7.

[184] Auch für Bonaventura war dieser Aufenthalt eine Rückkehr auf den Schauplatz seiner ersten Jugend.

Auch ihn zog hierher eine Liebe und eine froh-bange Sehnsucht … Er kannte Paula als Kind, dann kannte er sie mit dem Ausdruck jungfräulich erster Reife … Jetzt erwartete er nach allem, was er von ihr wußte, ein Bild voll elegischer Hoheit, eine gefangene junge Königin, die in einem einsamen Schlosse wandelt, hoheitsvoll und tief hilfsbedürftig zugleich.

Die Beklemmung, in Paula's seltsam bedingtes Lebensdasein einzutreten, wuchs mit der Nachwirkung dessen, was in der Residenz des Kirchenfürsten noch in den letzten Augenblicken von ihm erlebt werden mußte. Die Begegnung mit Bickert im Beichtstuhl, die Hoffnung auf Rückgabe der im Sarge des alten Mevissen gefundenen Papiere – Lucinden's Erklärung, daß dieser Schatz in ihren Händen war – wie durchrieselte ihn da mit schüttelndem Frost die Erinnerung an die aus ihrem Mund gekommenen schonungslosen Drohungen! Eine Rachegöttin umschwebte sie ihn auf allen Wegen. Das[185] Schwirren ihrer Eumenidenflügel glaubte er zu hören, das Leuchten ihrer geschwungenen Fackel in dunkler Nacht zu sehen. »Der ganze, ganze Bau der Kirche!« Dies tiefhöhnende Wort hallte durch seine Seele wie Grabesruf. Was konnte der treue Diener seines Vaters aufbewahrt, was von diesem zum Aufbewahren erhalten haben, das an sein Dasein eine so große Thatsache, den Bau der Kirche, knüpfen ließ und nicht ganz zerstört, ja vielleicht ausdrücklich einem Grabe einverleibt werden sollte?

Der ganze Bau der Kirche! … O da war er denn nun in diesem heiligen Witoborn! Hier hatten Bischöfe gethront und den Krummstab als Scepter geführt und nicht Eine bedeutsame Erinnerung an deutsche Größe, Kraft und Bildung war zurückgeblieben. Kleinliche Häuser, ärmliche Straßen, in entlegener Gegend, in einer halben Wüste ein glänzender Palast, die Residenz dieser Bischöfe, jetzt eine Kaserne. Nichts vom Vergangenen zurückgeblieben, als eine Unzahl Kirchen, ein düsteres Jesuitenstift, Gefäße von Silber und Gold in den Truhen der Sakristeien, Monstranzen mit Edelsteinen, Fahnen und Baldachine von kostbarer Stickerei. Hier und da fand sich eine bessere Erinnerung aus der Zeit der Aufklärung. Einige Priester hatten in dem Geiste des Onkels Dechanten gewirkt. Einiges war geschehen für Priesterbildung, Jugendunterricht und würdigere Gottesverehrung – aber der neue römische Geist überbaute schon seit lange alles wieder mit seinem künstlichen Mittelalter. Am Markt, in den Läden der Hauptstraßen waren die Schaufenster besetzt mit Monstranzen, Kelchen, Crucifixen, Madonnen aus Alabaster und Bronze,[186] Erzeugnissen einer Industrie, deren Spuren sich bis dahin verloren, wo man sogar dem Salon einen gewissen koketten kirchlichen Ausdruck jetzt zu geben versuchte. Eine Procession hier, eine Procession dort. Bruderschaften fast für jeden Tag der Woche in Bewegung. Männer, Weiber, Kinder mit Lichtchen in den Händen, mit Fahnenwimpeln, Kreuzen, Meßner und Chorknaben dazwischen in bunten Gewändern, singend und sprechend mit allen jenen Dissonanzen und unsichern Rhythmen, die ihm seine Glaubensvirtuosität früher als so rührend erscheinen ließ. Jetzt sah er in diesem Kirchgang so vieler Männer an Wochentagen nur die Versäumniß ihrer Arbeit. Ehe er nach dem Pfarrhause zu Sanct-Libori fuhr, war er »Bei Tangermanns« abgestiegen. Ihm gegenüber hatte ein Kapuzinerkloster eine Kirche, vor der in einem Aufputz wie für Kinder – eine kleine Madonna in natürlichen Kleidern von Sammet und Seide auf offener Straße stand.

Am Morgen gleich nach seiner Ankunft kamen Benno, Thiebold, Hedemann. Erstere beide wohnten in einem Müllerhäuschen, das etwas entlegen lag vom donnernden Geräusch der schon von Hedemann selbst betriebenen Mühlen. Das Wiedersehen war hocherfreut. Bei Benno sogar mit ironischem Lächeln, als es der Frage galt nach dem ersten Besuch auf Westerhof; bei Thiebold mit der scheuen Befangenheit eines schuldbewußten Schülers vor seinem Lehrer; bei Hedemann mit jener bekannten immer mehr sich bei ihm ausbildenden, lächelndstrengen Sicherheit des Bibelglaubens; Hedemann hatte in der That ketzerische Grundsätze aus England und Amerika mit heimgebracht[187] und wurde in ihnen durch die Erfahrungen, die seine greisen Aeltern mit dem Pfarrer Langelütje gemacht, in Gedankengängen bestärkt, die zu irgendeinem, vielleicht für ihn verhängnißvollen Ziele führen mußten. Daß der Domherr nicht in Witoborn blieb, wußte man. Bonaventura wollte seinen nominellen Pfarrsitz selbst einnehmen und schon war nach einem Wägelchen geschickt worden, ihn an seinen eigentlichen Wohnsitz zu führen, den er einem alten Brauche gemäß bis gegen Ostern einnehmen mußte. Benno bedauerte diese Trennung. Er schilderte das Haus »Bei Tangermanns« als einen unterhaltenden Rest altdeutscher Gastfreundschaft, der indessen die Trinkgelder und modernen Preise nicht ausschlösse. Seht nur, sagte er, dies alte Mauerwerk mit bunten pariser Tapeten beklebt! Goldleisten über wurmstichige Balken! Parquetfußböden neben grünen Kachelöfen! Thiebold setzte hinzu: Lästern Sie nicht! Das beste ist ein patriarchalischer Weinkeller, aus dem man nur leider allein durch Schmeichelei einen Niersteiner Gelbsiegel bekommen kann! Der alte Tangermann hat auf seiner Weinkarte alle nur möglichen Cabinetsauslesen und Dompräsenze, gibt sie aber nicht her, wenn man sie nur so einfach bestellt, wie wahrscheinlich unser Freund Piter Kattendyk gethan hat, als er von witoborner Krätzer sprach! Erst sagt der Kellner regelmäßig: Der alte Herr Tangermann hat den Schlüssel! Erst muß man an Herrn Tangermann's Stube klopfen, muß erst seine ausgestopften Vögel bewundern, die herrlichen Aquatintas an den Wänden, die Napoleonischen Rührscenen aus Fontainebleau und Sanct-Helena bewundern, ehe[188] man das Gespräch auf seine Jahrgänge bringen und ihn geneigt stimmen kann, eine Probe heraufzuholen, die dann aber dennoch keineswegs zu einem altpatriarchalischen, sondern ganz modernen Preise abgelassen wird, wie nur in irgendeinem Victoriahotel! Und Hedemann setzte hinzu: In der Kunst, dem alten Tangermann diese guten Stunden abzuschmeicheln, ist niemand bewanderter gewesen als der Landrath von Enckefuß!

Dieser Name gab dann Fernsichten in die betrübenden Eindrücke des Kirchenstreites … Fernsichten auch auf Schloß Neuhof, auf Bonaventura's Stiefvater, seine Mutter, ja zuletzt auf Klingsohr, von dem man wußte, daß er gewaltsam nach dem Kloster Himmelpfort zurückgeführt worden … Ein Leben im Gasthof stört dann freilich jeden Schmerz … Hier ein Zimmer, wo ein Trauernder weint, nebenan eins, wo ein Musterreiter die neuesten Modearien singt – Letzteres geschah wenigstens der kleinen Gesellschaft. Nur Zufall war es, daß ein gewisser Mann nebenan, der sich eben rasirte, die Namen seiner Nachbarn nicht zu erfahren begehrte und, verloren in die täglichen Geschäfte, die ihn erst mit Herrn von Terschka, jetzt schon mit allen umwohnenden Adeligen verbanden, ja schon auf Schloß Neuhof riefen, sich nicht als Löb Seligmann aus Kocher am Fall seinen alten Bekannten zu erkennen gab … Und doch wie sang er sich selber vorm Spiegel an: »Dies Bildniß ist bezaubernd schön!« wie jodelte er, wenn er plötzlich von Extrapostideen befallen wurde, das damals neue: »Ho, ho! So schön und froh! Der Postillon von Lonjumeau!«

Im Pfarrhause bei Norbert Müllenhoff fand Bonaventura[189] zwei Zimmer schon für sich hergerichtet, Zimmer, in deren Ausstattung er die liebende Sorgfalt aller der Menschen erkannte, die ihn hier namentlich auf den Adelssitzen voll hoher Spannung erwarteten. Es waren zwei einfache Wohnzimmer eines allerdings neugebauten massiven Hauses, aber mit einem Comfort ausgestattet, der alle Spuren trug vorzugsweise vom nahen Westerhof und vom Stifte Heiligenkreuz. Die Namen Paula, Benigna, Armgart glänzten unter allen, die der alte Tübbicke als die Stifterinnen dieser Herrlichkeiten nannte … Norbert Müllenhoff stand mit scheuer Spannung in der Nähe. Er hatte die ihm eigenthümlich derbe Courage mehr nur nach unten hin; nach obenhin nur dann, wenn er der Masse gegenüberstand … ein einzelnes gesticktes Damentaschentuch mit dem Geruch von Esbouquet konnte ihn nicht blos im Salon, sondern sogar im Beichtstuhl stutzig machen.

In diesem Müllenhoff fand sich Bonaventura bald zurecht. Es war die Richtung, die Michahelles auch bei ihm vorausgesetzt hatte, die neue Richtung einer fast burschikosen Verachtung alles dessen, was mit Bildung und Aufklärung verbunden ist. Müllenhoff's jeweiliges grelles Auflachen, wenn er einen seiner Einfälle selbst doch auch allzu schlagend fand, charakterisirte ihn sofort; denn nichts charakterisirt uns mehr, als die Art, wie wir lachen. Hier fehlte selbst die Koketterie, die doch Beda Hunnius noch mit der Poesie trieb. Diese jungkatholische Richtung renommirt mit der Verachtung jeder Beziehung ihrer täglichen Denk-, Rede- und Thätigkeitsweise mit dem, was dem Geist der Aufklärung angehört.[190] Gleich die Frühstücksbutter, die seine Aufwärterin zu einem zweiten Frühstück für ihn und seinen Gast hereinbrachte, schob Müllenhoff mit den Worten zurück: »Nehm' Sie die Butter mit! Ganz frische soll's sein! Die da riecht – toleranzig!«

Schon bei diesem Frühstück erschienen die zuvorkommenden Besuche des Herrn Levinus von Hülleshoven, des Herrn von Terschka, des Grafen Münnich und immer mehr zunehmend einer Anzahl von Adeligen und Geistlichen, die sämmtlich in stattlichen Kutschen kamen … Selbst die drei ältesten Stiftsdamen von Heiligenkreuz fuhren vor … So schnell hatte sich die Kunde von des jungen Domherrn endlicher Ankunft verbreitet. Die Räumlichkeit wurde fast zu klein; die Gäste, die den Längstersehnten begrüßen wollten, konnten nur eine kurze Weile bleiben.

Ueber die Zeit sprach man, über den Kirchenfürsten. Durch alles, was Bonaventura von Aeußerungen eines erschreckenden Fanatismus vernahm, tönte wie ein Grundaccord immer der gottbegnadete Zustand Paula's hindurch. Selbst die Erbfolgefrage verschwand dagegen. Es fielen Fragen, wie die: Ob die Gräfin kürzlich nicht wieder »die Besuche ihres göttlichen Bräutigams« empfangen hätte? Dabei beobachtete man nicht nur die Mienen des antwortenden Onkel Levinus, sondern schon das Erröthen des Domherrn. Man hatte von Bonaventura die Vorstellung eines Fanatikers, eines parteinehmenden Zeloten, der, wie Michahelles angedeutet hatte, seine bereits allen bekannte seelische Beziehung zur Ekstatischen zu einem noch festern Seelenbunde knüpfen, die noch unbestimmt[191] tastende Gefühls- und Anschauungswelt derselben regeln, ihre Visionen und Heilkräfte zu einem vollgültigeren Zeugniß für die wiederum prophetisch gewordene Zeit und den Triumph der Kirche verwandeln würde … Er sah diese Gleisnerblicke, dies süße Lächeln, hörte dies bedeutungsvolle Seufzen, das bei allem Schein der Demuth mit einem festen und sichern Gange auf ein gemeinschaftliches Ziel losging, über das man sich nicht einmal in offen ausgesprochener Verabredung und Geständnissen befand … In einem stattlichen Wagen, zwischen dem Onkel Levinus und Terschka, fuhr Bonaventura dann auf Schloß Westerhof.

Die Prüfung, Paula im kleinen Kreise oder gar allein wiederzusehen, wurde ihm beim ersten Gruße nicht. Er fand gleich ganz Westerhof in festlicher Bewegung. Die Damen der Gegend, vorzugsweise das Stift Heiligenkreuz, waren in Toilette versammelt; Paula stand umgeben von jungen Mädchen, von Frauen und Matronen …

Einen Schritt trat sie hervor und reichte ihm die Hand … Endlich Traum und Erfüllung … Schmerz und Seligkeit … und wiederum doch nur – Seligkeit und Schmerz!

Mit den Jahren waren beide gereifter geworden … Sie erblüht zur hehren Jungfrau … Er ein Mann – Ein Mann? Ein Priester! Angewiesen, Segen zu ertheilen, anderer Glück zu heiligen und selbst zu entbehren …

Rings ein Reden und Grüßen und ein Durcheinander der – Bewirthung …

Aber Paula war es doch! … Ihr Seelenfreund von vergangenen Tagen war es doch! … Ihr Erröthen und[192] das seine … ein Roth war es, als beschiene beide die Sonne in ihrer heiligsten Frühe, Aufgangsglanz vom Osten, vom fernsten Ganges her … War das noch Winter um sie her? … Zwei Seelen grüßten sich, die da weilten, wo die Nachtigallen sangen …

Armgart fühlte das schon ahnungsvoll und schwärmerisch mit … sie hielt Paula, um daß sie vor Ueberseligkeit nur nicht schwankte … Wie Epheu schlang sie sich um ein lebendig gewordenes Marmorbild …

Die Geisterjungfrau sprach … Sie sprach mehr als je … Was sie sprach, hörte Bonaventura, er verstand es nicht … Auch Armgart plauderte noch ihm unverständlich … Wie im Wirbel stand er … Armgart sah den Vielbesprochenen zum ersten male … Die einfache Tracht! Nur ein langer schwarzer Ueberrock; altmodisch der Schnitt; die Weste hochgehend, wie die Regel will; das Haar entstellt … Nichts, was anziehen konnte, als die Gestalt nur und der edle Ausdruck des Hauptes … Armgart starrte dem allen und horchte seinen Worten, deren Klang ihr sofort wie Melodie erschien, denn was Paula liebte, liebte sogleich auch sie …

Der Himmel öffnet zuweilen durch Engelhand seine Pforten … Dann strömt einen Augenblick überirdischer Glanz über die Menschen und ringsum ist auch zuweilen dann wirklich die feierliche Andacht da und das heilige Verständniß … Ha diese kluge Welt! … Sie wußte schon alles … Ein einziger geisterhafter Augenblick sprach schon im stillen zu allen: Er kennt diese tiefblauen Augen, kennt den feuchtschimmernden Glanz derselben, die dunkeln Augenwimpern, die wie die Schwingen auch der Seele Paula's nicht unruhig flatterten,[193] sondern ruhig über ihrem blauen Himmel thronten … Nun staunt er doch wol, daß diese Augen sich noch immer schließen und mehr noch als sonst schon in die Ferne sehen können? … Und ziert dich denn noch immer dieselbe Schüchternheit, du vornehme Jungfrau, derselbe zagende Muth, der alles duldete, selbst wenn die böse Lucinde, von der hier mancher wußte, ihre Stellung vergaß und Befehle ertheilte, wo sie deren nur zu empfangen hatte? …

Verständigungen des Herzens konnten nur im Blicke liegen … Einen Schleier nach dem andern, der das kaum ja auch Auszusprechende verhüllte, wob schon gleich wieder das Leben in der buntesten Fülle seiner Anregungen … Da gab es zu besprechen! Die nächste und entfernteste Zukunft Paula's! Die Zeit selbst mit ihren ringsum ertönenden verworrenen Stimmen! Und die Prophetengabe der Herrin des Schlosses, auf deren Namen wol noch mehr Wunder und Voraussagungen gingen, als in Wahrheit begründet waren, wie war das ängstlich! Auffallend erschien, daß mit Bonaventura's Ankunft in Paula ein gehobener Schwung kam, der die Kraft des Geistes über den Körper zu stärken schien. Schon am ersten Tage hielt sich die Leidende über der versammelten Menschenmenge empor, erlag nicht dem Druck derselben, der sonst sie in solcher Lage immer plötzlich entschlummern machte. Und das nahm zu, wurde besser von Tage zu Tage. Sie erlag seltener der räthselhaften Krankheit ihrer Nerven. Was so mancher im stillen schon von der Ehe gesagt hatte, sie wäre ein Ausweg, der die Gräfin völlig heilen würde, zeigte sich dem Schärferblickenden annähernd. Statt einer[194] Steigerung der Neigung zum Traumschlaf trat anfangs eine Minderung ein.

Die erste Messe zu Sanct-Libori, die erste von der Kanzel gesprochene »Application« kennen wir. Sie riefen auch hier die Wirkungen hervor, die von Bonaventuras Auftreten unzertrennlich scheinen. Der Kreis von Bekanntschaften, der ihn schon wie gefangen nahm, wuchs. Seine Oberaufsicht über den Gang der kirchlichen Angelegenheiten in diesem Sprengel war mehr eine formelle Pflicht. Bonaventura erkannte dann auch zu sehr die Heftigkeit seines untergebenen Pfarrers, um mit einem Naturell zu streiten, das nicht zu ändern war und sogleich auch für seine Unarten als Vorwand heilige Namen hatte. Ironie half ihm gegen Uebertreibungen. »Denken Sie das?« »Ziehen Sie das also wirklich vor?« Von Witoborn's Geistlichen und Mönchen kam Bonaventura regelmäßig heim wie aus einem Kriegslager.

Die stillen Abendstunden auf Schloß Westerhof waren dann glückselige Momente. Terschka, Benno und Thiebold theilten sie, und da Armgart nicht immer zugegen war, blieb Paula der alleinige Mittelpunkt. Armgart wurde allerdings auch für Bonaventura mit der Zeit befremdend. Sie wanderte zwischen Westerhof und Heiligenkreuz, oft ganz allein, ohne die mindeste Furcht, selbst wenn sie durch einen ansehnlichen Wald gehen mußte. Bonaventura sprach von ihrer Mutter und von ihrem Vater mit gleicher Unbefangenheit. Eine Parteilichkeit für Benno entdeckte er nicht, mehr noch für Thiebold, am meisten für Terschka, der ihm gleichfalls neu und nicht sogleich erklärbar war. Terschka nannte Armgart eine Cactusblume. Der Onkel erläuterte:[195] »Brennendroth und von einer schönen Zeichnung, aber gewachsen auf einem gefahrvoll stachlichten Stamm!« … Nun geht es so, daß Menschen, die gerade das Bedürfniß haben, sich aneinander anzuschließen und sich einen hohen Werth einzugestehen, doch nur durch Reibung und Aneinanderstreifen sich nähern. Bonaventura hatte noch nichts von Thiebold's Buße vernommen und nur ewig Terschka und Terschka hört' er –? Wäre das möglich! sagte er sich. Armgart, ein Mädchen wie ein Thautropfe, und dennoch, dennoch eine so schnelle Wandelung –? Hier lag ein Räthsel vor und er erklärte sich's aus der Schwäche des weiblichen Gemüths und zürnte ihr und strafte sie schon oft oder »trumpfte sie ab«, »duckte« sie, wie es die Tante Benigna mit wahrer Genugthuung nannte … freilich nur durch ein Lächeln oder eine kurze ironische Zwischenfrage.

Ehe hier tiefere Blicke und Verständigungen folgten, kam dann die bange Fahrt zum Schlosse Neuhof, an dem Tage, als es hieß, der Kronsyndikus ist im Arm seines plötzlich angekommenen Sohnes, des Präsidenten, verschieden. Die schuldige Rücksicht verlangte, daß Bonaventura den zweiten Gatten seiner Mutter auf diese Nachricht sofort besuchte. Daß die Mutter nicht mitgekommen, wußte er. Er traf am Montag den Präsidenten in der ganzen Erregung, die ein längst vorausgesehener Fall, dessen endliches Eintreten man sogar den Umständen nach wünschen mußte, zuletzt doch hervorzubringen pflegt. Sein Stiefvater war auffallend gealtert. Er begrüßte Bonaventura mit all der scheinbaren Herzlichkeit, die ihm zu Gebote stand. Seine Gesundheit erklärte er nicht für die beste, sprach von Reisen nach dem Süden, von seinem Abschied, den[196] er nehmen wollte, von den Schwierigkeiten, die sich bei Abwickelung seiner Erbschaft ergäben, von dem Mistrauen, das ihm infolge des Kirchenstreits hier um seiner amtlichen Stellung willen entgegentreten würde. Er brachte Nachrichten vom Kirchenfürsten, der in seiner Gefangenschaft sich mit Ruhe in sein Schicksal ergäbe, wäre er sich doch bewußt, Anlaß einer Aufregung gewesen zu sein, die seinen Grundsätzen jetzt zugute kam; er rauche seine Pfeife, ginge auf den Wällen der Festung spazieren und wünsche nicht einmal die politischen Demonstrationen, die der Adel der diesseit und jenseit des großen Stromes gelegenen Provinzen beim Landesfürsten unternähme – »sie könnten ja nur in jenem revolutionären Sinne gedeutet werden, den er nie befürwortet hatte; denn die Kirche hätte nichts mit der neuen Richtung des Lamennais gemein, sie wäre alt genug und könne immer noch warten und warten bis ihr die geistige Hülfe käme« … Von der Mutter sagte der Präsident, sie würde auf dem Schlosse, das sie nie besucht hatte, gleich nach dem Begräbniß eintreffen. Der Präsident war kälter, wortkarger und verschlossener denn je geworden.

Am Begräbnißtage saß Bonaventura in dem Trauerwagen neben dem Stiefvater. Wohl sah er, daß selbst diese starren Züge erregter wurden, als sich der Zug dem Düsternbrook näherte. Als die Scene an der Eiche vorfiel, erblaßte der Präsident; das Wort erstarb auf seinen Lippen; in eine Ecke gedrückt wartete er ab, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzte. Ein tiefer Seufzer entrang sich seiner Brust, als die Störung vorüber war und ihm Bonaventura zu seiner Beruhigung[197] die leisen Worte sprach: »Paulus sagt: Der Tod ist der letzte Feind! Nun wird ja Friede sein!« … Zum Kloster Himmelpfort gehörte eine große, nicht ungefällige, lichthelle Kirche. Sie lag an der Spitze eines der Winkel, die durch ein großes Viereck gebildet wurden; durch eine Mauer gebildet, die das Kloster einschloß. Das Kloster selbst, ein zweistöckig Gebäude, mit einem Thürmchen versehen, gehörte dem siebzehnten Jahrhundert an, die Kirche dem achtzehnten. Ringsum standen Obstbäume; im Innern des Klostergartens waren die Beete mit Stroh belegt und deuteten eine freundliche Vegetation für den Sommer an. Hinter einem dieser kleinen Fenster, die ringsum das viereckige Gebäude erhellten, wohnte Klingsohr. Ihn sah man nicht unter den Franciscanern, die den Sarg begleiteten. Auch den Bruder Hubertus, auf den Bonaventura nach allem, was er über den »Abtödter« durch Klingsohr und Jodocus Hammaker wußte, begierig sein mußte, konnte er weder beim Beginn des Zuges noch jetzt entdecken und an der verhängnißvollen Eiche war gerade ihm der Anblick entzogen gewesen, den die andern Wagen ungehinderter hatten, der Anblick, wie plötzlich unerwartet auftauchend Hubertus mehr der Störung durch den Musikanten, als der Anrede des Sarges durch einen andern Störer der Todtenruhe, durch den Küfer, ein Ende machte … Die Kirche diente als Erbbegräbniß vieler ringsum wohnenden Adelsfamilien. Bilder sah man, Seitenaltäre und Beichtstühle, keine Säulen oder Bogen. Der Hochaltar war im Stil der Franciscanerkirchen; jeder Orden hat seine eigene Weise, seine eigene geistige und physische Farbe sogar, die er seinen[198] Kirchen anhaucht. Bei den Franciscanern ist alles braun, mäßig vergoldet, hier und da ein blaues Band etwa an einer Maria, ein weißer Schimmer etwa von der Taube, die über dem Tabernakel schwebt; regelmäßig steht der Ordensstifter vor dem Crucifix mit dem bekannten ekstatischen Liebesblick der Ergebenheit, mit seiner auf das Herz gelegten linken Hand; der Fußboden ist von Stein, die Wände sind weiß, nur hier und da vom Ruß der Lichter angeschwärzt; das Ganze einer solchen Franciscanerkirche ist dem Volk eingehend durch eine gewisse altfränkische Einfachheit wie die Heimlichkeit alter, von Großältern ererbter, braungebeizter Möbeln mit geschweiften Bogen und bronzenen Schlüssellöchern und Ringen an den Schubläden … Hier war es, wo der Kronsyndikus in die Gewölbe gesenkt wurde … Das über ihn Unausgesprochene, doch von allen Gefühlte verklang in dem Brausen einer stattlichen Orgel … Der Provinzial- Guardian fand auf dem bereits auf dem Schlosse von Weihduft überräucherten Sarg auch jenes Stückchen Tuch nicht mehr, das wol in den Schnee gefallen sein und im Schmelzen desselben an der Frühlingssonne vermodern wird …

Da Bonaventura Klingsohr besuchen wollte, behielt er eine der Trauerkutschen zurück … Der Präsident versprach, bald auf Westerhof zu erscheinen und dann auch sogleich in Begleitung der bis dahin vielleicht angekommenen Mutter Bonaventura's.

Der ehemalige Graf von Zeesen, der jetzige Pater Ivo, wurde von Bonaventura bald entdeckt … Klingsohr hatte ihm ja im vorigen Jahre seine Geschichte erzählt …[199] Er wußte, daß seine ehemalige Verlobte als Schwester Therese bei den Karmeliterinnen wohnte … Ein hagerer, blasser Mönch kam mit einem Weihwedel daher und wehte durch die Luft, als stäubte er auch diese rein … Die Gäste, das Gesinde, die nachdrängenden Landbewohner hatten die Kirche verlassen; nur einige Arbeiter blieben, die über die Oeffnung, in die der Sarg des Kronsyndikus hinuntergelassen, wieder die Steinplatte zu legen hatten … Nach drei Uhr war es … Die Brüder hatten auf dem Schlosse eine Art »Frühstück im Stehen« eingenommen … Ob wol da noch Pater Ivo das Brustbild seines alten Freundes Jérôme erkannt hatte? … Dort summte er, ohne aufzusehen, Lieder zum Lobe Mariä; auch hier that er es … Niemanden blickte er dabei an, niemanden gab er Antwort … Er lebte nur sich und Maria … Sein Eigenthum war an die Landschaft gegeben worden für eine Irrenanstalt, deren die Provinz – immer dringender bedürftig wurde … An der Oeffnung, in deren Tiefe der silberbeschlagene Sarg blinkte, mußten eine Menge Melusinen sitzen … wie huschte er dahin daher mit seinem Wedel und jagte die Unheiligen fort!

Es ist Pater Ivo! sagte ein junger Mönch, auf Bonaventura zutretend. Er ist irr', wie Sie wol sehen, Herr Domherr!

Der junge Mönch nannte sich Pater Quirinus … Er hatte ein Bund Schlüssel in der Hand, wollte erst die Schränke schließen, in welche der Guardian seine Meßopferkleider, die Mönche die Requisiten der Räucherung des Sarges und die Tücher gelegt hatten, auf denen[200] er ausgestellt gestanden hatte; dann galt es, das Hauptportal der Kirche zu schließen – für die Arbeiter und Betbedürftigen gab es einen allen Bewohnern der Gegend bekannten kleinen, versteckten Nebenausgang.

Bonaventura sah sich erkannt, sprach sein Verlangen aus, den Pater Sebastus zu besuchen, und willigte gern ein, die Erlaubniß dazu so lange abzuwarten, bis Pater Quirinus sein Amt beendet hatte …

Er begleitete ihn auf seinem Rundgange hinter der Sakristei …

Mit der größten Unbefangenheit sagte der junge, frisch und blühend aussehende Mann und mit einer ganz gewöhnlichen Sprechweise:

Unser Bruder Hubertus ist nicht zugegen! Er kam gerade recht von einer Reise, um die unverschämte Störung durch den Musikanten abzutrumpfen! Viel lügt man auch über den Kronsyndikus! Wir hier müssen ihn schätzen! Manches, was Sie hier an Gold und Silber sehen, haben wir in seinen letzten Tagen von ihm bekommen!

Dem für einen Geistlichen fast zu resoluten jungen Mann erwiderte Bonaventura:

Als sich der Verstorbene vor einigen Jahren sein Erbbegräbniß neu herrichten ließ, widersprach, hör' ich, der selige Provinzial Henricus und schrieb deshalb nach Rom …

Ganz recht! erwiderte der junge Mönch. Cardinal Ceccone schickte durch Vermittelung des Ministeriums den Spruch der heiligen Pönitentiarie. Der Kronsyndikus legte eine Generalbeichte ab, die an unsern Ordensgeneral nach Rom gegangen ist. Seitdem kam der[201] Befehl, ihm keine der geistlichen Wohlthaten zu entziehen …

Der junge Mönch machte Anstalt, Bonaventura alles zu zeigen, was die Kirche an alten Bildern, kostbaren Gefäßen und gestickten Gewändern besaß …

Bonaventura ließ es geschehen … Konnte er sich doch indeß in die Vorstellung finden, diesen abgerissenen Fußboden dort im Zusammenhang mit Rom zu wissen! Cardinal Ceccone, der politische Lenker der Geschicke des Kirchenstaats – der Großpönitentiar und Oberinquisitor der ganzen katholischen Welt – der General der Franciscaner – drei höchste Würdenträger der Kirche betheiligt an dem aufgedeckten Leben des Kronsyndikus! Dort vielleicht alles enthüllt, was hier der Welt ewig unbekannt blieb! Dort vielleicht alle Schleier hinweggezogen, die seit Jahren über dem Leben auf Schloß Neuhof hingen! Dort vielleicht auch die Gründe bekannt, warum seit Jahren der Dechant nur mit dem Ausdruck des größten Mismuths seines alten Freundes, des Kronsyndikus gedachte! Dort auch vielleicht – ein Zusammenhang – es durchzuckte ihn das so – mit jenen Drohungen, die Lucinde gegen ihn selbst auszustoßen gewagt?

Der junge Mönch entfaltete kostbare Meßgewänder, warf sich sogar eine »Kasel« um und zeigte mit wohlgemuther Freude, wie schwer sie an echtem Golde war …

Die ist noch nicht zu alt! sagte er. Die verstorbene Frau von Wittekind hat die köstliche Arbeit, die in Paris gemacht wurde, vor vierzig Jahren gestiftet …

Das war die Schwiegermutter seiner Mutter …[202]

Pater Ivo ging leise singend vorüber, huschte mit dem Weihwedel und jagte die Geister fort …

Pater Quirinus sah ihm lachend nach, während Bonaventura in Rührung stand …

Beim Oeffnen der übrigen Schränke und dem wiederholten Anlegen der kostbaren Gewänder durch den jungen Pater erkannte Bonaventura einen oft vorkommenden Fehler seiner geistlichen Brüder, Eitelkeit auf ihren malerischen äußern Schmuck beim Cultus. Die Mönche von Kloster Himmelpfort lasen ringsum in kleinen Kapellen die Messe … Rom hält die Menschheit doch an tausend Fäden! sagte sich Bonaventura …

Als der junge Mönch eine Anzahl Gefäße aus dem Verschluß doppelter und dreifacher Schlösser hervorholte, fragte er ihn:

Warum traten Sie in den Orden?

Es war mir die beste Versorgung! erwiderte der junge Mann … Ich bin armer Aeltern Kind, wollte studiren, brachte mich kümmerlich durch und hatte keinen Muth, auf die Universität zu gehen. Ich wollte ins Postfach, meldete mich und wurde wegen Ueberfluß von Meldungen nicht angenommen. Eine Braut, die ich hatte, wollte nicht länger warten und heirathete mir vor der Nase weg einen andern. Das verdroß mich. Ich wußte nicht, was anfangen, und ging ins Kloster. Zwei Jahre war ich Novize. Jetzt hab' ich die Weihen und bin versorgt.

Sie wollen nicht höher hinauf? Haben keinen Ehrgeiz? fragte Bonaventura, erstaunt über diesen Mangel an Empfindung bei einem doch so traurigen Geschick …[203]

Nein! war die unbefangene Antwort …

Also gibt Ihnen der Schmerz über die Täuschung durch Ihre Liebe diese Kraft, so zu entbehren und zu entsagen? …

Meine Braut handelte vernünftig! Ich hätte erst zehn Jahre auf eine Anstellung bei der Post oder im Steuerfach warten müssen! Jetzt hab' ich mein Brot; für mich freilich nur allein, aber das kann man ertragen …

Währenddessen schloß der junge wohlgenährte Pater einen Schrank nach dem andern auf und zu, knixte erst vor jedem geweihten Gegenstande, zeigte ihn dann, schloß ihn wieder mit einem Knix ein, alles nach derselben Cadenz und mit der größten innern Befriedigung.

Bonaventura konnte sich in eine solche Weihelosigkeit nicht finden. Er mochte noch immer glauben, daß hier ein Schmerz überwunden und für die Zufriedenheit an diesem Berufe vielleicht auch Pater Hubertus' Abrichtung gesorgt hätte …

Auch Ihnen hat zu dieser wohlgemuthen Ergebung in manche Entbehrung gewiß der »Bruder Abtödter« verholfen? fragte er …

Pater Quirin lachte …

Na ja! sagte er. So kennen Sie also auch den alten Knaben? Er konnte sich lange nicht in den Frieden finden, den die Kirche mit seinem alten Feinde schloß, mit dem Kronsyndikus! Allen ist aufgefallen, daß er doch gerade heute zurückkehrte und sogar für Ordnung sorgte. Knochen hat er wie Eisen – aber mich brauchte er nicht zu bändigen! Ich thue hier, was ich muß. Wir[204] haben alle unsere leidliche Bequemlichkeit. Ich zeige Ihnen das Refectorium …

Entbehren Sie gar nichts? fragte Bonaventura im Weitergehen …

Gewiß nichts! antwortete Pater Quirinus und küßte mit gemachter Andacht eine Monstranz, die über und über mit Edelsteinen besetzt war und nur bei den höchsten Veranlassungen aus diesen wohlverwahrten Schränken genommen wurde.

Diese gleichbleibende Gelassenheit streifte in Bonaventura wiederum alle Blüten ab. Er konnte sich nicht finden und erinnerte wenigstens an den Zauber der Freundschaft und des Zusammenlebens in einem Kloster …

Aber auch dem erwiderte der junge Mann:

O nein! Wir sind hier zusammen keine Freunde! Es ist auch gut so! So wie wir uns aneinander anschließen, fangen wir an über unsere Verhältnisse Gedanken zu haben; dann verbittern wir uns vieles, worüber wir jetzt nicht grübeln. Jeder ist besser für sich!

Diese Freundschaften kommen also doch vor?

Selten! lautete die Antwort, während sich der Mönch umsah und jetzt leiser sprach. Sowie sich zwei Brüder allzu sehr aneinander schließen, im Garten zu oft zusammen spazieren gehen, sowie man bemerkt, daß sie bei Tisch zusammensitzen wollen oder auch auf der an der Thür des Guardians hängenden Tafel über unsere Wochenverrichtungen zu häufig zusammenzukommen suchen, so werden die Leute getrennt.

Das ist ja eine Grausamkeit, wallte es in Bonaventura auf … Der einzige Trost der Einsamkeit –[205] der freundschaftliche Austausch der Gedanken und Gefühle! Der Rückblick auf ein vergangenes Leben! Die gemeinschaftlichen Tröstungen an den Quellen des Wissens und des Denkens! … Aber er durfte alles das nur durch Seufzen ausdrücken und sagte sich im stillen: O die Menschennatur ist doch im Durchschnitt ganz so wie bei diesem jungen Manne! Was ist bei Tausenden ihre geistige Meinung? Ihr Bedürfniß nach Erhaltung, Ernährung, Unterkunft! Solche Institutionen wie die Klöster glaubt' ich auf Felsen gebaut und ich sehe: Einen Beutel mit Geld in der Hand und sie lassen sich wie Kartenhäuser umblasen!

Durch einen Seitengang kam man aus der Sakristei in das Kloster. Ein Kreuzgang von allein, morschem Holz führte zu ihm hinüber. An der Wand der Kirche hingen, allemal einer Oeffnung an der andern, in einen mit Schnee bedeckten Garten hinausgehenden Seite gegenüber, Bilder, die von einem Tüncher verfertigt schienen und Wunder des heiligen Franciscus vorstellten. Jedes derselben war geistlos. Schon aus der Jahreszahl 1707 konnte man den Geschmack sowol der Malerei, wie den Stil der Unterschriften erkennen. An die Poesie eines winterlich romantischen Klosterkreuzgangs, wie ihn unser Lessing gemalt hat, war hier nicht zu denken. Eine hölzerne Gitterthür führte ins Kloster. Pater Ivo schlenderte leise singend in einem der langen Gänge und Quirinus sprang fast wie ein Tänzer mit seiner langen Kutte voraus, um dem Provinzial-Guardian Maurus die Meldung zu machen … Einstweilen trat Bonaventura in das Refectorium. Es ähnelte einem Wirthshauszimmer[206] auf dem Lande mit alten Holzpfeilern, mächtigem Ofen, Stellagen zum Aufschichten der Eßgeräthschaften. Von hier aus sah man durch kleine Scheiben in den innern, strohbedeckten Garten …

Bonaventura sehnte sich, ein Wort der Ermunterung mit Sebastus zu sprechen … Aus Lucindens Beichte wußte er ja, daß er hatte nach Belgien entfliehen wollen … Sie hatte ihm sogar die Ueberredung, daß Sebastus zu den Jesuiten hatte entfliehen wollen, nicht verschwiegen … Daran nun zu erinnern war Bonaventura freilich verboten … Alles, was er etwa Lehrreiches, Warnendes oder Ermunterndes gerade über diesen Punkt mit dem Convertiten hätte sprechen können, mußte ausdrücklich unterbleiben … Als Beichtvater durfte er nicht mehr von ihm wissen, als was Sebastus selbst voraussetzen konnte … Er mußte unwahr sein.

Die in Reihe und Glied aufgestellten steinernen Bierkrüge der Mönche musternd, hörte er Quirinus' Rückkehr …

Dieser kam bestürzt. Er sagte, der Pater Sebastus hätte eine Pön verwirkt und sollte niemanden sprechen; der Provinzial würde sogleich selbst erscheinen und sich dem Herrn Domherrn entschuldigen …

Bald auch kam Pater Maurus. Aeußerlich war er nicht zu unterscheiden von allen andern Mönchen. Man kann in Rom auf der Via Appia in einem Omnibus mit Bauern aus Tivoli fahren, hat neben sich einen einfachen Mönch in weißem Kleide sitzen und weiß nicht, daß es der großmächtige General der Dominicaner ist … Pater Maurus war ein hoher, starkknochiger Mann. Seine[207] buschigen und schwarzen Brauen lagen trotzig über den funkelnden Augen, die sich den Ausdruck der Unterwürfigkeit gaben. Immer erstarb sein Lächeln ebenso rasch wie es kam. Eher glich dieser Mönch einem Gefängnißwärter als einem Boten des Friedens.

Pater Quirinus zog sich zurück … Der Provinzial und der Domherr setzten sich auf die nächsten Holzschemel …

Vergebung, Herr Domherr, sagte der Provinzial, wir haben mit dem Pater Sebastus einen schweren Stand! Die Regierung lieferte ihn uns aus der Residenz des Kirchenfürsten zurück mit dem Bedeuten, ihm jede schriftstellerische Thätigkeit zu untersagen, jede Theilnahme an unserm gegenwärtigen traurigen Kampfe. Die Weisung war überflüssig, da der Pater ohnehin erkrankte und uns eine Zeit lang ernste Besorgnisse einflößte. Seit einiger Zeit geht es ihm besser; doch ließen wir ihn in der Krankenstube, weil er, in seine Zelle zurückgekehrt, seine Pflicht, Nachts zwölf Uhr aufzustehen und in den Chor zu gehen, um zu singen, wie jeder andere hätte erfüllen müssen. Heute in aller Frühe besuchten ihn zwei Fremde, ein Jude und jener Mensch, dem wir vor wenig Stunden den frechen Auftritt im Düsternbrook verdankten. Ich nehme Ihr Vertrauen in Anspruch, Herr Domherr! Denken Sie sich die Verabredung! Jenes Stück Tuch, das der Störenfried auf den Sarg zu legen wagte, bekam er von unserm Pater, dem Sohne des damals unglücklich, wie man jetzt sicher weiß, nur im Wortwechsel und nach offener Gegenwehr Gefallenen. Dafür verlangte er von[208] jenem Juden, wie von dem Küfer – Stephan Lengenich ist sein Name – die Mittel zur Flucht …

Wie erfuhren Sie das? war eine Frage, die Bonaventura mehr aus Schreck aussprach, als in Voraussetzung, daß die Gespräche, die im Krankenzimmer gehalten wurden, belauscht werden konnten … Erst als er Pater Quirinus an der zufällig aufgehenden Thür des Refectoriums stehen sah, kam ihm die Vorstellung, daß seine Frage ohne Beantwortung bleiben konnte …

Wir wissen es, Herr Domherr! sagte der Provinzial mit verdrossenem Blick auf die Thür. Wir wußten es schon in der Frühe. Ich hatte mir eine ernste Ermahnung als einzige Buße vorgenommen. Seitdem jedoch durch des Paters Mitwirkung eine heilige Handlung gestört, eine ganze Familie, der er selbst früher so oft bekannt hat Dank schuldig zu sein, durch sein Zuthun unverantwortlich compromittirt worden ist, hab' ich ihm statt des Krankenzimmers die Strafzelle angewiesen. Ich kann nicht wünschen, daß Sie ihn in seinem gegenwärtigen Zustande sehen.

In welchem Zustande? fragte Bonaventura mit gesteigertem Bangen und folgte der Bewegung des Provinzials, der sein Ohr spitzte, als vernähme er irgendwoher einen Ruf …

In der That hörte man in dumpfer weiter Ferne einen Ton wie einen Schrei um Hülfe …

Bonaventura mußte aufspringen und sich an dem Schemel halten … Das ist er? sagte er und deutete auf das Fenster, von wo der gellende Schrei gekommen war.[209]

Er ist es! Ja! sprach der Provinzial mit kalter Ruhe … So tobt er in seiner Strafzelle und spricht wild durcheinander … Ich lass' ihn binden, wenn er nicht schweigt …

Lassen Sie mich zu ihm! bat Bonaventura …

Herr Domherr, diese Wohlthat wäre unverdient … Er würde auch Sie anfahren wie ein wildes Thier …

Nein, nein, wir kennen uns!

Sie würden uns die Züchtigung stören, die ein Pater verdient, der aus seinem Kloster entfliehen will!

Bonaventura stand mit schwindendem Bewußtsein. Er sah Abgrund und Nacht um sich her und bei alledem – auch die fernwirkende, trügerisch lockende Gewalt Lucindens! … Sie hatte den Mönch, ihren ehemaligen Geliebten, in Knabentracht besucht! Ihr Lächeln, ihre muthige Rede hatte ihn – »um ihn aus meinen Bahnen zu entfernen«, hatte sie ihm frank und frei gebeichtet – zur Flucht überredet … Sie hatte seinen Muth, seinen Ehrgeiz entflammt zu einer neuen Entwickelung seines immer noch reichen, wenn auch verirrten Geistes … Eine Gelegenheit zur Flucht bot sich vielleicht … So, wie er jetzt die gräßliche Stimme hörte, die der eines Ertrinkenden glich, klang ihm in der Erinnerung sein eigener Seelenaufschrei, als an jenem Abend der Abreise ihn plötzlich Lucinde verlassen hatte und ein wilder Sturm durch seine Adern brauste … Zu ihr! Zu ihr! klang es aus Sebastus' Munde in sein Ohr … Besinnungslos ergriff er seinen Hut und bat wiederholt:

O lassen Sie mich zu ihm![210]

Herr Domherr! lehnte der Provinzial fast vorwurfsvoll ab … Wenn er sich beruhigt hat! Morgen! setzte er hinzu …

So bitt' ich – grüßen Sie ihn von mir! hauchte der liebevolle Priester, seufzend über die Nothwendigkeit, den Formen und Satzungen seiner Kirche sich ergeben zu müssen. Sagen Sie ihm, daß ich in dieser Gegend weile, daß ich den ersten ruhigen Augenblick, den Sie mir anzeigen werden, benutzen und zu ihm kommen will! Versprechen Sie mir's!

Sehr gern, Herr Domherr! sagte der Provinzial mit derselben Freundlichkeit, als handelte es sich um die Anzeige eines in völlig natürlicher Weise eintretenden harmlosen Ereignisses …

Und Bruder Hubertus? drängte Bonaventura, jetzt schon im Gehen … Vermochte der nicht sonst so viel über ihn?

Auch das ist ein Mitglied unsers Klosters, erwiderte der Provinzial, im Gehen verbindlich die linke Seite nehmend, mit dein wir viel Geduld haben müssen! Er war in Angelegenheiten einer Erbschaft, die er machte, verreist …

Bonaventura trug als Beichtpriester eine solche Last von Thatsachen in seinem Gedächtniß, daß er nach einem Verhältniß fragte, das er doch schon öfters, von Benno sowol wie von Hammaker, fast vollständig erfahren hatte … Er fand sich allmählich zurecht und unterbrach die Erläuterungen des Provinzials:

Ganz recht! Ich weiß! Er wird das von einer Ermordeten geerbte Geld dem Kloster geben …[211]

Doch nicht! war des Provinzials verdrießliche Antwort. Dieser Hubertus hat wunderliche Seiten. Im Vertrauen gesagt, er hat einen etwas dunkeln Ursprung. Man sagt geradezu: Seine Angehörigen sind auf dem Richtplatz gestorben! An einem Tage, wo eine Gaunerbande, zu der er als Knabe gehören mußte, aufgehoben, das Haus, in dem sie sich vertheidigte, genommen und angezündet wurde, soll unser Bruder – sagt man, und sei es auch unter uns, Herr Domherr! – zwei Stock hoch aus dem Fenster gesprungen sein, in jedem Arm mit einem Kinde … Glücklich kam er mit den beiden Kindern zur Erde nieder, entrann den Flammen, entrann der Verfolgung, machte einen abenteuerlichen Lebenslauf, wurde ein an sich ganz vortrefflicher Mensch, exemplarisch in seiner Aufführung, nur störende Seltsamkeiten hat er. Als Jäger des Kronsyndikus erlebte er einen bittern Verdruß und wurde deshalb Mönch. Mancherlei leistete er schon unter Pater Henricus, meinem Vorgänger. Jetzt hat er sich in den Kopf gesetzt, die zwanzigtausend Thaler, die er von jener Frau Buschbeck – sie nannte sich schon nach seinem Namen, während sie doch nur eine gewisse von Gülpen und seine Verlobte war – ererbte, wenn irgendmöglich, dazu anzuwenden, sie den beiden Kindern zukommen zu lassen, die er einst aus dem Feuer rettete, falls sie sich entdecken ließen. Sie waren ihm, nachdem er sie im stillen erzogen hatte, abgenommen worden. Jetzt correspondirt er nach Holland, Frankreich, Italien, um ihre Spur zu finden. Ich schrieb nach Rom, ob ich ihm auf ein Jahr die Erlaubniß ertheilen kann, scheinbar in irgendeinem andern Auftrage in die Welt hinauszuwandern. Bis die Antwort da ist,[212] gestattete ich ihm vorläufig auf eigene Verantwortung die Reise nach Holland, von der er jetzt zurückgekommen.

Unter diesen Mittheilungen waren beide, in der Ferne wieder von dem leise singenden Ivo verfolgt, an die kleine Thür gekommen, die den verborgeneren Eingang zur Kirche bildete.

Hier stand Bonaventura's Wagen …

Mit einem Abschied, den der Provinzial nahm, als wenn ein Offizier von seinen untergebenen Mannschaften einem andern hohen Militär eine einfache conversationelle Mittheilung gemacht hätte, bestieg Bonaventura seinen Wagen … Ein Bedienter in Trauerlivree war vom Präsidenten für den Stiefsohn des Hauses zurückgelassen worden … So fuhr Bonaventura in schon heraufgezogener Dämmerung von dannen.

O ihr Klöster, seid ihr denn Zufluchtsstätten des Friedens und der reinen Menschenliebe?! …

So tönte es in allseitig schmerzlichster Betrachtung durch Bonaventura's Inneres, als er in die schon dunkelnde Ferne hinausfuhr, hin- und hergeschleudert auf den Furchen der Feldwege, die zurückzulegen waren, um in kürzerer Frist auf Schloß Westerhof zurückzukommen, wohin der Kutscher ihn glaubte fahren zu müssen …

Erst nach einer Stunde, während durch sein Herz alle schrillen Accorde des Zweifels, alle klagenden der Wehmuth zogen, entdeckte er in der allmählich ganz hereingebrochenen Nacht die Absicht des Kutschers, klopfte ihm und befahl die Richtung zu nehmen nach Sanct-Libori ins Pfarrhaus … Wie sollte er Frieden bringen in die stille Abendgemeinschaft des Schlosses! Wie den schrecklichen[213] Ruf nicht verrathen, der immer noch wie ein: Zu Hülfe! an sein Ohr tönte –! Ein anderer Ton schloß sich an, ein hochfeierlicher, wie am Tage des Gerichts einst die Lüfte Stimmen tragen werden … jenes Wort, das ihm einst der Onkel in Kocher am Fall gesprochen an dem schönen goldenen Sommermorgen: »Wenn ich mich zuweilen in unserer katholischen Welt umsehe, ist's mir doch, als sähe ich in alten Verließen die Gebeine der Geopferten modern.«

Und bei alledem schwatzte nun schon Norbert Müllenhoff wieder, daß er den Ankommenden mit Sehnsucht erwartet hätte, bot Pfeifen, Cigarren, Vesperbrot, Unterhaltung durch Zeitungen, Broschüren, durch seine eigene werthe Person, und legte ihm zuletzt sogar »mit Schüchternheit« einen Versuch vor, wie die »Exercitien« der Frau von Sicking zu organisiren wären … Von dem an seiner Thür heute früh ausgestellten Wachskindchen schwieg er wohlweislich, weil er nichts verrathen mochte von einer Gegnerschaft, die in der Gemeinde mehr seine Person als sein System traf.

Bonaventura, erschöpft, geduldig an sich schon, nahm das Papier, um es in Muße durchzulesen. Er blieb eine Stunde auf seinem Zimmer. Um sich zu sammeln, schrieb er Briefe, las Rechnungen, zerstreute sich mit Zeitungen … Zuletzt bereute er, doch nicht nach Westerhof gefahren zu sein … Selbst für Thiebold's schwaches Klavierspiel wäre er jetzt dankbar gewesen …

Beim gemeinschaftlichen Abendimbiß, den er nicht ablehnen konnte, mußte er dem Wirth, der fast immer allein das Wort führte, auf alle Gebiete der Seelsorge und[214] Liturgik folgen, ihm sogar in manchem Recht geben. So z.B. als er gegen die Einmischung der Dilettantenmusik in den Cultus sprach und sagte:

Ueberhaupt, Herr Domherr, wenn ich höre, die Stiftsdamen von Heiligenkreuz wollen nächste Ostern wieder in der Messe mitsingen, da weht mich schon ein Grauen an! O diese Eitelkeit! Diese Eifersucht! Diese Prätension! Jenes Fräulein will ein Solo singen, diese alte Comtesse nicht minder, nun kommt der Singdirector aus Witoborn und bringt mir diese Botschaft und jene; die eine ist heiser, die andere hat sich krank geärgert; gerade wie bei der Komödie! Und was spielt das Altarsakrament dabei für eine Rolle! Wie die Affen müssen wir stehen und warten, bis die Damen nur auf dem Chore einzufallen die Gnade haben! Sursum corda! ruf' ich und diese Weibsen halten mir kein Stichwort! Hat sich bei einer die Spitzenmantille verschoben, so kann die heilige Wandlung warten, bis der Schaden wiederhergestellt ist! Da bin ich für unsere einfachen Kapelljungen! Sagen Sie selbst, das ist doch frisch, ländlich, geht zu Herzen. Freilich muß auch da so ein Heidenkerl, so ein Cantor, nicht dabei sein und wunder thun, als wenn unser Herrgott im Himmel zunächst nur für die Unterbringung der Instrumentalmusik zu sorgen hat!

Bonaventura mußte des Eiferers lächeln, der in manchem Recht hatte, wenn er auch die neurömische Reaction wie einen Landsturm organisirt haben wollte …

Mir ganz recht, sagte Müllenhoff, wenn wir, wie in Frankreich und Belgien, nun recht bald endlich auch die Jesuiten kriegen! Sie brauchen ja nur manchmal zu[215] kommen, manchmal zu predigen und können dann immer wieder abziehen. Die Pfarrer hätten keinen Nutzen davon, sagen unsere aufgeklärten und faulen Collegen? Im Gegentheil! Die Jesuiten lassen durch ihre Predigten so viel Schrecken zurück, daß uns das auf Monate lang zugute kommt. Machen sie's zu arg, so können wir Pfarrer immer sagen: Seht ihr, so fegen euch andere; seid froh, daß ihr an uns so sanfte Flederwische habt! … Sie waren ja auch früher Pfarrer auf dem Lande? setzte Müllenhoff hinzu und schenkte wacker ein …

Gewiß, gewiß! antwortete Bonaventura zerstreut und deckte sein Glas mit der Hand …

Müllenhoff erzählte seine Verhandlung mit den Gemeindevorständen, seine Reform des Finkenhofs, seine Stiftung des Jünglings- und Jungfrauenbundes, seine Gewohnheiten beim Beichthören, seine Uebungen im richtigen Rosenkranzsprechen und seine Heilung der »Kniesteifigkeit« …

Bonaventura's Lächeln und Schweigen nahm er für volle Zustimmung und beklagte nur, daß, »im Vertrauen gesagt«, ihn der Umgang mit den vielen Vornehmen oft in ärgste Verlegenheit setze … Aufrichtig gesagt, warf er halb ernst, halb im Scherz ein, obgleich ich heute den Tanz zur tiefsten Hölle gewünscht habe, so sollten wir doch – im Seminar wirklich etwas tanzen lernen! Blos des Anstands und einer gewissen Manier wegen!

Die Jesuiten lehren's ja! sagte Bonaventura … Aber wie wollen Sie dann nur, fuhr er fort, bei solcher Scheu die Exercitien halten mit so vielen vornehmen Herrschaften? Ueberhaupt, wie denken Sie sich denn diese Uebungen?[216]

Die Exercitien dauern vier Wochen! sagte Müllenhoff. Die Herrschaften, einige zwanzig, wohnen für die Zeit alle bei Frau von Sicking! Jeder Tag hat seine bestimmte Regel! Alle geistlichen Handlungen und Erweckungen kann ich allein nicht verrichten; Sie werden auf dem Papier, das ich Ihnen gab, finden, wie ich mindestens noch drei bis vier Priester als Aushülfe hinzunehmen muß … Ich nehme sie mir aus Witoborn. Manche Rücksichten muß ich freilich dabei beobachten. Dem Provinzial von den Franciscanern darf ich die Ehre einen Vortrag zu halten nicht entziehen, sogar ein Gebet zum Schluß muß ich mir vom Bischof selbst erbitten. Mir, auf dessen Sprengel die ganze Veranstaltung fällt und der ich dadurch das Recht habe, die Sache zu leiten und zu beobachten und mir dies Recht auch nicht nehmen lasse, mir behalt' ich die Montags- und Donnerstagserweckungen vor. Apropos! Ich habe mir eine methodische Schilderung des Fegfeuers, der Hölle und des Paradieses vorgenommen … Eine zeitgemäße und moderne Hölle …

»Und nun, du beneidenswerther Verdammter, wird ein Sendbote Lucifer's dir entgegentreten«, sprach Müllenhoff sogleich aus dem Kopfe, während Bonaventura, seinem Ohr nicht trauend, noch mit dem Lachreiz kämpfte … »im glühenden Widerschein der Majestät Seines Herrn und wird dir die ›Stunden der Andacht‹ zeigen, die du in den Zeiten deiner Denkglaubigkeit das Buch der Bücher nanntest! Hast du auf Erden geglaubt« – Der Sprecher stockte, zog ein Concept aus der Rocktasche und las dem Gaste, der nicht wußte, wie ihm geschah:

»Hast du auf Erden geglaubt, im Schatten einer[217] Laube, von Bienen umschwärmt, unter dem Duft von Hollunderblüten dich vor dem wahren Hochaltar und dem Sanctissimum deines Schöpfers zu befinden, besonders wenn du dazu noch aus diesem deinem Buch der Bücher ein Kapitel über die Unsterblichkeit der Seele gelesen hattest, und gingst dann hin und begossest deine Blumen, etwa wie wenn du selbst ein solches Lob deines Schöpfers wärest, aber kein anderes heiliges Naß brauchtest, als deinen sentimentalen ›Thautropfen‹, keinen andern Kelch, als die Gießkanne deiner angebeteten ›Natur‹ – dann, dann, du beweinenswerther Denkglaubiger, sollst du, umschwärmt von feurigen Hornissen, dein geliebtes Buch, die ›Stunden der Andacht‹ wiederfinden als ›Jahrhunderte der Qual‹, sollst sie auswendig lernen rück- und vorwärts, sollst sie in alle Sprachen übersetzen, selbst in die, die du nicht gelernt hast, und wehe dir, wenn ein Jota fehlt, wenn von dir ein Zeitwort falsch angewendet, eine Feinheit fremder Sprachen unbeachtet geblieben ist!« …

Das ist ja mehr, als Nero und Busiris! rief Bonaventura in die Hände schlagend …

»Da kommen sie denn«, fuhr Müllenhoff ungehindert fort, »diese Schmachtenden, diese Zärtlichen, die über einen Käfer weinen konnten, den ihr Fuß im Grase zertrat, und keinen Blick, geschweige eine Thräne dafür hatten, wenn sie stündlich ihren Gott, ihren Heiland und seine Gebote mit Füßen traten! Jene Schmachtenden, die ein Marienwürmchen liebkosen und bewundern können und Maria selbst nur für eine ganz gewöhnliche Mutter wie andere auch halten! Jene Empfindsamen, die mit[218] Freimaurermoral alle Todsünden zuflicken, alle Risse der Herzen mit phrasenhaftem Kalk und Mörtel zu verschmieren wissen! Ihre ruchlosen Devisen: ›Thue recht und scheue niemand!‹ oder ›Wir glauben all' an Einen Gott!‹ die werden mit Flammenschrift an dem Vorhof desjenigen Theiles der Hölle stehen, der gerade diesen Patent-Seelen extra bestimmt ist! Riesengroß werden die Buchstaben sein, die die Teufel mit dreizinkigen Gabeln schüren müssen, damit sie ganz so brennen, wie sie im Munde dieser Freimaurer lebten und nicht etwa lauten: ›Thue recht und scheue dennoch Gott und seine Heiligen!‹ oder: ›Es ist nur Ein Gott, in dem allein das wahre Heil!‹ O, des Jammerns dann, wenn diese Freimaurerseelen zu dem Gekreuzigten, dessen einflußreiche Stellung bei Gott sie nun wol erkannt haben werden, aufblicken und auch vor diesem dann um Titel, Orden und Beförderungen schmachten, aber der feurige Osiris mit dem Ochsenkopf ihnen nachläuft, sie zu umarmen als seine ägyptischen Brüder. Oder wenn ihre Logenschwester Isis, die holde Mutter Natur, ihre gnadenreiche Allerseligste, ihnen zuruft: Hebt meinen bekannten Sais-Schleier! – und sie sehen dann ihre geliebte Mutter aus hundert Brüsten deren Wohlthaten spenden, feuerspeiende Berge, Erdbeben und daherbrausende, aus den Schienen gegangene Locomotiven! Alle ihre Mittler und Erlöser werden ihnen zuwinken mit den Wohlthaten, die diese spenden können – Buddha mit der Kunst, hundert Jahre auf einem Beine zu stehen, Sesostris mit Pyramiden, die erst auf ihren Leibern das sichere Fundament bekommen sollen! Selbst ihr letzter Prophet, Nathan der Weise, wird ihnen anbieten[219] von den Waaren, die er gerade aus Damascus mitgebracht hat, vorzugsweise jenen Mantel mit dem rothen Templerkreuze, einen Mantel von Blei, so schwer, daß sie damit alle Greuel und Verbrechen zu tragen glauben sollen, die sie hienieden mit ihrem verschlissenen Humanitätsgarderobenstück der Liebe bemäntelt, beduldungelt und betoleranzelt haben« …

Genug, genug! rief Bonaventura; ich fürchte mich vor meiner Nachtruhe! … Er deutete auf einen Wächter, der auch hier die zehnte Stunde abrief, und entfernte sich mit einem einfachen, alle Hoffnungen des Pfarrers auf Zustimmung und Beifall ironisch abschneidenden: Gute Nacht! …

Jeden Morgen las Bonaventura die Messe. Bald in Sanct-Libori, bald in Heiligenkreuz, bald auf dem Schlosse. Dann besuchte er auch wol die Schule, war viel in Witoborn, wo ihm die schuldige Rücksicht gebot, diese oder jene hervorragende Persönlichkeit zu besuchen. Beichtabnahmen hielt er nicht, so sehr auch mancher danach Verlangen trug.

Als er am folgenden Morgen nach Heiligenkreuz gegangen war, wo vor den Stiftsdamen von ihm die Messe gelesen werden sollte, fand er, als die heilige Handlung vorüber und er schon im Begriff stand, sich in der Sakristei zu entkleiden, Thiebold, der ihm die gestrigen Erlebnisse schildern wollte, soweit sie die ihm in der Beichte von Bonaventura vorgeschriebene Pflicht betrafen …

Thiebold hatte vorausgesetzt, daß er dem Domherrn diese Mittheilungen in der entsprechenden seelsorglichen[220] Form zu machen hätte, und suchte ihn deshalb im Meßornate auf. Schon sehr zeitig mußte er mit seinem Einspänner aus Witoborn ausgefahren sein.

Der Cantor fungirte für den alten Tübbicke, dem diese Frühwege schon auch sonst zu beschwerlich wurden …

Auf eine Weisung, die der Cantor erhielt, beide allein zu lassen, begann Thiebold die Mittheilung all des Räthselhaften, das ihm Armgart gestern in der Kapelle angedeutet hatte, und wollte hören, ob nun doch noch eine Verpflichtung bestünde, seinem Freunde Benno die »stattgefundene Täuschung« mitzutheilen …

Bonaventura erwiderte nach ernstem Sinnen über die Worte Armgart's:

Ich glaube, lieber Herr de Jonge, daß Sie jetzt besser thun, diesen Gegenstand fallen zu lassen. Ziehen Sie vor, Ihren Fehler durch desto innigere Beweise der Freundschaft für unsern guten Benno wieder gut zu machen! Armgart will nicht, daß Benno etwas von ihren frühern Empfindungen erfährt? Dann um so besser, wenn ihn die gegenwärtigen des jungen Mädchens nicht enttäuschen. Zu jung und unklar noch in sich selbst scheint sie mir zu sein, als daß ihr Herz schon in dem Grade für irgendjemand sollte entschieden haben, um etwas auf die Beweise ihrer Gunst zu bauen. Ein Mädchenherz in diesem Alter ist eine unbekannte Insel, die der Seefahrer mit Zagen betritt, ungewiß, was sie birgt; bald hoffend, bald getäuscht geht er vorwärts, bei jedem Schritt entdeckt er Unerwartetes und findet sich erst nach langer Zeit in ihm zurecht. Zunächst wird das Wiedersehen ihrer Aeltern sie ganz in Beschlag[221] nehmen. Ich höre, daß beide sich bald in dieser Gegend einstellen werden …

Der Oberst wenigstens! fiel Thiebold ein. Ich weiß es für bestimmt von Hedemann … Er kann in acht bis vierzehn Tagen hier sein. Schon liegt Hedemann's Gesuch an die städtische Behörde von Witoborn vor, vorläufig die Wasserkraft der Witobach auf Handpapier gehen zu lassen … Die Aufregung, die in der Stadt dieser Antrag hervorgebracht hat, ist ridicül … Alles intriguirt dagegen … In der heiligen Stadt Witoborn Papier fabriziren! Eine Erfindung des Satans fördern! … Entschuldigen Sie, Herr Domherr, ich erzähle nur, was ich von Benno und von Offizieren »Bei Tangermanns« gehört habe …

Bonaventura begriff, was sich von einem so dumpfen Geiste, wie er ihn hier überall vorfand, voraussetzen ließ, und fügte hinzu:

Aber auch Frau von Hülleshoven hat die Absicht, ihren Gatten nicht allein sich in die Lage versetzen zu sehen, Armgart so nahe zu kommen. An dem Tage, wo der Oberst in Witoborn eintrifft, ist sie hier im Stifte, wo sie eine Verwandte der Aebtissin der Hospitaliterinnen in Wien, ein Fräulein von Tüngel-Appelhülsen, aufzunehmen versprochen hat … Verrathen Sie jedoch nichts davon! Sie kennen Armgart's Phantasie –

Ihr Gelübde! Die Aeltern sollen sich vereinigen oder niemand gewinnt sie …

Bonaventura schüttelte den Kopf … Noch immer die Grille, die er schon aus den in Kocher am Fall gelesenen Briefen kannte …[222]

Thiebold versprach auf viel mehr, als »nur auf Ehre« sein unverbrüchlichstes Schweigen über die von zwei Seiten auf Armgart anrückende Prüfung und bot dann dem Domherrn seinen Einspänner an. Er wollte noch im Stifte bleiben und bei den Damen Besuche machen. Er erklärte, dann zu Fuß nach Westerhof zu gehen, wo er wie fast täglich zu Mittag speiste. Tante Benigna hatte ihn von dem Frühboten, der jeden Morgen in die Stadt geschickt wurde, schon wieder einladen lassen, ihn, nicht Benno. »Wir sind es Terschka schuldig«, sagte sie zum Onkel Levinus, der gegen die steten Zurücksetzungen Benno's bescheidene Bedenken erhob, »daß wir auf den Bevollmächtigten Nück's keinen zu großen Werth legen.«

Bonaventura mußte den Vorstellungen Thiebold's nachgeben, schon aus Rücksicht auf den Gaul, der hier bis Mittag hätte im Freien zubringen müssen; Thiebold war im Stifte so beliebt, daß er bei einem Morgenbesuch leicht in die Lage kam, gleich zu Mittag, nicht selten zum Nachtessen zu bleiben … Es war eben Thiebold's Talent, alle Menschen zu gewinnen … Er wußte nicht nur einige Dutzend Pfänderspiele, sondern ließ auch Garn und Seide auf sich abwickeln … Dabei seine bequeme Prätensionslosigkeit in Bildungssachen! Er machte gar kein Hehl daraus, daß er bei weitem weniger wußte, als Alexander von Humboldt. Wenn eine von den Damen dichtete (und es waren nur fünf oder sechs darunter, die, nicht etwa eine Ausnahme machten, sondern ihr Dichten nur nicht eingestanden), so bewunderte er jeden Vers, jedes Bild, hatte nie dergleichen gehört oder gelesen und war ein Zuhörer so voll[223] Aufmerksamkeit, daß er schon eine ganze Sammlung von Liedern im Portefeuille beisammen hatte, die sein Freund Joseph Moppes componiren und Aloys Effingh mit Illustrationen versehen sollte.

Flüchtig noch erfuhr Bonaventura von Thiebold die wiedergekehrte Visionsgabe Paula's und von dem witoborner Kutscher die Genesung der kleinen Tochter des Herrn Jean Tübbicke durch einen Rosenkranz, den sie gestern gesegnet hatte … Im Pfarrhause fand Bonaventura die Bestätigung. Der alte Tübbicke empfing ihn mit freudestrahlendem Antlitz. Die kleine Fanchon lag nach Aller Meinung im Sterben, als der Großvater mit dem Amulet kam. Man legte es dem athemlosen, fieberglühenden Kinde um den Hals; es stellte sich Schweiß ein, das Fieber ließ nach und schon berichtete der maître-tailleur Jean Tübbicke, der im Pfarrhaus selbst zugegen war, von einer vortrefflichen und stärkenden Nacht. Herr Jean Tübbicke kam, um beim Pfarrer aufs entschiedenste gegen den Verdacht zu opponiren, daß es Tante Schmeling wäre, die an seiner Thürschwelle Kinder aussetzte. Es kam zu einem heftigen Auftritt. Müllenhoff entließ ihn mit den Worten: »Affenschänderisches Volk! Grützköpfige Dummheit, wenn du nun gar noch ausländische Bettelpfennige für holländische Dukaten nimmst! Lallst deine edle deutsche Muttersprache halb schon nur, wie ein blökendes Kalb, und willst noch auf Zeisigart französisch zwitschern und niedlich thun mit Elefantenbeinen? Ei, daß dir doch über Nacht die Engel vom Himmel dein maître-tailleur-Schild vom Fenster nähmen! Siehst du denn nicht, was ein altchristliches[224] Gebet für Gnade im Gefolge hat? Gehst du nicht endlich in dich, Gütertheiler, so hängt in dem Schild noch das Bret zum Sarge deiner Fanchon über deinem Hause!«

Schlimm, schlimm, schlimm! brummte nur immer im Gehen vor sich hin der alte Tübbicke, enträthselte dem Domherrn den Zusammenhang dieses Zanks und kam auf die Gräfin und seinen zunächst Gott, dann ihr darzubringenden Dank zurück …

Bonaventura litt unter allen diesen Mittheilungen … Auch Thiebold's Erzählung von der Vision der Schlafenden bewies, daß Paula's ekstatische Zustände doch wieder zurückkehrten. Noch hatte er keinem derselben seit ihrem Wiedersehen beigewohnt … Mit bangem Herzen eilte er nach Westerhof. Einen vollen, vollen Tag hatte er ohne Paula sein können! … Der scharfe Wind erfrischte seine Wange. Die kahlen Pappeln, Buchen und Erlen am Wege ächzten … Er drückte den Hut auf die Stirn. Seinen warmgefütterten Winterrock fest an sich ziehend, schritt er sehnsuchtbeflügelt dahin … Da lagen – nach einer kleinen Stunde – die vier Thürme des Schlosses! Weißschimmernd der graue Schiefer an den Stellen, wo der Wind den Schnee abgetrieben! Hinter den Fenstern dort oben das süße Mysterium, wo Frauen von zarter Sitte und holder Anmuth wohnen! Gar nicht gedenken konnte er, wie ihm Paula's Dasein doch nur so war, wie dem Baume sein Blatt kommt und geht und wiederkehrt und wieder schwindet, immer ein anderes ist und doch dasselbe, tausendfach immer nur Eines, Wirklichkeit und doch nur ein[225] Begriff. Wäre das edle Gemälde der Gräfin nicht wie auf Goldgrund gemalt gewesen – er wäre vielleicht verloren gewesen. Irgendeine einzelne Schalkhaftigkeit, wie sie Armgart besaß, irgendeine lächelnde Caprice, wie Lucinde, und der Erscheinung Paula's wäre jene Leibhaftigkeit verliehen gewesen, die herausfordert. Ihm aber war sie so wie Andern; auffallend mußte erscheinen, daß die auch jetzt doch noch so reiche Erbin nicht von Freiern umgeben wurde, Paula konnte sich nur entweder selbst verschenken oder sie mußte verschenkt werden; ein Werben um sie, ein sie Liebenmüssen oder Liebenwollen schien bei einer so geistig vornehmen Natur kaum aufzukommen.

Vor dem Schlosse fand Bonaventura, wie um diese Zeit fast immer, eine Anzahl Wagen. Zu den vielen Rücksichten der Etikette gesellte sich die hier stets genährte Neugier und dann war gestern beim Leichenbegängniß so vieles vorgefallen, worüber man seine Gedanken austauschen mußte; ja auch die neue Kunde war schon überall hinausgegangen, die Gräfin hätte das Leichenbegängniß selbst gesehen und ein von ihrem Leib genommener Rosenkranz hätte ein Kind in Witoborn vom Tode gerettet. Auf den Treppenstufen sah Bonaventura wieder die Zahl der Gichtbrüchigen und Blinden und Hülfsbedürftigen wie sonst …

Armgart kam ihm auf der Treppe entgegen und theilte den Harrenden Amulete aus, die Paula berührt hatte. Diejenigen unter seinen Arzneien, deren Heilkraft verbürgt ist, kann der Apotheker nicht mit größerer Zuversicht verabfolgen, als hier Armgart, nicht einmal mit Verlegenheit[226] vor Bonaventura niederblickend, eine Anzahl kleiner Kissen austheilte, deren sie und die Stiftsdamen tagein tagaus eine Anzahl verfertigten. Diese Kissen waren fingerlang, fingerdick, von weißer Seide, innen mit Baumwolle gefüttert, von außen bildeten lose und weite Stiche ein rothseidenes Kreuz … Paula berührte sie nur und sie sollten heilen. Armgart theilte diese Kissen aus mit einer Zuversicht, als müßte sie jeden Zweifel daran für teuflisch erklären … O gut, rief sie dazwischen dem Domherrn entgegen, daß Sie kommen! Paula schlummert! Reden Sie mit ihr! Alles steht erwartungsvoll! Sie spricht wie gestern! Aber da sie niemand zu fragen wagt, antwortet sie nicht zusammenhängend! Der Onkel verbietet es andern! Sie, Sie, Domherr, Sie könnten endlich ein Machtwort sprechen! …

Bonaventura stand voll Zagen …

Als Armgart die Leidenden entlassen hatte, ergriff sie Bonaventuras Hände, von denen die eine, schon während des Beobachtens der Scene des Austheilens der Kissen, ihres Handschuhs sich entledigt hatte. Halten Sie doch die Leiter, auf der Paula gen Himmel steigt! sagte sie, beide Hände ergreifend. Warum thun Sie's nur nicht! Alles sehnt sich danach und niemand mehr als Paula selbst! Oder gab es keine heilige Theresia, sah Franz von Assisi nicht den Himmel offen? Nicht die heilige Brigitta? Erleuchtete Gott nicht Katharina von Genua und nun erst gar die von Siena? Hören Sie, was Paula redet und fragen Sie dann selbst!

Was soll ich fragen! sprach Bonaventura wie gefangen … Alles wurde still umher … Herrschaften und[227] Diener waren in den innern Gemächern und standen ohne Zweifel um Paula's Lager … Armgart hielt fort und fort seine Hände …

Eine Handbewegung nur von Ihnen! Diese weiße Hand auf ihr Herz gelegt! Eine sanfte Frage nur von Ihrem Munde! O kommen Sie!

Armgart! – lehnte Bonaventura, voll Mismuth ohnehin gegen Armgart, ab; Armgart küßte ihm jetzt selbst seine Hand …

Fragen Sie nach meinem Vater! Nach meiner Mutter! Ob es wahr ist, daß sie jede Stunde hier eintreffen können! Fragen Sie, ob die Zukunft uns alle, alle – unglücklich macht!

Bonaventura blickte finster. Er hörte zwar im Geist die Worte des Herrn, der durch Prophetenmund, Joel 2,28. 29 spricht: »Es wird geschehen in den letzten Tagen, spricht der Herr, da will ich von meinem Geist über alles Fleisch ausgießen. Und euere Söhne und Töchter werden weissagen, euere Jünglinge werden Gesichte schauen und euern Aeltesten werden Traumgesichte erscheinen. Ja auch über meine Knechte und Mägde will ich in jenen Tagen von meinem Geiste ausgießen und sie werden weissagen« … Dennoch wollte er mit der Hand über Armgart's Stirn streichen und ihr sagen: »Mädchen, laß doch nur treu und wahrhaft dein eignes Herz reden und du hast deine Zukunft gewiß!«

Nun aber ergriff Armgart blitzesschnell einen Ring an des Zögernden Hand … Es war der Trauring seiner Mutter, jener, den der Onkel Dechant in dem Leichenhause des Sanct-Bernhard gefunden hatte, jener Ring, der als Erkennungsmittel[228] vor dem entstellten Körper seines Vaters gelegen, derselbe Ring, von dem Bonaventura ähnlich wie Lucinde von Bickert's Schrift, gesagt hatte: In ihm liegt die ganze Lebensfrage unserer Kirche! Und noch ehe er wußte, was geschehen, hatte Armgart den Ring schon ihm abgezogen und war mit ihrem Raube davongeeilt …

Sie eilte in den Vorsaal, dessen Thür sie offen ließ …

Bonaventura, bestürzt über ein Vorhaben, das er nicht sogleich begriff, folgte … Die wenigen Anwesenden, die aufgeregt in dem grünen Nebenzimmer standen, grüßend, wandte er sich Armgart zu, die mit ihrer Eroberung noch eine Weile sinnend vor dem Onkel Levinus stand, als wollte sie von diesem erst die Erlaubniß haben, Paula – mit dem Ringe zu magnetisiren … Dann aber, ohne seinen fragenden und zürnenden Blick zu erwidern, ging sie rasch durch die offen stehenden Thüren dem von der übrigen Zahl der Besucher schon umstandenen Schlummerlager Paula's zu …

Es waren so viel Frauen zugegen, der Verkehr durch alle geöffneten Zimmer hindurch war so gehindert, daß Bonaventura's Eintreten die Aufmerksamkeit nicht fand, wie sonst … Aller Augen waren auf Paula gerichtet … Auch einige geistliche Herren aus Witoborn waren zugegen und drangen in Bonaventura, den andern zu folgen … Mit einer Empfindung, als wären die Engel vom Himmel gegenwärtig, drängte sich alles dem Vorzimmer zu vor Paula's Schlafgemach …

Hier lag sie auf dem Ruhesopha … Die Vorhänge[229] waren zurückgezogen; einige Stiftsdamen standen um sie her, Armgart knieete vor ihr und steckte eben leise, nur von Bonaventura beobachtet, seinen blinkenden Raub an den Ringfinger der linken Hand Paula's … Teppiche milderten jedes Geräusch der Umstehenden …

Paula schien in der That Reden vor sich hin zu murmeln …

O das ist schön! sagte sie endlich vernehmbarer und ihr fieberhaft angehauchtes Antlitz begann zu lächeln. Sie schien die Annäherung eines magnetischen Rapportes zu fühlen, ja schien sie wie eine geistige Nahrung einzusaugen …

Wie wird es so licht und so hell jetzt! … sagte sie plötzlich lauter und wie begeistert. Von der Sonne! … Alles! Alles! … Auch ihr Leib ist Licht! … Die Lichttropfen gleiten ihr aus den Fingern!

Wem? fragten einige. Auch Bonaventura mit wehmuthumschleierten Augen …

Onkel Levinus erläuterte mit gedämpfter Stimme und trotz der Gewöhnung an diese Erlebnisse doch erzitternd:

Das wird der Hochschlaf! Immer, wenn sie den höhern Grad des Hellsehens erreicht, spricht sie von sich selbst als von einer dritten Person! Es ist dann, als schritte ihr Geist aus dem Körper heraus, sodaß sie sich selbst sieht. Das Tröpfeln aus den Fingerspitzen ist der Anfang …

Tante Benigna bemerkte jetzt den Ring an Paula's Finger, wagte aber keine Frage oder Einsprache zu thun und bangte nur, wie alle …[230]

Paula schwieg eine Weile, als wartete sie das Entgleiten des elektrischen Fluidums aus ihren Fingerspitzen oder die weitere Annäherung Bonaventura's ab …

Auch Terschka trat inzwischen zu den ängstlich Harrenden … er grüßte Bonaventura und die, die er heute noch nicht gesehen hatte …

Wie ist das so schön! fuhr Paula in kurzen Sätzen fort … Ach, die herrlichen Blumen! … Rosen um dunkle Cypressen! … Die gehen ja hoch hinauf bis ins grüne Laub! … An den Blättern zittern Thautropfen, die die Sonne bescheint! … Die sanfte Datura! … Die stolze Magnolika! …

Der Onkel schaltete bedeutsam ein:

Die absolute Wesenheit der Dinge! Erst kommt sie durch Blumen, dann durch bunte Ringe und Kreise! Es ist zuletzt die Welt des reinen Seins ohne Zeit und ohne Raum …

Paula fuhr jedoch im Gegentheil fort:

Ein herrliches Schloß! … Mit einer Fahne auf dem Thurm! … Wald und Berg! … Immer hört sie ein Glöcklein, das nicht aufhören will! …

Onkel Levinus sah sich um und deutete mit stummem Blick nach oben. Er wollte sagen: Sie hört die Harmonie der Sphären …

Hirten kommen aus den Thälern, fuhr Paula fort, und steigen zum grünen Wald hinauf! … Wie in der Kirche ist's unter den Bäumen! … Die Bäume werfen so lange Schatten! So lange! … Vor großen Kirchenfenstern schimmern so die grünseidenen Vorhänge! …

Onkel Levinus lächelte die Geistlichen und die Damen[231] an, als wollte er sagen: Die langen grünen Schatten sind die Urbilder der Dinge! Die ewigen Grundformen! … Und Tante Benigna bedauerte im stillen nur die Abwesenheit Püttmeyer's … Auch Thiebold's, der zum Essen kommen sollte und durch die anwesenden Stiftsdamen abgesagt worden war, weil er heute wieder, wie so oft, dort zurückbehalten wurde zum Vierhändigspielen mit mindestens drei bis vier der Stiftsfräulein die Reihe herum …

Und Armgart, die noch immer knieete, wandte ihren Kopf mit einem Bitteblick auf Bonaventura und langte mit dem Arme, als sollte er näher treten, Paula magnetisiren und sie ausdrücklich um ihre Anschauungen befragen …

Bonaventura stand in scheuer, schmerzlicher Befangenheit …

Paula aber that dem Onkel Levinus heute nicht den Gefallen, bei dem reinen Sein der Dinge zu bleiben, sondern fuhr fort:

Bienenstöcke sieht sie zwischen den mächtigen Bäumen! … Das sind Kastanienbäume! … Sie kennt sie! … Die blühen schon! Die rothen Pyramiden! Und die Mandelbäume, die blühten gar schon ab! … Die Bienen umschwärmen sie! … Und immer, immer läutet die Glocke … Nun sucht sie die Glocke … sie hängt ja an einem Ast der Bäume, dicht vor der Hütte von Moos! …

Onkel Levinus schien betroffen, daß sich in der Sphäre des reinen Siderismus heute soviel tellurische Ueberbleibsel finden sollten …[232]

Es ist ja fast – wie in – Italien! … bemerkte inzwischen Terschka …

Italien! … Dies Wort genügte den Damen im Grunde noch mehr, als das reine Sein … Was führte die Seherin nach Italien? … Paula konnte mit irdischen Augen bis nach Italien sehen? …

Die Messe liest er nicht! … – sprach Paula nach einer Weile, während alles lauschte und Onkel Levinus noch immer nicht an eine Versetzung der Anschauungen Paula's nach Italien, sondern nur ins Geisterreich selbst glaubte … Mit ganz lauter und bestimmter Anrede fragte er die Schlummernde jetzt: Wer? …

Der Eremit! antwortete Paula …

Sieht sie denn einen Eremiten? fuhr der Onkel fort, mit scharfer Betonung, etwa in der Art, wie ein Arzt mit einem Typhuskranken spricht …

Mit weißem Bart! antwortete Paula kindlichsten Gehorsams … Ein heiliger Gesang wallt herauf … Sie tragen Fahnen –

Es ist eine Procession! wagte sogar ein Kanonikus aus Witoborn jetzt laut zu äußern. Vielleicht war auch er geneigt, eher an die Sphäre des reinen Seins, als an Italien zu glauben und in der Procession einen Beweis für die Rechtgläubigkeit des Himmels zu finden …

Sie sieht keine Bilder, keine Fahnen … antwortete Paula … Sie kommen in der Hand mit Büchern … Größer sind sie als die Breviere … viel größer …

Triumphirend blickte der Onkel um sich. Die Geistlichen und die Frauen erhielten wieder einen Anhalt für das Jenseits; denn ohne Zweifel waren diese großen[233] Bücher, wenn nicht die Gesetzestafeln des Moses selbst, doch Schriften der Kirchenväter oder Missalien, die Paula in den Händen der rechtgläubigen, geisterhaften Gestalten sah …

Sie lesen in den Büchern! … fuhr die Schlafende fort … Der Mann mit weißem Barte erklärt sie … »Gott ist ein Geist«, spricht er, »und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten!« Die sanfte Stimme! …

Bonaventura stand athemlos. Sein Blick fiel auf Terschka, der ihm voll Erstaunen zuflüsterte:

Ich glaube die Gegend zu kennen …

All die Blumen und die Käfer und die Bienen summen! … Wie grün ist das! … Smaragdgrün! Wie wenn in unserm Buchenpark die ersten Frühlingslauben sich wölben … Aber das sind nun Eichen! … Tief unten ist alles so milde, so weich und sanft …

Wer ist der Redner? fragte Onkel Levinus scharf …

Die Frauen erwarteten keine andere Antwort, als: Gott der Herr selbst!

Sie kennt ihn nicht! … sagte Paula …

Das Sprechen in der dritten Person hatte etwas Gespenstisches, das niemanden mehr bewegte als Bonaventura. Armgart's fortgesetztes Bitten lehnte er mit der Hand ab. Doch kaum sah Armgart dies Vorstrecken seiner Hand, so erhob sich das phantastische Mädchen, ergriff sie und wollte ihn dem Lager näher ziehen …

Bonaventura machte nun in der That ein Kreuz über die ganze Länge der in schwarzer Seide gekleideten, in rührender[234] Halbbewußtlosigkeit daliegenden, fieberhaft angehauchten Gestalt der Gräfin und trat wieder zurück …

»Herr, wie so lange!« sprach jetzt Paula mit erhöhter Kraft. »Auf, schlage ihn, denn das ist der Tag, an welchem der Herr hat übergeben deinen Feind in seine Hand!« Die Hand auf das Buch hält er! … Hält es hoch empor! … »Siehe, der Winter ist vergangen, der Regen ist weg und dahin!« »Der Odem Gottes weht über die Lande!« … Sie kann jetzt nicht hören … Die Frauen weinen … Die Männer reichen sich die Hände … Jetzt – jetzt – Ein Kelch – geht – um …

Ein einziger Ton des Schreckens unterbrach Paula's Vision … Ein Kelch geht um? Das mußte eine Versammlung von Ketzern sein! … Das war die gemeinsame Empfindung …

Sie trinken alle daraus! fuhr Paula mit Bestimmtheit fort …

Einige der Frauen, die sich gesetzt hatten, erhoben sich … Andere, die standen, mußten sich nach Sesseln umsehen. Die Geistlichen blickten fragend bald auf Bonaventura, bald auf den Onkel Levinus, der gewissermaßen für alle diese Dinge die Verantwortlichkeit zu übernehmen hatte …

Es ist, sagte Paula – nicht die Messe –

In Bonaventura's Innerm war es, als fühlte er die Erde unter sich wanken … Paula sprach wie seine innersten Gedanken aus …

Das Buch ist die Bibel! sagte Paula …

Der Schrecken vermehrte sich …[235]

Der schöne Pokal! … Von rothem Krystall! … Wie Blut? … Ja er sagt: »Noch wird es in Strömen fließen, bis deine Burg, o Herr, Zion, deine Zinne, erobert ist!« … Er ergreift den Kelch … Die Hand ist so weiß … wie der Schnee der Alpen … dort oben …

Längst zitterte schon in Bonaventura die Erinnerung an den geheimnißvollen Brief, den er empfangen, die Einladung, einst unter den Eichen von Castellungo zu erscheinen, dort ein neues Martyrium anzutreten, das der verbesserten Kirche … Und wie dann Paula selbst ihre eigene schöne weiße Hand emporhielt und sein Ring, der Trauring seiner Mutter, zu aller Erstaunen an ihrem Ringfinger blitzte, konnte er sein Herz nicht länger bewältigen … Aller Anwesenden uneingedenk, entsetzt über die Vergleichung der weißen Hand mit dem Alpenschnee und wieder doch von der frohen Hoffnung neu beseelt, daß sein Vater nicht in die Abgründe der Lavinen stürzte, nicht in der schaudervollen Morgue des Sanct-Bernhard vermoderte, nicht auf dem Friedhof zu Sanct-Remy auf dem Wege nach Aosta begraben lag, wiederholte auch er die Frage:

Wer ist der Redner?

Da schwieg anfangs Paula … Dann aber, zum Zeichen, daß sie Bonaventura's Stimme wohl erkannt hatte, sagte sie, und sagte das wie vor Ueberraschung wonnig belebt:

Du fragst sie?

Alle – des Du's staunend – sahen auf Bonaventura …

Schon aber sprach Paula weiter:[236]

Es ist kein Greis! Weiß ist sein Haar, schneeweiß, aber seine Haltung noch wacker … Wer es ist? … Er ähnelt – dir! …

Bonaventura zitterte … Armgart ergriff seinen Arm krampfhaft … doch überselig …

Paula fuhr fort:

Seine Hütte gefällt ihr … Drüben aber liegt das Schloß … Die Fahne hat ihre Farben … ihr Wappen …

Wessen? fragte Terschka mit nicht mehr zurückzuhaltender Spannung …

Paula schwieg jetzt … Der Ton dieser Stimme störte sie …

Onkel Levinus deutete auf die Schlummernde selbst und sagte mit dieser stummen Geberde, die Schloßfahne trüge die Farben der Dorste-Camphausen selbst …

Dann ist es Schloß Castellungo! sagte Terschka mit höchstem Erstaunen. Der Eremit ist ein Deutscher, namens Federigo! Ich kenne ihn! Eine religiöse Sekte, die von Comtesse Erdmuthe dort beschützt wird, hat sich jetzt, wie so oft, um ihn versammelt! Ich wäre begierig, ob in diesem Augenblick, wo allerdings dort in dem schönen piemontesischen Thale der Frühling schon in vollster Blüte steht, in der That eine der von ihr geschützten Gottesverehrungen stattfände! Erfahren kann ich das und werde mich darum bemühen …

Terschka näherte sich dem Ruhebett …

Paula aber betete jetzt … Sie sprach Worte, die minder auffallend klangen … Maria und die Heiligen fehlten nicht … Endlich schwieg sie ganz … Einen Reiz, sie noch aus ihrem beginnenden, nun wirklich naturgemäßen[237] Schlummer wach zu rufen, konnte nur eine Grausamkeit unerlaubter Neugier sein. Die Tante winkte, daß Paula der Ruhe bedürfte …

Die Frauen gingen zuerst … Die Geistlichen folgten … Onkel Levinus begann von Gräfin Erdmuthe und ihren Reformen …

Terschka entzog sich zwar dem für seine Stellung bedenklichen Gespräch, blieb aber mit Armgart zurück, die ihn festhielt und sich von Castellungo erzählen ließ, über das eines Abends Benno und Thiebold so harmlos gesprochen hatten, dabei sogar Porzia's gedenkend, als einer Schülerin des Bruders Federigo und vielleicht einer künftigen Gattin Hedemann's. Die Möglichkeit, daß Paula nur eine Reproduction der Phantasie gegeben hatte, lag nahe. Nur bewunderte Terschka, wie richtig alles zutraf, und Armgart ihrerseits staunte und grübelte, warum gerade jetzt Paula auf diese Anschauung kam. Sinnend und den Trauring betrachtend, den sie wieder zur Zurückgabe an den Domherrn an sich genommen hatte, ließ sie sich Castellungo so genau schildern, daß Terschka am Fenster hinter den Gardinen bei ihr stehen bleiben und flüstern mußte … Sie kehrten lange nicht zu den Uebrigen zurück …

Und doch war inzwischen neuer Besuch gekommen … Wenn Bonaventura annehmen wollte, daß der Trauring seiner Mutter es war, der diese Kette von Anschauungen veranlaßt hatte, wenn er im Bruder Federigo sich seinen Vater denken, in der an ihn gerichteten lateinischen Einladung eine Andeutung des väterlichen Unwillens finden wollte über die Wahl seines Berufes und einen[238] Drang der Sehnsucht des väterlichen Herzens auf ein Wiedersehen, dem dann eine Erörterung über die Ehe als unauflösliches Sakrament der Kirche folgen mußte – so fehlte, um ihn in die höchste Verwirrung zu versetzen, nur das noch, was ihm jetzt geschah …

Der Regierungspräsident von Wittekind stand im grünen Zimmer und war eben erst angekommen …

Zuckte der Schmerz der gewissen Ueberzeugung in Bonaventura: Dein Vater lebt noch und entzog sich nur der Welt, weil unsere Kirche nicht scheidet – so stand er dem Manne gegenüber, der die Hand einer Frau besaß, die seine Mutter war und die vielleicht in Bigamie lebte … Noch mehr … Der Präsident sprach zum Onkel Levinus, zur Tante Benigna und zu Bonaventura zugleich gewandt:

Ich fürchtete ihre Aufregung und ließ drüben eines der geheizten Fremdenzimmer aufschließen … Gehen Sie zu ihr und begrüßen Sie sie lieber erst unter vier Augen!

Wen? konnte Bonaventura nicht mehr fragen; denn schon bestätigte der Präsident dem Ahnenden:

Ihre Mutter! Sie ist gestern Abend angekommen! Wir suchten Sie eben im Pfarrhause auf und hörten, daß Sie hier sind – Die Sehnsucht der vortrefflichen Frau kannte keine Grenzen mehr! Wir fuhren hieher! Sie verlangt nach Ihnen! Machen Sie sie glücklich!

Bonaventura verließ das Zimmer, geführt von Tante Benigna und dem Onkel.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 5, Leipzig 1859, S. 184-239.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Der Zauberer von Rom
Der Zauberer Von ROM (4); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (5); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (1); Roman in Neun Buchern
Der Zauberer Von ROM (9)
Der Zauberer Von ROM (3); Roman in Neun Buchern

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Horribilicribrifax

Horribilicribrifax

Das 1663 erschienene Scherzspiel schildert verwickelte Liebeshändel und Verwechselungen voller Prahlerei und Feigheit um den Helden Don Horribilicribrifax von Donnerkeil auf Wüsthausen. Schließlich finden sich die Paare doch und Diener Florian freut sich: »Hochzeiten über Hochzeiten! Was werde ich Marcepan bekommen!«

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon