekannt. Der hatte den Küfer zurückgehalten, als dieser seine »Entlastung« feierlich vollzogen … Dann war Löb auf den Schrei der Lisabeth und die Störung durch den Geiger und den Mönch, wahrscheinlich auf Schloß Neuhof zurück verschwunden, wo ihn schon der Präsident von Wittekind zu schätzen begann …

Das nun war der Augenblick, wo man die Geige Stammer's hörte und vor dem grellen Lachen, mit dem sein[172] Eintreten empfangen wurde, sein eigen Wort nicht verstand …

Nach dem, was Onkel Levinus über die alten Dinge von Schloß Neuhof erzählt hatte, mußten die drei Herren vom Schloß wol angenehm überrascht und begierig sein, sich diesen Geiger näher anzuschauen … Schon wurde seine Charakteristik gegeben …

Er ist im Kirchenbann …

Ein alter Kerl von fast sechzig Jahren schon …

Putzig ist's, wenn er allein spielt! Immer erzählt er dazwischen eine Lüge, wie Eulenspiegel …

Oder auch manchmal eine Wahrheit! sagte der Oberförster und betrachtete wie mit einer Auffoderung, den Geiger näher zu rufen, Herrn von Terschka …

Terschka gab den Ausschlag, daß man sich allerdings eine solche Erscheinung nicht entgehen lassen sollte … Benno erneuerte gern eine Bekanntschaft aus seiner frühesten Jugend … Und so war denn Thiebold schon aus, ihn zu holen …

Umringt von denen, die sich nicht zu Dionysius Schneid und zum Spiele hielten, erschien der heute so übel zugerichtete, langhaarige Buckelige … Trüb beschienen ihn die wenigen Oellampen, deren Lichtstrahlen vollends ermatteten durch den Qualm der Pfeifen und Cigarren … Der Dunst des Ofens zwang die drei Herren vom Schloß, von diesem mit ihren Schemeln abzurücken … Der Finkenwirth bediente allseitig und entfernte von den Honoratioren die Nachdrängenden. Er that das wie mit Kammerherrenanstand …

Stammer schlenderte näher und grüßte trotzig …[173] Seine kohlschwarzen Augen lachten verschmitzt die vornehmen Frager an. Seine dünnen Beine verneigten sich fast wie mit einem frauenzimmerlichen Knix … Dann legte er beide langen Arme, die die Geige und den Fiedelbogen hielten, auf den Rücken, als wollt' er sagen: Nun, was soll's?

Terschka, der hier das Wort führte, sagte nicht ohne Würde, aber in seinem fremdartigen Dialekt:

Ei Sie! Ei Sie! Sie haben halt das Unglück, hör' ich, dem Herrn Pfarrer nicht zu gefallen!

Ich gefalle mir selbst nicht! Sehen Sie nur! Der liebe Gott hat mich nicht richtig wachsen lassen! … Das war mit einem Herumdrehen des Rückens die Antwort …

Sie haben, fuhr Terschka nach dem Lachen fort, hör' ich, sehr ein großes Talent! Auf der Geige könnte der Paganini von Ihnen lernen, sagt man! Ich würde an Ihrer Statt mein Publikum nicht groß genug haben können; selbst der Herr Pfarrer dürfte mir nicht fehlen, wenn ich einmal eine gute Sonate spielte …

Man murmelte und lächelte auch ihm … Stammer's Gedanken weilten zwar jetzt mehr bei dem Kloster Himmelpfort, als bei Sanct-Libori, doch stellte er sich demüthig …

Schließen Sie Frieden mit Herrn Müllenhoff, fuhr Terschka, seiner Stellung eingedenk, fort. Er meint es gewiß gut mit euch allen! Auf Ordnung und gute Sitte muß halt auch die neue Herrschaft sehen! Ein Jünglings- und ein Jungfrauenbund ist gar so übel nicht und schließt die Freude keineswegs aus. Daß die Musik an sich Gott wohlgefällig ist, zeigt euch Sonntags jede Messe! …[174] Ihr aber, Stammer, sollt ja zur Geige allerlei Schnurren vortragen können! Nun, wenn Ihr in Euere Lügen ein paar Körner Wahrheit einmischen wollt, soll's uns noch einmal so lieb sein! Trinkt und fangt dann mit einem Gespaß an!

Benno und Thiebold mußten dieser Weise, sich hier unter den Leuten vornehm und zugleich populär, streng und doch tolerant zu geben, »leider« ihren ganzen Beifall schenken …

Knick! Knack! drehte Stammer inzwischen die Wirbel seiner Geige, probirte die Saiten mit dem Fiedelbogen und begann mit einigen Läufen seine hier landbekannte Art der Improvisation …

In einem singenden Tone sprach er:

Ein kleines Kind bin ich im Wald geboren – An einem schönen, schönen, wunderschönen Sommertag –

Mit rascher und gesprächsweiser Stimme setzte er hinzu:

Im Juli war's – wo freilich die Tage anfangen kürzer zu werden … ich glaube, darum bin ich auch zu kurz in die Welt gekommen …

Die Leute lachten … Stammer ließ den Fiedelbogen langsam über die Saiten gleiten und sprach dabei:

Ach! Was ist nicht alles jetzt länger geworden! Die Tage sind's am allerersten; auf die Art weil man so desto länger arbeiten muß! Sonst aber waren nur die Dreigroschenbrote länger und die Elle war's und dick wurde jedermann – nicht blos die Wirthe …

In ein Lachen über den Finkenmüller wirbelte der Improvisator einige Läufer hinein, zog dann wieder,[175] als es stiller wurde, einen einzigen, langsamen und klagenden Ton und sagte:

O du schöne Zeit! Du liebe Zeit! Ja, hatte man sonst im Winter, wie jetzt, kein Brennholz, so ging man blos zu einem heiligen Domherrn! Ach, auch das war in der schönen Zeit nicht 'mal nöthig! Man brauchte blos seine Frau zu schicken oder seine Tochter und alles war in Ordnung …

In das gesteigerte Lachen, dem sich selbst die »Herren vom Schloß« anschließen mußten, fiel ein wildes Dideldei der Geige wieder als Refrain ein …

Da liegt nun das Jägerkindlein in der Wiegen! fuhr er wieder, als sich alles beruhigt, mit elegischem Tone und halb singend fort. Ich war meiner Mutter ganze Lust! Milch – gab sie mir von unserer Ziegen –

Im leichten Tone setzte er mit raschem Sprechen den Lachenden hinzu: Kein Wunder, daß sich früh der Bock in mir regte …

Neues Lachen … der alte Possenreißer machte einen zweideutigen Bockssprung …

Elegischer aber fuhr er fort und fixirte die Jäger, die sich ihm gleichgültiger zeigten:

Es war noch nicht die Zeit, als wir zum ersten male hier zu Lande hörten: Straf mir Jott! Wat soll mm so en Junge werden? Er kann nickt Kammmacher, Stellmacher, Siebmacher, Korbmacher, Raschmacher, Schuldenmacher – kein Jäger nicht werden …

Die Jäger ließen sich den Scherz gefallen …

Lassen wir ihn das Schönste auf der Erden, einen[176] Musikus beim fürstbischöflich witobornschen Stadttrompeter werden! …

Eine wilde musikalische Figur folgte …

Der Stadttrompeter, setzte er dann wieder parlando zum singend Gezogenen hinzu, hatte damals die Wassersucht, was sonst keine Leibkrankheit der Musikanten ist. Dennoch lernt' ich von ihm noch zu guter letzt die Flöte, die Clarinette, Waldhorn, Trompete, Violine und Guitarre, welche letztere ich sogar schon wieder einem Fräulein auf Schloß Neuhof beibringen konnte – die Stunde ein Maß Bier und ein übers andere mal sechs Pfennige …

Niemand von den »Herren vom Schloß« erwartete wol, daß diese sentimentale Guitarrenspielerin – die raffinirte Mörderin der Schwester des Geigers war, die später wirklich auch selbst Ermordete …

Fräulein von Gülpen hieß die Dame! sagte Stammer. In stillen Abendstunden, wenn der Kronsyndikus in Kassel war, lockten wir die Fledermäuse ans Fenster und spielten und sangen: Guter Mond, du gehst so stille! bis eines Tages unterm Fenster ein Jäger anbiß. Schön war er nicht. Eine große Kaffeetrommel, in die man ihn in Java einsperrte, hatte ihn braun gebrannt –!

Alle wußten sogleich, daß Bruder Hubertus gemeint war und sahen voraus, daß sich der Buckelige vor den Herrschaften an ihm rächen würde über die Mishandlung, die ihm heute in ihrer Gegenwart angethan war … Terschka, Thiebold und Benno fühlten die Schauer der Erinnerung an die Erzählungen des Onkels Levinus …

Einige kühne musikalische Figuren, die des Geigers[177] jetzt ausbrechenden Zorn verriethen, wurden gestrichen als Zeichen, daß er an seine Pointe kam … Er fuhr singend fort:

So ging es her zu jener Zeit – heidi! … Auf Schloß Neuhof – heidi! heidi! heidi! … Viel Herrn und Damen – ei, ei, ei! … Musik und Tanz und Gasterei! … Und Parlez-vous français, Musje? … Italienerinnen – »Nix versteh!« …

Blos unser Geld verstanden sie – setzte er parlando hinzu, und das kräftige deutsche Wort: »Tar Teifel!« … Eine war so gut wie die zweite Baronin und sagte nur immer: »Tar Teifel!« … Ihre Reitpeitsche hieb – hui! – über alles weg, was ihr in den Weg kam. Eine Sängerin war's aus Rom –! »Nix versteh«, als »Tar Teifel!« und nur »viel Geld«, »gute Geld«, »schwere Geld« und Brillante – aber »von die echte« –! »Tar Teifel!« fluchte sie zu Wagen und zu Pferde! Aber schön war sie –! Und lachen konnte sie –! Auch über mich und sogar über den schönen Mann aus der Kaffeetrommel!

Wilde Variationen fielen wieder ein … Unfehlbar war eine Rache an Hubertus das Ziel …

Alle betrachteten Terschka, um gerade an ihm, an der Hauptperson des Abends, die Wirkung dieser Possen zu beobachten …

Da – ist – denn aber gekommen – fuhr Stammer mit pathetischem Nasenton fort – der großmächtige – Winter Anno Zwölf – und – (so ein einziges »und« zog er schon wie eine lange, lange Note) und – da sind die Füchse – die Wölfe – die Franzosen – sind[178] gekommen – und daß Gott erbarm'! – man hätte seinem Feind nicht abgeschlagen ein Stück Pumpernickel, was ihm sonst nur eine Brotsorte von Stein gewesen war … Sakkernungdediö! Da zog auch Herr von Bosbeck einmal einen Tuchrock an –

Buschbeck! verbesserten einige Stimmen …

Terschka horchte immer mehr auf …

Die Hitz' bei zwanzig Grad, unter Null war ihm denn doch zu arg und ob er gleich 'ne Haut hat wie Leder, gegerbtes Rindsleder, der Herr von, Bosbeck …

Buschbeck! verbesserten schon ihrer mehr …

Die hat er, eine Haut von Büffelleder! Ich hab' sie oft genug selbst gesehen … Eines Tages sah ich sogar an Bosbeck's Arm –

Buschbeck! schrieen die Zuhörer …

Bosbeck –? wiederholte Terschka für sich …

Bosbeck ist sein Name! rief jetzt kreischend der Geiger voll Tücke und auf der Höhe seiner Rache angekommen. Es ist ja ein Vetter von dem Bosbeck selig, der in Gröningen am Galgen hing …

Terschka schauderte ersichtlich …

Die Umstehenden schwiegen … Daß es mit des Mönches früherem Leben nicht geheuer war, wußten alle …

Sah' ich denn nicht, krächzte der tückische Geiger, sah ich denn nicht – auf dem Leder hier am Arm, wo andere Menschen, sogar die Buckeligen, höchstens ein ehrliches Muttermal haben – ein Galgenrad eingebrannt? Ganz wie damals beim Liborius Pollmann, bei Dominicus Klapproth, Jean Picard und wie sie alle heißen,[179] die dazumal das Geld flüssig zu machen wußten – rund ist ein Rad und rund ist die Welt und –

Nun fiedelte und sang der Geiger eine wilde Melodie …

Da unterbrach ihn aber ein Lärm, der sich aus einem hintern Winkel erhob …

Schlagt den Hund todt! rief man dort aus kreischenden Kehlen durcheinander …

Alles, noch starrend und murmelnd und flüsternd über die unglaubliche Mähr, daß der fromme Bruder Hubertus auf seinem Arm könnte ein Verbrecherzeichen eingebrannt haben, wandte sich ungern …

Der Finkenmüller sah eine Rauferei und rannte schon fast den Geiger nieder und warf sich dazwischen.

Die Spieler hatten den von Stammer mitgebrachten Fremdling zu Boden geworfen … Sie, die gehofft hatten, einen reich mit Geld Ausgestatteten prellen zu können, waren es von ihm geworden … Geschuppt hat er! hieß es, und zwei bekannte liederliche Bursche rangen mit dem Voltenschläger, der sich wehrte, hielten ihn auf den Boden nieder, während andere den Finkenmüller zurückhielten und durcheinander schrieen: Wie er abhob, sahen wir's! – Schon da, als er mischte! – Daumen hat er wie ein Dieb! …

Ruhe! rief der Meyer und machte den Herrschaften Bahn …

Terschka's aufgeregtes Herantreten, Thiebold's Zurückhalten der beiden Salzsieder, Benno's energisches Bedeuten um Ruhe unterbrach die Fortsetzung der Künste des Geigers und des Kampfes, welcher letztere sich sogar[180] durch einen zufälligen Umstand plötzlich in Heiterkeit auflöste … Herrn Dionysius Schneid entglitt unter den Fäusten seiner überlegenen Angreifer ein Schmuck seines Hauptes, eine pechschwarze Tour, die über einen plötzlich sichtbar werdenden, kurzgeschnittenen rothhaarigen Schädel geklebt war … Das dann zu gleicher Zeit noch hineingeworfene Wort des hinzutretenden Geigers: Es ist ja ein Perrükenmacher! machte selbst Thiebold und Benno lachen, und so erhob sich der Strasburger und benutzte den Moment, sich so schnell wie möglich zurückzuziehen und heimlich zu entfernen …

Der Wächter draußen rief die zehnte Stunde … Alles beruhigte sich jetzt, gedachte der Heimkehr und ließ zunächst die »Herrschaften« durch, die sich jetzt empfahlen …

Die Jäger gaben ihnen noch eine Weile das Geleite …

Der Meyer, der Moorbauer blieben zur Kritik des Abends zurück. Da sie bestätigten, daß Herr von Terschka plötzlich in ein auffallendes Schweigen verfallen war, wurden dem Geiger vom Finkenwirth für seinen frechen und lügnerischen Ausfall auf den Liebling der Gegend und einen Mann Gottes die bittersten Vorwürfe gemacht. Als Stammer entgegnen wollte, warf ihn der Wirth ohne weiteres zum Hause hinaus …

Draußen an den sich kreuzenden Wegen zerstreute sich dann alles …

Benno sagte zu Thiebold: »Tar Teifel!« Den rothen Kerl muß ich doch schon irgendwo gesehen haben?

Auch Terschka hörte dies, glaubte aber die Rede wäre von dem Brandmal des Hubertus … Darf er denn[181] solange außerhalb seines Klosters leben? fragte er, nahm, als sein Irrthum berichtigt, seine Frage bestätigt worden, Abschied von Benno und Thiebold und ging mit dem Oberförster und dem Wildmeister dem Schlosse zu …

Die Schläge der zehnten Stunde erklangen von allen Seiten her durch die stille Nacht …

Die nächst hörbare Uhr war schon die von Schloß Westerhof …

Selbst vom schneebedeckten Jesuitenthurm in Witoborn hörte man in der nächtlichen Stille das bekannte hastige Jesuitenläuten …

Und öde wie die Winternacht, war die Stimmung der Freunde … Was sie jetzt hätten aussprechen können, war schon in diesen Tagen so oft gegenseitig ausgeschüttet worden … O wie war Armgart so seltsam geworden! Wie lag es winterlich auf dem Herzen der Freunde! Erstorben alle Blüten, verklungen alle Freuden, begraben die schönste Maienzeit des Lebens! … Der Scherz mit den »Vielliebchen« war die letzte Erinnerung gewesen an den Ton vergangener Stunden …

Thiebold's Art und sein schlechtes Gewissen litten es freilich nicht, daß er so ganz zu allem Herzleid schwieg. Seine Zunge wurde nicht müde bald die Geister des Jenseits, bald die Vicinalwege des Diesseits zu besprechen, bald den Doctor Püttmeyer, bald die Jagd, bald das unheimliche, vielleicht gar nicht existirende Brandmal auf dem Arme des Mönches Hubertus, bald den Räuber Bosbeck – eine Jugenderinnerung – bald die Guitarrestunden der ermordeten Frau Hauptmann zu erläutern … Alles, was er damit nur sagen konnte, lautete im Grunde seines Herzens: Was[182] hebt uns ach! mit so lustigen Schwingen in die kalte leere Luft und läßt uns schweben wie Fieberkranke, die da jammern des gefürchteten jähen ewigen Niedersturzes! Was geht vor in diesem Chaos des Erdenlebens, im dunkeln Rath der Götter, die die Menschenloose zu ihrer Freude mischen! Wohin wandeln wir! Was geschieht! Wie nur so angstvoll klopfen unsere Herzen, wie so bang mahnt unsere Ahnung! Geister halten, führen uns – aber wohin geht ihr Weg, wo ist das glückliche Ziel?

Nach einer Wanderung von einer halben Stunde hörten sie das Rauschen der berühmten Mühlen von Witoborn. In ihren Donnerton versank alles, was Thiebold nur sprach, um richtiger, wenn auch sehr prosaisch zu sagen: Ist es denn möglich, daß man uns, uns – – diesen Terschka, einen Mann von vierzig Jahren vorziehen kann!

Benno lebte hier auf dem Schauplatz der ersten Erinnerungen seines dunkeln Lebens schon seit Wochen wie im Traum. Seine Rückkehr zur Schreibstube Nück's stand nahe bevor. Er schloß auch mit diesem Tage ab, wie schon seit lange mit seinem ganzen Leben. Seine Entsagung war eine um so schmerzlichere, als er sich die Philosophie gebildet hatte: Was du dir unsers Daseins für würdig hältst, mußt du dir hienieden zu erringen suchen! … Die erfahrungslose Jugend baut sich ja schneller Systeme, als das geprüfte Alter. Gehen diese Systeme hervor aus »Enttäuschungen« und »gescheiterten Hoffnungen«, dann zerfallen sie wol leicht wieder in Trümmer; aber jäher ist ihre Dauer,[183] gefahrvoller wird sie für das Herz, wenn sie aus jener Jugendstimmung entstehen, die wenig erwartend vom Jenseits auch vom Diesseits nur mit bitterer Verachtung spricht, von ihm am wenigsten noch etwas hofft, zu seinen Gunsten am wenigsten noch etwas unternimmt …

Eine volle, freie, erhebende Stunde mit Bonaventura hatte Benno noch nicht finden können.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 5, Leipzig 1859, S. 160-184.
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