2.

[12] Das waren denn jene muthigen Menschen, die einige Jahre hindurch, schon vor Paula's Vermählung, mit einer Stadt wie Witoborn, mit einer Landschaft wie die um Kloster Himmelpfort und weit hinaus in die Ebene hin, einen geistigen Kampf zu beginnen gewagt hatten, in dem sie auf alle Fälle unterliegen mußten …

Sie waren nur Sieger über sich selbst geworden oder trugen, wie Hedemann sich ausdrückte, das Sterben des Herrn am eigenen Leibe, auf daß an ihnen auch das Leben des Herrn offenbar würde …

Der Oberst hatte sein kleines Vermögen, auch fremdes, auf die Anlage einer Papierfabrik verwandt … Gerade deshalb, weil in jener Gegend diese Industrie brach lag, hatte er geglaubt, die Wasserkraft der Witobach und die schon vorhandenen Mühlenwerke für eine solche Unternehmung nutzen zu können … Die Kapitalien wurden vom Onkel Dechanten, sogar zuletzt vom Onkel Levinus dargeboten, letztere allerdings nur von Paula entlehnt – vor dem mächtigen Blick und der bündigen Rede Monika's verstummte auf Schloß Westerhof jeder[13] Widerspruch … Lenkte doch auch sie die so wünschenswerth gewordene friedliche Ausgleichung mit der jüngeren Linie der Camphausen in einer so entschiedenen Weise, daß überall die nächsten äußerlichen Sorgen schwanden … Endlich hatte auch der Oberst magnetische Gewalt über Paula … Unentbehrlich war er ihr geworden in jenen Zeiten, wo sich in Paula's Herzen die schmerzlichsten Kämpfe vollzogen, Kämpfe, die ihren Körper zu zerstören drohten – ihr Wachschlummer, ihre Visionen, die sonst lindernd auf sie gewirkt hatten, traten nach und nach zurück …

Der Oberst mußte seiner Pensionsansprüche wegen dann auf kurze Zeit eine Reise nach England machen … Um Paula's Leiden kehrte er zeitiger heim, als er im Interesse Armgart's wünschen konnte … Diese hatte er mitgenommen, da sie trotz der Aussöhnung ihrer Aeltern, trotz der Befreiung von Terschka's Werbungen ein tief in sich verschüchtertes Leben darbot und in ihrem Stift Heiligenkreuz um so weniger sich heimisch fühlte, als Armgart, wie Lucinde, zu jenen Naturen gehörte, die selten die Anerkennung der Frauen gewinnen … Was sie that, wurde wenigstens in ihrer Heimat abenteuerlich gefunden; was sich an ihren Namen knüpfte, wurde ihr zur Ungunst gedeutet … Sie hatte, sagte man, Benno von Asselyn, Thiebold de Jonge, vielleicht selbst Terschka »auf dem Gewissen« … Die Scheu der katholischen Rechtgläubigkeit vor allem, was den Nimbus ihrer Kirche gefährden konnte, verhinderte, daß man um Witoborn offen von Terschka, als von einem »Jesuiten der kurzen Robe« sprach, von einem Proselyten dann,[14] der Glauben und Gelübde in London gewechselt … Die Aufregung der Gegend um die Vorgänge auf Westerhof, um den Brand, um die Urkunde, den vielleicht erneuerten Proceß, das mögliche Auftreten und Erstarken lutherischer Elemente in dortiger Gegend wurde so groß, daß Armgart den Vater auch ganz gern begleitete … Er ließ sie zurück bei Gräfin Erdmuthe, die bei Lady Elliot theils in der Stadt, theils auf dem Lande wohnte …

Armgart wurde allmählich den Töchtern der Lady unentbehrlich; sie hatte in der Gesellschaft Erfolge, die die Aeltern nicht stören mochten … Selbst die Nähe Terschka's beunruhigte sie nicht … Ihr Vater hatte ihn in London wiedergesehen, hatte seinen Muth, mit den Jesuiten zu brechen, bewundert und vermittelte eine Verständigung des Flüchtlings mit dem Grafen Hugo … Letztere gelang äußerlich, zumal da der Graf durch Terschka die Aufforderung erhielt, der beim Brand von Westerhof gefundenen Urkunde entschieden zu mistrauen und unerschrocken wieder aufs neue den Proceß zu beginnen … Als man Terschka's Einfluß auf diese von Wien verlautenden Drohungen erfuhr, wollten ihn zwar auf Schloß Westerhof Tante Benigna und Onkel Levinus als einen unverbesserlichen Sohn der Hölle darstellen, Monika aber fand sein Benehmen in der Ordnung und erklärte, daß sie an des Grafen und Terschka's Stelle ebenso handeln, vor allem Lucinden in Wien, den Mönch Hubertus in Rom, den Doctor Nück in der Residenz des Kirchenfürsten vernehmen, ja verhaften lassen würde … Als dann Bonaventura, nach Lucindens Beichte zu Maria-Schnee in Wien, dies große Aergerniß von einer der[15] ersten Familien Deutschlands abgewandt hatte, als Graf Hugo plötzlich auf Westerhof erschien und Paula nach dem ausdrücklich und wunderbarerweise von Robillante gekommenen Zeugniß Bonaventura's: Dieser Mann darf dir gehören und du ihm! jetzt willenlos geworden, ja durch Bonaventura's plötzliche Verpflanzung auf einen Boden, auf den sie ihm gebührenderweise – als Gattin des Grafen – sogar folgen durfte, überwältigt, ja davon wie berauscht, nachgegeben hatte, gewannen der Oberst und Monika eine mächtige Anlehnung auch an den von ihnen immer empfohlenen Grafen … Dieser schätzte und verehrte schon lange die ehemalige Bewohnerin des Klosters der Hospitaliterinnen in Wien … Paula selbst fand er dann unter dem magnetischen Rapport des Obersten … Sein eigenes beklommenes, tief verdüstertes, erst durch jenen mit Bonaventura auf Schloß Salem hingebrachten »Einen Tag« dem Leben wiedergewonnenes Gemüth schloß sich zuletzt besonders innig dem frischen, lebendigen Sinn der Bewohner Witoborns, den »Papiermüllers« an, wie Oberst Hülleshoven und die Seinen spottend von der ganzen Provinz und den adeligen Genossen genannt wurden …

Und anfangs machten sich die Verhältnisse ganz nach Wunsch … Monika's Rath war für die irrend hin- und hertastende Schwester Benigna, für den vom Erscheinen des Grafen Hugo um alle Fassung gebrachten Levinus unerlaßlich … Paula's Aufregung mußte freilich die Freunde und Verwandte mit Schrecken erfüllen … Sie schlief zwei Wochen lang nicht eine Nacht und sprach und that dabei doch alles, was man verlangte, ordnete ihre[16] Ausstattung, wobei sie selbst wie eine Magd angriff, der ein höheres Geheiß geworden … Wenn alles erstaunte: »Der Domkapitular ist Bischof in Italien!« – wenn man lächelte: »Bischof in dem Sprengel, wo die Güter der künftigen jungen Gräfin Salem-Camphausen liegen!«, so hörte und sah Paula nichts von Alledem … Graf Hugo wurde ihr in der That noch der liebste von all den Menschen, die es außer Bonaventura und Armgart in der Welt gab – war er nicht der Bote, der Bevollmächtigte Bonaventura's – war er nicht zart und rücksichtsvoll in seinem Benehmen …? Paula war scheinbar so lebensmuthig geworden, daß sie selbst dem Trostworte Monika's nachdenken konnte: »Un mariage de raison! Le comte renoncera à tout droit de possesion –!« … Freilich hörte sie nicht, was Monika zur Schwester Benigna hinzusetzte: Muß man französisch sagen, was uns nicht erröthen lassen soll! … Sie hörte das Schmollen nicht über die Unnatur des katholischen Priesterstandes, über die Unnatur des Lebens der höhern Stände überhaupt … Doch allerdings erklärte Monika, hier keinen andern Weg zu wissen, als den »eurer üblichen Convenienz« – … Die Familienzweige der Dorstes durften nicht auseinander gehen …

Niemand unterstützte diese Wendungen mehr, als Bonaventura's Mutter, die Präsidentin von Wittekind-Neuhof … Ihr war es fast, als könnten nur so die düstren Schleier gewahrt bleiben, die sich inzwischen schon theilweise von Angiolinen, von Benno und von der Herzogin von Amarillas gelüftet hatten … Wenn Graf Hugo fand, daß gerade er es »nicht um Benno und Bonaventura[17] von Asselyn verdient« hätte, auf Schloß Neuhof so scheu empfangen zu werden, so gab seine »lutherische Religion« einen Entschuldigungsgrund für eine Scheu, eben in ihm den Pflegevater, den Geliebten Angiolinens zu sehen … Durfte man doch die Besorgniß hegen, ihn wol gar von dem flüchtigen Terschka über alles unterrichtet zu wissen, was damals in jener von Löb Seligmann belauschten Verhandlung zur Sprache gekommen war … Die kluge Präsidentin wollte ihren Gatten, den »Büreaukraten«, wie er um Witoborn hieß, mit dem Geist der Provinz versöhnen und nahm sogar an den Exercitien der ab- und zugehenden, seltsamerweise dem Schloß Westerhof entschieden feindlichgesinnt bleibenden Frau von Sicking Theil …

Schon war Paula, opferfreudig und nunmehr in ihrem katholischen Sinn heilig überzeugt, daß sie gerade durch ihre Heirath dem Abgott ihrer Seele, einem Priester, noch eine Glorie des Himmels mehr gäbe – ihrem Gatten nach Wien gefolgt, als man immer anregendere und überraschendere Mittheilungen aus England erhielt … Terschka spielte in London eine glänzende Rolle … Auch dort standen ihm fördernd seine geselligen Talente zur Seite … Sein Bruch mit dem katholischen Glauben, seine Flucht vor den Jesuiten, zu deren Orden er gehört hatte, sein Anschluß an Giuseppe Mazzini, den italienischen Agitator, und dessen Freunde, alles das gab ihm selbst in den Kreisen der englischen Aristokratie einen Nimbus … Armgart begegnete ihm in den hohen Kreisen, in denen sie lebte … Freilich sah sie in ihm ihrerseits nur das Abbild jener düstern Tage, wo sie[18] geglaubt hatte, sie müßte sich dem ungewissesten Schicksal opfern, um nur ihre Mutter vor einer Verirrung zu bewahren, die die Aussöhnung mit dem Vater unmöglich machte … Aber ihre ganze Verachtung vor dem innerlich hohlen, nur gesellschaftlich verwendbaren Mann durfte sie ihm nicht ausdrücken, da die Aeltern selbst zu viel auf seine gegenwärtige Gesinnungsänderung hielten, die Gräfin Erdmuthe ihm verziehen hatte, Lady Elliot ihm eine Stellung über allen Makel gab …

Die Briefe, die in Witoborn bei dem »Obersten Papiermüller« ankamen, brachten immer überraschendere Mittheilungen … Um Terschka fingen an sich Gerüchte zu verbreiten, als spielte er eine doppelte Rolle … Er hätte nicht aufgehört das zu sein, was er war … Ganz übereinstimmend mit jener vom alten Zickeles in Wien zu Benno gethanen Aeußerung: »Die Jesuiten lassen ihn auch sein Protestant!« … Schon verlautete mancher Zweifel an seiner fanatisch zur Schau getragenen lutherischen Kirchlichkeit und italienischen Freiheitssympathie … Armgart sprach von ihm als von einem »ewig Gezeichneten« … Sie lehnte seine Begleitungen ab, schlug die Huldigungen aus, die ihr seine immer noch lebhafte Galanterie und unbeugsame Elasticität im geselligen Verkehr brachte … Manche behaupteten, schrieb sie, Terschka spiele leidenschaftlich und wäre stets in Verlegenheiten … Letzteres mußte wol der Fall sein; denn man bemerkte, daß ihm der Präsident von Wittekind Geld schickte …

Armgart selbst befand sich im Punkt der Religion immer noch da, wo sie gleich anfangs mit ihrem, inzwischen[19] nach Westerhof, Wien und Italien gegangenen »ketzerischen Großmütterchen« Gräfin Erdmuthe gestanden … Lady Elliot besaß denselben Bekehrungseifer, wie Gräfin Erdmuthe – hätte sie nicht Gegner gefunden, sie würde sie gesucht haben … Da kam nun ihrer dogmatischen Streitsucht ein geistesfrisches Mädchen nach Wunsch, das von den Entdeckungen, die Armgart an dem Glauben ihrer Aeltern machte, in einer steten, oft, nach Empfang von witoborner Briefen und Nachrichten, fieberhaft kampflustigen Beunruhigung lebte … Die Engländerinnen konnten Armgart um die Geltendmachung ihrer noch ungebrochenen katholischen Gesinnung nicht zürnen; denn einmal war und blieb sie in ihrem Wesen für eine weniger engherzige Beurtheilung, als die in Stift Heiligenkreuz, die Anmuth selbst und ebenso bestrickend war die eigenthümliche Art ihres Wahrheitssinns, der seinerseits aus freiem Trieb selbst nichts schonte, was ihr am katholischen Leben die flüchtige und entstellte äußere Erscheinung war. Sie behauptete, nur den Kern festzuhalten, und rechnete dann freilich dazu das Martyrium, ihren Umgebungen so beschränkt und lächerlich wie möglich zu erscheinen. Sie aß am Freitag kein Fleisch, sie machte ihre Kreuze, sie ging in die Messen; sie sagte: Das ist blos meine Religion, euch lächerlich zu erscheinen! … Wenn man ihrer spottete und sie fragte: Wie viel Jahre Ablaß und Milderung für die Läuterung im Fegefeuer sie schon gewonnen hätte? zeigte sie ihr Büchelchen und gab die Addition von einigen Millionen Jahren an mit den Worten: Die Ewigkeit ist lang! …

Aber im Grunde der Seele wurde sie über dies und[20] anderes doch ernster und bekümmerter … Aus ihrer sichern, ja trotzigen Lebens- und Denkweise, die von einigen großartigen, bis zum Anerbieten glänzender Heirathspartieen gehenden Huldigungen unterbrochen wurde, weckten die, trotz ihres Protestes dagegen, doch zur halben Engländerin Gewordene mehre der erschütterndsten Botschaften, die fast zu gleicher Zeit in England eintrafen …

Die eine war die Nachricht von jener Bewegung um den »Trierschen Rock«, der sich die Aeltern, Hedemann und einige Gleichgestimmte, selbst in dem urkatholischen Witoborn, angeschlossen hatten … Die Aeltern hatten in der That förmlich mit der Kirche gebrochen … Sie hatten eine deutschkatholische Gemeinde gebildet, der sich auch Protestanten anschlossen … Den Gottesdienst leiteten abwechselnd durchreisende, von ihren Pfarreien oder Vikarieen gewichene Kaplane … Statt der Orgel spielte die Tochter des Pfarrers Huber die Harmonika … Sogar Püttmeyer wurde seinen Gönnern und geistigen Gefängnißwärtern rebellisch und ließ sich einigemale bei jenen Erbauungen betreffen, bis dann Angelika Müller von den Adeligen aus Wien verschrieben wurde und die Rechte einer zwanzigjährigen Verlobung geltend machte, um den großen Mann in die Kirche und die Beichtstühle von Eschede wieder zurückzuschmeicheln … Manche in gemischten Ehen lebende Gatten oder Brautpaare entschlossen sich, diesen Ausweg einer neuen Kirche aus allerlei confessionellen Bedrängnissen zu ergreifen … Der protestantische Staat, damals überwiegend jesuitisch inspirirt, erschwerte die Bildung auch dieser witoborner Gemeinde, konnte sie aber nicht hindern …[21]

Für Witoborn und Umgebung war hiermit ein Aergerniß ohne gleichen gegeben … Norbert Müllenhoff betheuerte auf der Kanzel der Liborikirche: Die Familie des Obersten von Hülleshoven und sein Anhang müßte aus dieser rechtgläubigen Gegend, wo bisher nur Gottes Athem geweht hätte, weichen, es kostete was es wolle! … Stutzig wurde er zwar, als die alte Hebamme, auch der buckelige Stammer und sogar die Finkenhof-Lene der neuen Religion sich anschlossen – Das ist das schmerzliche Verhängniß der besten Principien, daß sie anfangs die umirrenden und moralisch heimatlosen Naturen zuerst anlocken! – Aber sein Wort verhallte nicht und da die Familie Hülleshoven nicht wich, da die Gemeinde sich durch die achtbarsten Elemente vergrößerte, so kam es zu Aufläufen, zu Beschädigungen der Fabrik, zum Einschreiten der bewaffneten Macht … Allen diesen Prüfungen setzte die kleine Gemeinde, die ihre schlechten Elemente bald ausschied, Muth und Entschlossenheit entgegen … Sie vergrößerte sich durch die Arbeiter der Fabrik, die aus fernen Gegenden genommen werden mußten, weil auf Priestervorschrift heimische schon gar nicht mehr in sie eintreten durften … Damals holte sich Hedemann die Keime seiner Krankheit … Der Vielgeprüfte, der an seinen verkümmerten Aeltern erlebt hatte, wohin getäuschtes Vertrauen zur Priesterwürde führen konnte, wollte nach beiden Richtungen hin auf dem Platze bleiben, wollte den Betrieb des Geschäfts ebenso abwarten, wie den Ausbau einer von Rom abgefallenen, apostolischen Kirche … So gewaltig seine Körperkraft war, sie erlag diesen Mühen, Beunruhigungen, Nachtwachen, Kämpfen, die bis zum Handgemenge gingen …[22] In einer kalten Winternacht, als Hedemann im Mühlenwerk noch spät allein gearbeitet hatte, ging er, über und über in Schweiß gebadet, in seine nahe gelegene Wohnung … Dort warf ihn ein auflauernder Haufe Fanatiker in die an ihrem Ursprung nicht frierende, aber eiseskalte Witobach … Mit Stangen hatten sie den Unglücklichen verhindert, aus dem bis an seine Brust gehenden Strom herauszukommen … Sein Hülferuf, der Hülferuf Porzia's, die schon im Bett lag und durch die lärmende Scene ans Fenster getrieben wurde, verjagte die böse Rotte und endlich konnte der Mißhandelte ans Ufer … Fieberfrost durchschauerte ihn; eine lange Krankheit warf ihn aufs Lager … Von dieser Nacht an schrieb sich der Keim einer Krankheit, die seine Lungen zerstörte …

Noch aber würde vielleicht Armgart auf solche Schreckenskunden nicht aus England zurückgekehrt sein, hätte sich nicht auch um dieselbe Zeit auf ihre stillverschwiegene Liebe zu Benno und Thiebold – die seltsame Einigkeit beider Namen dauerte fort – der trübste Schatten gesenkt … Die Nachricht, daß sich Benno in die Verschwörung der Brüder Bandiera eingelassen hätte, gefänglich eingezogen und auf die Engelsburg gebracht war, hatte nur vorübergehend erschütternd gewirkt; denn wenige Wochen darauf kam die frohe Botschaft seiner Befreiung … In diesen Wochen aber fühlte Armgart erst, daß es ihr wie Fürstin Olympia Rucca ging und Thiebold doch nur »eine schöne Eigenschaft an Benno mehr« war. Sie hatte Benno sonst nur, wie sie selbst glauben wollte, schwesterlich geliebt; gibt es aber in der Liebe Stufen? … Gott, Weib, Kind – es ist dasselbe allzündende[23] Feuer, entglommen demselben Altar, entlodert derselben Sonne – nur verehren will dies Gefühl und zuletzt erst erkennt es sich ganz – in der Sehnsucht nach Erwiderung …

Im stillen hatte sich diese Sehnsucht immer höher gesteigert … Wer schärfer beobachtete, sah, Armgart hatte ihre Heiligen, von denen sie sprach; sie hatte noch Heiligere, von denen sie schwieg … So war Paula ihrem wehmüthigen Blick schon lange der Sphäre des Irdischen entrückt – sie billigte ihre Ehe, aber sie trauerte doch um sie … »Katholisch sein heißt einen geheiligten Willen haben«, hatte sie einst zu Lucinden gesagt – diese Lehre war groß und doch in den meisten Fällen – schmerzlich … Ebenso mit Benno und Thiebold … Sie hatte beide in ihrer Verblendung um Terschka's Willen gekränkt, von beiden für immer Abschied genommen – wie gedachte sie jener Scene in der Kapelle mit Thiebold, des Abschieds von Benno, als dieser sie so tief beklagte! … Sie schrieben sich nun nicht, einer ließ den andern nichts von sich hören – und doch war alles, was Armgart erlebte, nur wie ein Stoff zum künftigen Bericht an beide, deren sie als Freunde so gewiß zu bleiben glaubte wie ihres Schattens … Sie tummelten sich ja jetzt nur in der Welt, wie sie; sie würden schon wieder zusammenkommen und Benno würde dann alles vergeben, was zu vergeben war, würde ausgleichen, was auszugleichen – Damals hatte sie einem alten Herzog, der sie, für so arm und papistisch sie galt, zu seinem Range erheben wollte, gesagt, sie wäre verlobt …

In jenen Wochen der Angst und Verzweiflung um[24] Benno's Schicksal, hätte sie sogar Terschka's Rath und Beistand angehen können; denn zu, zu verlassen fühlte sie sich … Wem sollte sie sagen, was ihr Benno von Asselyn gewesen und geworden! … Sie flatterte wie ein zum Tod verwundeter Vogel und suchte nun auch Terschka selbst auf – sie schrieb ihm … Aber gerade jetzt fehlte der sonst so Zudringliche, jetzt verbarg er sich – wo und warum? …

Sie erhielt einen Brief von Schloß Neuhof, in welchem sich eine Einlage des Präsidenten für Terschka befand … Diese wollte sie ihm überschicken; es hieß, Baron Terschka wäre verreist – einige Italiener sagten, seine Abwesenheit hinge mit dem Aufstand der Brüder Bandiera zusammen, die von Korfu nach Calabrien eingebrochen waren, mit ihrer kleinen Schaar geschlagen wurden, im Silaswalde lange umirrten, dann von einigen Gefährten verrathen und in Cosenza – standrechtlich erschossen wurden1 – – …

Den Zusammenhang des Geschicks dieser edlen, damals von ganz Europa bemitleideten Jünglinge mit Benno kannte sie nicht … Sie hörte nur überall den Schrei der Entrüstung über die Grausamkeit der Regierung Neapels … Sie durfte damals noch das Aeußerste auch für Benno fürchten … Im Begleitschreiben der Einlage an Terschka las sie, daß der Präsident sofort die Vermittelung der Regierung zu Gunsten Benno's in Anspruch genommen hatte, aber der traurige Bescheid war gekommen,[25] daß diese den ehemaligen Landwehrmann Benno von Asselyn schon lange als fahnenflüchtig, zum mindesten als aus dem Unterthanenverband ausgeschieden betrachten und ihn seinem Schicksal überlassen müsse … Man solle sich an Oesterreich wenden, hatte es mit bitterer Betonung geheißen, in dessen Diplomatie er eingetreten schiene seit seiner »Courierreise« nach Rom …

Bald aber kam die Kunde, Benno wäre befreit und von der Engelsburg entflohen … Terschka war es, der diese Botschaft brachte … Von ihrer Liebe konnte er sich an Armgart's Jubel überzeugen … Seiner Erzählung nach wurde Benno mit dem Advocaten Bertinazzi und einigen angesehenen Männern gefangen genommen … Ein Graf Sarzana konnte sich nicht unter ihnen befunden haben; denn von Lucinden erzählte Terschka zu gleicher Zeit, daß ihre schon in London bekannt gewordenen Hoffnungen, eine Gräfin Sarzana zu werden, nicht die mindeste Störung erlitten hätten … Durch eine Fallthür war es dem größten Theil der überraschten Loge möglich gewesen, einen aus dem Hause des Advocaten führenden geheimen Ausgang zu gewinnen … Nun aber wäre Benno frei, befände sich in Marseille und müßte in diesem Augenblick in Paris sein … Der Stachel, den Terschka mit den Worten: »Man sagt, die allmächtige Nichte des Cardinals Ceccone hätte ihn befreit!« in ihr Herz drückte, haftete nicht allzu lange, denn Terschka führte den Stich nur zögernd; er schien vollauf mit dem Brief des Präsidenten beschäftigt – mit welchem er über die von ihm noch zurückgehaltene vollere »Orientirung des Grafen Hugo in Betreff Angiolinens und der[26] Herzogin von Amarillas« schon lange correspondirte und – rechnete …

Während Armgart nun von Tag zu Tag auf Nachrichten aus Marseille oder Paris harrte oder wenigstens aus Witoborn oder Kocher am Fall – auch mit dem Onkel Dechanten correspondirte sie – erfuhr sie die überraschende Anwesenheit Paula's und ihres nunmehrigen Gatten wieder auf Schloß Westerhof … Paula hatte sich in Wien nicht heimisch fühlen können und war in ihre magnetischen Zustände zurückverfallen … Der Oberst stand mit ihr im Rapport – Graf Hugo sah ihr jeden Wunsch am Auge ab … Noch mehr, als die Provinz erleben sollte, der deutschkatholische Oberst magnetisirte die Gräfin Dorste, entführte sie ihr Gatte selbst diesen Conflicten und wollte mit ihr nach Italien … Die Mutter des Grafen sah darin nichts als die äußerste Schwäche ihres Sohnes, der sogar seine Gattin dem Priester zuführe, den sie liebe … In jenen Tagen geschah dies alles, wo Bonaventura in Rom war, um sich zu vertheidigen wegen seines Schutzes waldensischer Sektirer, ja wegen seines Rufs, ein Magnetiseur gewesen zu sein …

Wie mußte Armgart erstaunen, als Terschka die Botschaft brachte: Bischof Bonaventura kehrt nach dem Thal von Castellungo als Erzbischof von Coni zurück! An die Stelle seines grimmen Feindes Fefelotti! … Wieder war es, wenigstens in Terschka's Darstellung, Fürstin Olympia Rucca, die als die Retterin und Vorsehung auch dieses Asselyns genannt wurde … Schon setzte Terschka mit zweideutigem Lächeln hinzu, Fürst Ercolano Rucca hätte sich zum Attaché der Nuntiatur in[27] Paris machen lassen und seine Frau wäre ihm vorausgeeilt, um in Paris – eine Wohnung zu bestellen …

Noch glitt aller Verdacht von Armgart's reiner Seele … Nur das Eine begriff sie nicht, warum von Thiebold nichts verlautete, warum Benno nicht nach London kam, wo sich doch alle Freunde Italiens sammelten, auch die Trümmer jener so unglücklich gescheiterten Bandiera'schen Expedition … Terschka konnte dann nicht länger bei ihr gegen Benno wühlen … Wieder war er für einige Zeit vom Schauplatz der Gesellschaft Londons verschwunden …

Seit dann Bonaventura in der That mit glänzender Genugthuung Erzbischof von Coni geworden war, hörte sie von Westerhof, mit Ausnahme der ihre Aeltern betreffenden Nachrichten, eine Weile nur Frohes und Gutes … Noch war Paula in Westerhof … Armgart schrieb ihr, sie möchte alles aufbieten, die Aeltern vor dem Aeußersten ihrer Unternehmungen zu bewahren … Als sie Briefe erhielt, die hier jede Möglichkeit der Einwirkung in Abrede stellten, kämpfte sie mit sich, ob sie nicht sofort abreisen sollte … Sie würde diesem Triebe gefolgt sein, wenn nicht von ihrer Mutter das ausdrückliche Verbot gekommen wäre … Die Mutter fügte hinzu, daß sich auch gegen Paula's und des Grafen längeres Verweilen in der Provinz Intriguen zeigten … Die Geistlichen hätten gegen die Wunderkraft Paula's gepredigt … Der Zustrom derer, die Heilung begehrten, hätte, seitdem überall in den Beichtstühlen der Besuch Westerhofs widerrathen würde, abgenommen … Die Ehe mit einem Lutheraner, die geistige Verbindung mit einem[28] Deutschkatholiken könnte ja auf alle Fälle nur Unheil bringen … Man trüge sich mit Abschriften der Gesichte, die Paula unter des Vaters magnetischer Hand gehabt hätte, und fände in ihnen einen Himmel und eine Erde, die mit den rechtgläubigen Bedingungen nichts gemein hätten … Während Paula alle Obliegenheiten ihres Glaubens noch immer erfülle, erschiene ihr in ihren Wahn- und Ahnungsgebilden weder der blutende Christus, noch sein durchstochenes Herz, weder das Lamm mit der Fahne, noch die Mutter Gottes … Sie sähe Tempel, aber sie wären ohne Hochaltar; sie sähe Opfer, aber sie schienen nichts als der Duft der Blumen zu sein … Paula behaupte, von jedem Dinge die Seele zu erblicken und diese trüge nichts zur Schau von einem Verlangen nach Erlösung … Meist schwebte alles, was sie sähe und erkenne, über einen unermeßlichen Regenbogen hinweg … Armgart's Bildung und Stimmung war reif genug, zu sagen: Sie sieht aus den inneren Erfahrungen ihres Herzens das Land ihrer Sehnsucht, wo es keinen Haß und keine Verfolgung mehr gibt! … Die Mutter sagte: Sie sieht, unter meines theuern Gatten Hand, das Land der Wahrheit … Der Onkel Dechant schrieb: Sie sieht – Italien! …

Die Gegensätze hatten, das erkannte Armgart, um Witoborn eine Höhe erreicht, wo es keine friedliche Ausgleichung mehr gab … Schon hatten Monika und Benigna, Ulrich und Levinus Hülleshoven wieder ihre natürlichen Stellungen eingenommen und trotzdem, daß oft der Oberst nach Westerhof kam, innerlich gebrochen … Selbst Graf Hugo war geneigt, für die Bewahrung[29] des Alten Partei zu nehmen, wenigstens keinen Anstoß erregen zu wollen durch zu auffallende Begünstigung der kleinen Ketzergemeinde in Witoborn … Und Monika sagte offen, daß Paula noch den Grafen zu ihrem Bekenntniß hinüberziehen würde … Briefe voll äußersten Schmerzes kamen darüber aus Castellungo von des Grafen Mutter … Armgart schrieb hin und her zur Vermittelung, zur Aufklärung … Vergebens; der Bruch zwischen ihrer Mutter und Westerhof wurde unheilbar … Graf Hugo konnte sich nur mit Schwierigkeit, Oberst Hülleshoven unter keinerlei Bedingung mehr in Witoborn halten …

Armgart's Aufregung wuchs, als der Onkel Dechant, der von allen diesen Vorgängen, von Benno's Schicksalen, von den allmählichen Entdeckungen über dessen Herkunft seine schon dem Erlöschen nahe Lebensflamme noch einmal neu und nicht wohlthuend geschürt sah, gerade ihr, der er sich, seit Armgart's vertrauensvoller Bitte um seine Hülfe beim Aussöhnen ihrer Aeltern, besonders theilnehmend zugewandt hatte, aus Kocher schrieb: »Zu den Mislichkeiten des Kampfes deiner Aeltern gehört vorzugsweise die ausbleibende Unterstützung durch den Staat … So tiefe Wurzeln hat bereits die durch die katholische Reaction geschürte Reue über den Abfall von Rom bei den maßgebenden Protestanten geschlagen, daß sich niemand findet, der diese große Bewegung einer Reform des römischen Glaubens würdig unterstützt … Die protestantischen Regierungen fühlen ganz das, was die Jesuiten zum Staatskanzler gesagt haben sollen: Wir sind Conservatoren! Wir erhalten und bekämpfen eben das, was ihr! … Die Fürsten Deutschlands suchen die kleinste Aenderung[30] des Gegebenen zu hindern, im Vorgefühl, daß ein einziges weggenommenes Sandkorn zur stürzenden Lavine anwachsen könnte … So muß diese denkwürdige Bewegung, da sie ohne den Beistand tieferer Geister bleibt, in sich ersterben, ja sie wird zum Gewöhnlichen herabgezogen und, ganz nach den Anweisungen der Jesuiten, zu einer Sache mehr oder weniger nur des Pöbels gemacht werden« …

Die kindliche Liebe, die Bewunderung, die Armgart vor der treuverbundenen Zärtlichkeit ihrer Aeltern erfüllte, entwaffnete ihren Widerspruch gegen alles, was von den Aeltern unternommen wurde … Wie es verzweifelte Aufgaben mit sich zu bringen pflegen, die Wahl der Hülfsmittel, die die Aeltern ergriffen, konnte sie unmöglich alle billigen … Selbst der ruhige, kaltblütige Vater ließ sich vom trotzenden Sinn der Mutter zu Unbedachtem fortreißen … Allen Adelsgenossen der Gegend bot er das Schauspiel eines mit Absicht den Nimbus seiner Geburt Zerstörenden … An seiner Fabrik betheiligte er sich wie ein Arbeiter, ließ sich wie ein Schreiber in seinem kleinen Wohnhause mit der Feder hinterm Ohr erblicken, unterschrieb die kleinsten geschäftlichen Veröffentlichungen mit seinem vollen Namen und löste auf diese Art jeden Zusammenhang mit seinen Standesgenossen … Und doch rührte es Armgart, daß die Mutter bei allen diesen Dingen gleichsam nachholte, was sie in zwölfjähriger Trennung ihrem Manne zu sein unterlassen hatte …

Zur selben Zeit, als es dann plötzlich hieß, Paula ist wirklich nach Italien gereist – es mußte in schnellem Entschluß geschehen sein, da Armgart nicht einmal von Paula[31] selbst die Nachricht erhielt – erlebte Armgart den Schrecken, daß Thiebold in London war und sie nicht besuchte … Terschka war seit einiger Zeit ihren Blicken ganz entschwunden, sie konnte von ihm über diese betrübende Erfahrung keine Aufklärung erhalten … Allmählich hörte sie, daß Thiebold in jener trüben Gensdarmenzeit seinerseits in der Heimat sich auch nur mit Mühe von politischem Verdacht über seinen Aufenthalt in Rom hätte reinigen können … Ueber Benno hörte sie, daß der Präsident für ihn die freie Rückkehr zu erwirken gesucht hätte, aber auch damit nicht durchdrang … Die Mutter schrieb ihr nach allerlei seltsamen Andeutungen über Benno's jetzt immer mehr sich lüftende Herkunft, daß ihr alter Freund undankbar genug gegen diese Verwendungen protestire; Benno wollte, hätte er aus Paris geschrieben, jetzt ganz nur noch Italiener sein … »Man weiß ja«, schrieb die Mutter, »wer alles seine Flucht ermöglicht hat! … Die dir wol noch bekannte Lucinde Schwarz hat das römische Staatsruder in Händen! … Ist die Abenteurerin vielleicht einer Regung von Dankbarkeit für die Familie gefolgt, die ihr und dem Doctor Abaddon, Herrn Oberprocurator Nück, das Zuchthaus ersparte? … Wie solche und ähnliche Menschen Rom nach Gutdünken regieren, ersieht man ja aus Bonaventura's Laufbahn … Trotz des Staatsverbrechens seines Anverwandten Benno, trotz der gegen ihn erhobenen Anklage über seine Antecedentien als ›Magnetiseur‹, trotz seiner an und für sich höchst achtbaren Unterstützung der waldensischen Bewegungen Italiens ist er nach einem kurzen Aufenthalt in der ›ewigen Stadt‹ als Erzbischof in die Thäler[32] seiner neuen Heimat zurückgekehrt, nachdem er vorher Lucinden in der Kirche der Heiligen Apostel in Rom mit einem päpstlichen Gardisten getraut hat … Freilich soll die in Paris verweilende Fürstin Olympia Rucca, die Beherrscherin des Kirchenstaats, alles möglich machen – –«

Hier brach der Brief mit räthselhaften Gedankenstrichen ab … Centnerschwer wälzten sie sich auf Armgart's vereinsamtes Herz … Es folgten dann in dem verbitterten, im Ton höchster Reizbarkeit geschriebenen Briefe noch Scherze über den Onkel Levinus, der in allen Bibliotheken nachschlüge, um eine klare Vorstellung über das alte Cuneum, jetzt Cuneo oder Coni, zu gewinnen – Tante Benigna vergliche die Ehrfurcht, die hier zu Lande vor dem entthronten Kirchenfürsten geherrscht hätte, die Trauer über seinen nach seiner Freisprechung bald erfolgten Tod, die Festlichkeiten der Inthronisation seines Nachfolgers mit dem Bilde der Festlichkeiten in Coni, zu denen wol Paula nun persönlich erscheinen würde – Paula's Gatte hätte vor seiner Abreise seine Besitzantretung vollständig geordnet, hätte die Verträge mit den Agnaten abgeschlossen, hätte das voraussichtliche Erlöschen seines Stammes mit dem Präsidenten von Wittekind, dem nächsten Erben, zum Gegenstand gerichtlicher Punktationen gemacht – und da dann auch der Präsident ohne Kinder wäre, so wäre manche geheimnißvolle Seite aus dem Lebensbuch des verstorbenen Kronsyndikus, des Tyrannen, jetzt zur offenen Kunde gelangt – Noch läge ihr zwar nicht offen, warum in letzter Instanz das ausschließliche Erbrecht Bonaventura's durch eine anderweitige Beziehung gemodelt werden könnte – aber man[33] spräche jetzt allgemein, durch Hülfe des kanonischen Rechts könnte selbst Benno noch vor Bonaventura die Vorhand gewinnen – Nicht unmöglich, schrieb die Mutter, daß eine in Rom, jetzt in Paris lebende Herzogin von Amarillas, eine ehemalige Sängerin aus Kassels westfälischer Zeit, mit dem Kronsyndikus eine geheime Ehe geschlossen hat und Benno ihren Sohn nennen darf –! … Benno Sohn des Kronsyndikus! … Ueber alle diese so räthselhaften und ganz nur abgerissen mitgetheilten und mit religiösen Betrachtungen schließenden Dunkelheiten durfte Armgart wol in eine Aufregung gerathen, die sie der Mutter kaum schildern konnte …

Sie sah Benno in Rom – in Paris – in den Armen einer Mutter, die eine Herzogin war – eine Fürstin hatte ihn gerettet – Lucinde war eine Gräfin Sarzana geworden –! … Noch flossen ihre Thränen nicht; noch glaubte sie an den Sieg des Guten und Edeln; noch standen nur lichtverklärte Bilder vor ihren Augen … War nicht das Höchste möglich –: Graf Hugo führte Paula nach Coni zum Freund ihrer Seele! … Sie sah noch ihre magisch seraphische Welt, ihre in den Wolken schwebenden Rosenkränze, ihre großen Thaten der Entsagung und der opfernden Liebe … Aber schon die Vorstellung: Benno ein Sohn des Kronsyndikus! – das war ja ein Bild wie aus der Welt des Teufels, an die jetzt auch die Mutter nach ihren religiösen Ausdrücken zu glauben schien …

Der Onkel Dechant, den Armgart's reife und inhaltreiche Briefe besonders zu erfreuen schienen, schrieb ihr: »Nun hat deine sonst so treffliche Mutter gar den Standpunkt einer bloßen Vernunftopposition gegen den Katholicismus[34] verlassen! … Der der deutschkatholischen Bewegung gemachte Vorwurf, es läge ihr ja kein Bedürfniß nach Religion, am wenigsten nach dem Christenthum, zu Grunde, bestimmt sie, sich dem Einfluß unterzuordnen, den Hedemann um so mehr auf sie ausübt, als die freudige Geduld und werkthätige Liebe, mit der dieser Treueste sich seinem Beruf widmet, allerdings jeden, der sein Leiden, den schmerzlichen Hinblick auf die junge Frau sieht, die sich so innig ihm anschloß, ergreifen und rühren muß … Aber eine Monika verirrt sich in die trübe Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben! … Ich mußte deiner Mutter schreiben: ›Durch den Grundverderb unserer Kirche, den auch ich in unsern Ehegesetzen finde, sind Sie aus dem Denken und Fühlen Ihrer Jugend hinausgedrängt worden – aber daß Sie, Sie einen Teufel durch den andern austreiben, das ist beklagenswerth! … Sie herrliche, klare, geistesfrische Frau, wie kommen Sie zu Hedemann's Bibelgefangenschaft? … So oft ich dem von Amerika angesteckten Quäker hier beim Obersten begegnete, erkannte ich die unwürdigste Abhängigkeit des Menschen, die vom Buchstaben … Unsere Zeit ist nicht zu neuen Religionsschöpfungen gemacht, die einzige Religion des Bruchs mit aller Religion etwa ausgenommen, und was wir von Verbesserung unserer kirchlichen Zustände gewinnen können, wird immer nur die Folge gelegentlicher Veranlassungen sein … Selbst zu Luther's Zeiten war es nicht anders … Deutschland hatte sich damals in seiner Reichsverfassung überlebt, die Fürsten waren zu mächtig geworden und suchten sich zu kräftigen durch alles, was schwach und leicht zu erobern war; sie rissen die geistlichen[35] Güter an sich und so zerfiel der Zusammenhang mit Rom von selbst … Aehnliche Umwälzungen werden auch wir wieder erleben und aus Benno's traurigen Verirrungen erseh' ich wenigstens eine schöne und große Hoffnung … Was er von Italien schreibt, der arme Verlorene, ist herrlich … In der Geschichte straucheln die Bewegungen der Massen und Interessen über einen Strohhalm und ich juble im Geiste dem neuen Tag entgegen, wenn Italien dem Papstthum selbst den Schemel unter den Füßen wegzieht …‹«

Wie erschrak Armgart! … »Traurige Verirrungen?« … »Der arme Verlorene?« … Schon flossen ihre Thränen … Sie schrieb an Bekannte in Paris, ihr von einer gewissen Herzogin von Amarillas zu berichten …

Am Tage darauf kam wieder ein Brief aus Kocher am Fall … Der Dechant, wie aus Reue, die Mutter bei Armgart angeklagt zu haben, schickte ihr auch eine eben erhaltene Antwort der Mutter auf seinen Brief …

Die Mutter hatte dem Dechanten geschrieben, daß sie sonst immer so gedacht hätte, wie er, und mit Hedemann und Erdmuthe hätte sie in gleicher Weise gestritten … Indessen wäre der Vorwurf, daß die Gegner Roms ohne ein religiöses Bedürfniß überhaupt wären, zu empfindlich für die Sache der geistigen Freiheit geworden und deshalb hätten ihre Angehörigen den Beweis liefern müssen, daß sie dem gemeinschaftlichen Urquell des Lichtes näher stünden, als ihre Feinde … »Ich erkannte«, las Armgart, »daß die Verneinung nur auf der Schärfe eines Messers geht und dabei keinen Schritt vor dem Ausgleiten[36] sicher ist … Das erkannt' ich, als ich in unsrer kleinen Gemeinde, die eines Tages ohne Lehrer war, reden wollte … Man kann nicht reden, wenn nicht aus der reichsten Fülle des Stoffs … Jede andre Belebung zum Sprechen ist todt und hülflos … Hier einen Satz zugeben, dort einen wegnehmen, da halb, da beinahe halb dies oder jenes wollen oder sagen, das erzeugt vielleicht das Feuerwerk eines feinen und ironischen Kopfes, aber es leuchtet nur eine Weile und verpufft … Nun sah ich, warum unser herrlicher Hedemann immer und immer sprechen kann … Einfach ist seine Rede, aber sie hat die Fülle der Beredsamkeit und erwärmt … Warum? Ich mußte mir sagen: Aus dem Vollen nur kann ein lebendiger Glaube kommen und sich auch im Aussprechen lebendig bewähren! … Glaube ist nicht die blinde Annahme des Übernatürlichen, sondern Versenkung in die ganze Erscheinung einer Sache … Das Evangelium wird dem Glaubenden wie ein Freund, auf den man schwört, weil man ihn in einer großen Probe einmal erkannt hat … Die Ueberzeugung, daß die Bewährung im Einen da ist, erleichtert das Vertrauen dann auch auf die Bewährung im Andern … So versenkt' ich mich in die Schrift und die beiden Hauptgegenstände ihrer Verherrlichung, in Gott und seinen Sohn … Mehr braucht die Religion der Menschheit nicht … Diese beiden großen Bilder haben so tausendfache zarte Pinselstriche, daß sie jede andere Weisheit überflüssig machen … Nicht daß ich Wissenschaft und Kunst zurückwiese und wie Omar alle Bücher verbrennen wollte, wenn nur die Bibel bleibt; aber ein ganzes volles Leben und ein[37] Leben der Gemeinsamkeit zwischen vornehm und gering, zwischen gelehrt und arm an Geist ist nur durch die Schrift möglich … Und dieses gemeinsame Feld ist nicht etwa eng und das Ergehen auf ihm bald ermüdend; im Gegentheil, ich entdeckte einen Schatz nach dem andern, als ich die Bücher noch einmal zu lesen begann, die ich früher als eine Quelle der Verdunkelung des Verstandes geflohen war … Ich finde die höchste Weisheit in dem, was uns belohnt für das Gebot des Apostels: Forschet in der Schrift! … Das menschliche Herz will nun einmal Liebe und Liebe muß fühlen und Gebet ist Erhöhung des Gefühls, Sammlung zum Aufblick. Worauf? Auf das Bessere und die Besseren … Die große Zahl von Besseren, die die Katholiken als Heilige verehren, sind die zu üppige Erweiterung eines Gefühls, das an sich ganz richtig ist … Die Liebe gestaltet alles persönlich und das ist denn der persönliche Gott, der lebendige, der unmittelbar auf uns wirkende, der Gott der Offenbarung … Mein Glaube sieht im persönlichen Gott keine irdische Gestalt, sie zieht das Unaussprechliche und Unbegreifliche nicht in die Sprache der Dichter und Propheten herab; für mich und für die, die fühlen wie ich, ist der persönliche Gott die Wirkung seines Vorhandenseins in uns; seine größte Offenbarung war die in jenem, der den Muth hatte, sich deshalb auch geradezu Gottes Sohn zu nennen … Nehmen Sie nur einmal wieder die Evangelien in die Hand, mein theurer Freund, und nicht Ihren Horaz und Virgil! Wischen Sie weg, was auf diese ehernen Tafeln der Witz, der menschliche Spott und selbst die gelehrte[38] Kritik geschrieben haben, und sehen Sie dann, was übrig bleibt … Von dem Tage an, wo ich priesterlich fühlte – und jeder Religionsstifter muß priesterlich fühlen, keine Religion macht sich am Theetisch – von dem Tage an ist mir die Erscheinung unseres Herrn und Heilandes Jesu Christi aufgegangen wie die meines besten Freundes … Ich wandle mit ihm am See Tiberias, ich spreche mit ihm bei seinem Freunde Lazarus vor, ich sehe die Fußtapfen, die er hinterlassen hat und die überall gesegnete sind … Sein Leiden ist ganz persönlich das meine; seinen Todeskampf ring' ich mit; er lehrt mich am Kreuz lieben und vergeben … Auf Liebe, Glaube, Hoffnung, begründet durch Christus und einen persönlichen Gott, müssen wir unsere Kirche erbauen –« … Darunter hatte denn der Onkel mit seiner alten zitternden Hand und in seinem friedlichen Sinn geschrieben: »Im Grunde ganz unverfänglicher Glaube des Petrus Waldus, in Ruhe gestorben um 1200, aber in seinen Anhängern, den Waldensern, gekreuzigt, gerädert, geviertheilt, verbrannt bis auf den heutigen Tag. Fiat lux in perpetuis!« …

Das Unkatholischste, was sich denken läßt, ist eine in der Kirche sprechende Frau … Aber Armgart, ohnehin schon in einem geknickten Zustande, fühlte sich durch diesen Brief der Mutter vollends daniedergebeugt … Weniger empfand sie Rührung um das Bekenntniß der Mutter, als um den tiefinnern, soweit schon gekommenen Schmerz, der ihm offen zu Grunde lag, um die ungeheure Aufregung, den Bruch der Seele in dieser stolzen Frau zu erkennen zu geben … Sie sah die erbangende Liebe für den Vater,[39] Liebe für den von seiner Krankheit gebeugten Hedemann … Ein schlichter, wissenschaftlich ungebildeter Mann hatte durch die immer gleiche Gediegenheit seines Charakters und die unerschütterliche Consequenz seiner Denkweise die Oberherrschaft über seine Umgebungen gewonnen … Die Mutter wollte nichts mehr wissen von der Herrlichkeit und Einbildung dieser Welt – sie wollte fühlen wie der geringsten einer und ihr Gatte folgte dem Beispiel, das sie mit so beredten und feurigen Worten zu erläutern wußte … Armgart durfte sich bei Alledem wenigstens sagen: Du allein hast die Aeltern so verbunden! …

Voll Rührung schrieb sie der Mutter, sie wolle nun zu ihnen kommen …

Die Mutter, ihr selbst sich nicht im mindesten ebenso weich offenbarend, wie dem Onkel, entgegnete ihr: »Kind, du weißt, daß Paula, dein einziger hiesiger Anhalt, den ich gestatten würde, in Italien ist … Daß du deine Stelle im Stift einnimmst, wieder mit Benigna, die dich mir einst schon raubte, in Westerhof lebst, ist nicht möglich … Es wäre ein Bruch mit allem, was unser Stolz, unsere Erhebung geworden ist … Diese Menschen hier sind ja wahnsinnig … Gott der Herr wird auch an ihnen gute Gründe finden, warum er sie nicht ganz verwirft; ich verwerfe sie … Im Stift Heiligenkreuz würdest du nur zu unserer und deiner Kränkung deine Stelle einnehmen … Glücklicherweise ist dir auch gestattet, deine Pension auswärts zu verzehren … Wir sehen jedoch ein, daß unsere eigenen Wege für deine Jugend noch zu rauh sind! Bleibe also noch getrost bei deiner trefflichen Lady!« … Dann folgte eine Antwort auf die Frage nach den[40] räthselhaften Andeutungen über Benno's Ursprung in dem letzten Briefe der Mutter, die Versicherung, daß Benno der Bruder des Präsidenten von Wittekind wäre und noch eine Schwester besessen hätte, die einst Graf Hugo entdeckt, erzogen, geliebt und daß er lange ihr trauriges Ende beweint hätte …

Das war, alle ihre Lebensgeister erschütternd, gerade der empfangene Eindruck, als sie nun von jener Freundin in Paris, die von ihr um die Herzogin von Amarillas befragt wurde, Aufklärungen erhielt, die diese, ohne das nähere Interesse Armgart's zu kennen, in aller Harmlosigkeit gab … Die Herzogin von Amarillas, hieß es, hat aus erster Ehe einen Sohn, der sich Cäsar von Montalto nennt und sie mit einer wahrhaft schwärmerischen Liebe verehrt … Herr von Montalto ließ sich in Conspirationen ein und gerieth in die Engelsburg … Seine Retterin, sagt man, war die Nichte des Cardinals Ceccone selbst, die ihm hierher nachgereiste Fürstin Olympia Rucca … Herr von Montalto soll anfangs nur an die Hülfe seiner Mutter, der Herzogin von Amarillas, geglaubt haben … Natürlich ergriff er die Hand, die ihm die Mittel bot, aus einer so verzweifelten Lage zu entfliehen … Schon die Untersuchung, schon die bis zur Tortur gehenden Fragen nach den übrigen Mitgliedern der nicht ganz gesprengten Loge, die Fragen nach dem Zusammenhang seiner Verhältnisse mit denen jener in eine Falle gelockten Gebrüder Bandiera, erzählte man uns, hätten jahrelang dauern können … Herr von Montalto erkannte erst durch die Bequemlichkeit der ihm gebotenen Hülfsmittel, durch den Fund eines geregelten Passes,[41] durch die sichere Einschiffung in Civita-Vecchia auf einem nach Marseille bestimmten Handelsschiff die mächtige Hand, die über ihm waltete … Wenige Wochen und die pariser apostolische Nuntiatur erhielt einen neuen Attaché im Fürsten Ercolano Rucca … Seine Gattin, eine allerliebste kleine Hexe, wenn ihr Teint auch fast grünlich ist und ihr Wuchs einem Däumling gleicht, doch mit Augen wie funkelnde Diamanten und einem wahrhaft märchenhaft blauschwarzen langen Haar, das sie in reizenden Flechten trägt, und die Herzogin von Amarillas wohnen gemeinschaftlich in einem und demselben Palais der Rue Saint-Honoré … Beide stehen im Vordergrund der pariser Gesellschaft … Cäsar von Montalto wird täglich mit der wilden Italienerin gesehen, die Furore macht … Ich höre, die französische Regierung hat von Metternich Befehl erhalten, alle italienischen Flüchtlinge auszuweisen … Herr von Montalto wird dann wahrscheinlich mit seiner Mutter und der Fürstin Rucca nach London kommen …

Düstere Nacht legte sich nach dieser Mittheilung auf Armgart's Auge … Nun wußte sie alles … Und doch sollte sie ihre Geisteskraft zusammennehmen, um aus London zu entfliehen … Denn bleiben konnte sie nicht … Sie lebte in der großen Welt, sie konnte, sie mußte den Ankömmlingen begegnen … Sie mußte, vor dem Verlorenen entweichend, in die Heimat zurück … Nun erst verstand sie gewisse Aeußerungen in den Briefen des Onkel Dechanten, verstand, warum er ihr überhaupt so oft und so eingehend schrieb – Er wollte sie zerstreuen, vorbereiten auf die Entdeckung … O mein Gott! Beteten[42] ihre zitternden Lippen, als sie nach diesen Briefen suchte … »Wir Menschen«, hieß es noch vor kurzem in einem derselben, »sind das Product unserer Verhältnisse … Die Freiheit des Willens ist eine Illusion … Die Tugend, auf die Spitze getrieben, wird Laster … Dem Mann gehört die Welt und gewisse Dinge müssen ihm kaum bis an die Knöchel reichen …« – – Das waren halbe Scherze, schienen nur Aeußerungen zu sein, um Frau von Gülpen zu necken oder den alten Windhack mit seinen auf dem Monde entdeckten vorurtheilslosen Sitten und Einrichtungen zu vertheidigen; aber – nun sah sie, ein wie bitterer Ernst ihnen zu Grunde lag –! Der Ernst, daß Benno durch den Einfluß seiner Mutter, durch die Rührung und Liebe für sie, endlich durch die Dankbarkeit für seine Retterin aus ihrem Lebensbuche gestrichen war …

Es bestätigte sich, daß Fürst Ercolano Rucca Attaché in London wurde … Sie schrieb nichts darüber nach Witoborn … Ein klares Gefühl wurde ihr überhaupt nicht mehr zu Theil … Auch nicht in den jeweiligen Anwandelungen des Hasses gerade gegen Benno's Mutter, die von andern Bekanntschaften, die in Paris waren, als eine hochmüthige Frau geschildert wurde … Dem Haß auf den Vater konnte sie ihre Kinder opfern! sagte Armgart, nun den Verhältnissen immer vertrauter und den von der Mutter und vom Dechanten erhaltenen Aufklärungen folgend. Gott hat sie schon in Angiolinens Tod bestraft; sie wird auch noch Benno's Verderben sein! … Cäsar von Montalto! …

In Fieberhast flog Armgart nach Deutschland zurück …[43]

Sie überraschte die Aeltern, die ihr Kommen nicht ahnten … Sie fand die ganze Verwirrung, die sie erwarten durfte – den Vater mit Pistolen bewaffnet … Das Besitzthum verkauft; ein Anerbieten, sich an einer großen Fabrik im Magdeburgischen zu betheiligen, war vom Vater für sich und Hedemann angenommen worden … Sie wollten reisen … Hedemann, ein Schatten gegen sonst, doch in der That von einer wunderbaren Durchgeistigung … Auch die Mutter gab sich seltsam feierlich … Nur der Vater blieb, wie immer, ruhig, natürlich und entschieden …

Die Gründe, warum Armgart so rasch und unvorbereitet aus London kam, lagen insofern auf der Hand, als über die Ausweisung der Flüchtlinge aus Frankreich genug in den Zeitungen gesprochen wurde und Marco Biancchi, Porzia's in London lebender Onkel, von einem Besuch bei Cäsar von Montalto schrieb, dem er vor einigen Jahren den Rath zur schnellen Abreise aus Deutschland verdankte … Doch wurde aus Schonung von alledem nur ausweichend gesprochen … Wie fühlte sie aber diese Schonung! … Wie durchbohrte sie die harmlose Frage der in Eschede der Welt entrückten Angelika Müller nach Benno, als sie der seltsamsten Hochzeit beiwohnte, die je geschlossen wurde, der zwischen Püttmeyer und seiner alten Verehrerin! … Zwei in sich vertrocknete Menschen, die noch alle Stadien der Aufregung, sogar der Eifersucht durchmachten! … Frau von Sicking, Gräfin Münnich, Präsidentin von Wittekind, Benigna von Ubbelohde, alle drangen auf die Ehe Püttmeyer's, die doch erst durch das Erringen des[44] Hegel'schen Lehrstuhls hatte möglich werden sollen; sie erwirkten eine Beförderung des von Pfarrer Huber's harmonicaspielender Tochter bedenklich Begeisterten zum bischöflichen Archivar in Witoborn und die Versetzung Huber's … Wie war Armgart, durch ihren dreijährigen Aufenthalt in London, allen diesen kleinen Anschauungen entrückt … In ihrem Stifte war sie nur einen Tag … Nach Westerhof durfte sie der Mutter wegen auch nur ein einziges mal – … Tante Benigna und Onkel Levinus umschlangen sie voll Inbrunst und hätten jetzt alles darum gegeben, das sonst so viel gescholtene Kind bei sich zu behalten und schon fingen wieder die alten Entführungspläne an … Da entschied der Vater für den Ausweg, daß Armgart, die zwar nicht zu den Deutschkatholiken übertreten, wol aber mit Freuden in die Gegenden der Elbe mitziehen wollte, wohin die Aeltern gingen, die Mühseligkeit dieser Irrfahrten nicht theilen, sondern nach Kocher am Fall zum Onkel Dechanten, zur lange schon kränkelnden »Tante Gülpen«, ziehen sollte …

Armgart erfüllte dies Gebot der Aeltern und zog nach Kocher am Fall …

Hier war sie denn des mit dem freudigsten Willkommen! sie aufnehmenden Dechanten letzte und würdigste »Nichte« … Tante Gülpen hatte sie nicht aus dem Wochenblatt verschrieben, hatte sie nicht auf fremde Empfehlung in die Dechanei geschmuggelt … Sie war in Wahrheit eine nahe Verwandte und gab der immer schroffer gewordenen Beurtheilung gegen den Dechanten keinen Anstoß … Franz von Asselyn erklärte, sich auf seine letzten Lebenstage keiner solchen »Eroberung« mehr gewärtig[45] gewesen zu sein … In dieser holden äußern Anmuth besaß er alles, was seinem Auge, in Armgart's innerm Wesen, was seinem Herzen wohlthat … Da waren einige gute Elemente der Feuernatur Lucindens ohne die verheerenden Folgen derselben; da war die ewig dienende Natur Angelika Müller's ohne deren trockene Regelmäßigkeit … Da hatte er eine der Seelen, von denen er sagte: Die gehen in solche kleine Vögel über, wie sie unter meinem Baum am Fenster nisten! … Von Armgart's Seelenwanderung versprach er sich vorzugsweise den Besuch seines Grabes, von dem er oft und gern sprach … Er war gerüstet, täglich hinabzusteigen … Die Aufregungen der letzten Jahre waren für ihn zu mächtige gewesen … Seine heitere Laune kam schon seltener und währte nicht lange …

Während nun der Oberst unter den mannichfachsten Bedrängnissen in Deutschland umirrte – in Magdeburg lösten sich bald die angeknüpften Verhältnisse – und sich zuletzt, ermüdet durch die gänzlich durch den Protestantismus selbst zerstörte Hoffnung auf eine große geschichtliche Bewegung der Geister, nach der Schweiz begeben hatte, verlebte Armgart noch einige Jahre in Kocher am Fall … Die Eindrücke hier waren nicht immer erhebend … War auch die Verbindung mit allen den ihr werthen und theuren Menschen gerade durch die Dechanei die lebhafteste, so erfolgten doch selten Mittheilungen, die eine wahre Freude verbreiten durften … Die schmerzlichsten von allen betrafen Benno … Sie waren so trüb, daß selbst Thiebold nur einmal nach Kocher kam … Einmal hatte sich Thiebold mit der ganzen Liebe und[46] Hingebung seines Gemüths, wenn auch wie immer als »närrischer Kerl« sich einführend, einige Tage zum Gast der Dechanei gemacht, hatte, »über sich, als Mann, fast schamroth«, die Reife Armgart's, ihre vorgeschrittene Bildung, die Sammlung ihres Charakters bewundert, hatte italienische Anekdoten, Reiseabenteuer erzählt, von Nück berichtet, dem in Italien, andere sagten im Orient Verschollenen, hatte von Schnuphase, der eine Pilgerfahrt zum heiligen Grabe mit Stephan Lengenich und mehreren andern Erleuchteten bezweckte, erzählt – aber die Art, wie er von Benno's italienischer »Nationalisirung«, von den Erlebnissen in Rom, vom gegenwärtigen londoner Wirken und Treiben Benno's als eines »mit Gott und der Welt zerfallenen« Sonderlings und Grillenfängers sprach, überhaupt als von einem Menschen, den man »nach dem allerdings bedauerlichen Ende der Gebrüder Bandiera« gar nicht mehr wiedererkannte – alles das sagte genug, um sein einziges – das dann »etwas deutlich gegebenes« Wort zu verstehen: »Als wir ja damals für immer Abschied nahmen in der westerhofer Kapelle!« … Armgart lächelte zustimmend, sie verstand, was Thiebold mit »für immer« sagen wollte … Thiebold war dann nach dem kocherer Besuch gleich nach London gegangen, wo er oft monatelang verweilte … Von dem Luxus und den Extravaganzen Olympiens konnte sein Bericht nicht genug erzählen … Drei Briefe von Olympien wurden ihm nach Kocher mit einem Carissimo nach dem andern nachgeschickt …

Für Armgart gab es in Kocher Zerstreuungen der in Wehmuth erbangenden Seele an sich genug …[47] Darunter freilich auch die erschütterndsten … Der Onkel wollte noch einmal vor seinem Ende nach seinem geliebten Wien, wohin ihn die Curatverhältnisse des Doms von Sanct-Zeno riefen – da starb an einer Erkältung Windhack … Und als für das alte treue, gelehrte Factotum der Versuch mit einem neuen Diener gemacht werden sollte und der Dechant dabei blieb, reisen zu wollen, kam aus Wien die Nachricht, sein alter würdiger Gastfreund, Chorherr Grödner, wäre dem österreichischen Landesspleen erlegen und hätte sich erhängt … Die Schrecken mehrten sich dem tieferschütterten Greise; Frau von Gülpen that des Nachts, wo sie schon sonst um jedes kleine Geräusch aufstehen konnte und nun nicht mehr den Lolo als Führer hatte und überall ihre Schwester, die Hauptmännin, und ihren Mörder, den Hammaker, sah, und dennoch das nächtliche Rumoren und Wandeln und Pochen an alle Thüren, ob sie auch gut verschlossen wären, nicht lassen konnte, einen unglücklichen Fall – woran sie starb … Und wenige Monate darauf legte sich auch der Dechant und hauchte seine edle Seele in Armgart's Armen aus …

Sein Testament hatte Franz von Asselyn schon lange geändert und sein ansehnliches Vermögen in drei Theile zerlegt, für Bonaventura, Benno und Armgart … Benno, in einem Briefe Thiebold's, und Bonaventura, in directer Zuschrift an Armgart, verzichteten zu ihren Gunsten … Armgart war nun ein vierundzwanzigjähriges wohlhabendes und mit einer auch von Heiligenkreuz sich mehrenden Rente ausgestattetes Stiftsfräulein …

Alle diese erschütternden Vorgänge erlitten diejenigen[48] Unterbrechungen, die das Traurige haben – andere sagen das Gute –, das Leben selbst beim größten Schmerz immer noch erträglich und anziehend zu machen … Die Sonne leuchtete auch so und die Blumen blühten auch so … Für Armgart gesellte sich zu den Zerstreuungen der Dechanei, zu kleinen Reiseausflügen, zu Briefen von nah und fern und zu jenen Fortschritten der innern Bildung, die uns sogar selbst überraschen und erfreuen dürfen, die Steigerung des Interesses, das an ihrer Person genommen wurde … Mancher Offizier mit dem flatternden Husarendolman ritt im Park der Dechanei täglich die Schule, um nur von ihren Fenstern aus beobachtet werden zu können; mancher junge Beamte interessirte sich für die alten Möpse und Papagaien der in Kocher lebenden Honoratioren, um nur auch bei ihren Kaffees zuweilen der interessanten jungen Stiftsdame zu begegnen … Armgart blieb jugendlich wie ihre Mutter, wenn sie »im Geist auch schon eisgraue Haare« hatte und über die Rosenzeit des ersten Mädchenfrühlings hinweg war … Sie gehörte dem Leben an, wo es sich nur regte, nicht um seine Freuden zu genießen, sondern um seine Räthsel zu belauschen und seine Aufgaben zu lösen … Am liebsten wandelte sie mit dem Onkel, wie er in seinen letzten Tagen liebte, über den Friedhof … Schon lange und seit dem Tode Windhack's und der Mutter Gülpen sagte der Onkel nicht mehr: »Der allein richtige Gattungstrieb des Menschen ist der, leben zu wollen; kommt der Tod, so ist er da und es kann ja auch einmal eintreffen, daß gerade unsereins den Beweis führt, daß das Sterbenmüssen seit Jahrtausenden[49] nur ein bloßes Versehen der Aerzte gewesen! Die Wissenschaften machen so außerordentliche Fortschritte!« … Diese Lebensfreudigkeit, sonst auch zu Benno und Bonaventura ausgesprochen, hielt im letzten Jahre nicht mehr Stand … Er liebte die Gräber und las ihre Inschriften … Aus jeder ihrer goldenen Lettern hörte er seine eigene Grabschrift heraus, bestellte sich, wie er die seine haben wollte, und sah im Geist die Leute an einer solchen Stelle eines kleinen Kreuzgangs hinter dem Sanct-Zeno stehen und lesen: »Hier ruht in Gott« – Nun setzte er wol hinzu: »Der alte Narr, der –« … Eine Selbstkritik folgte … Alles das plauderte er im langsamen Gehen und bestellte sich in der Nähe des einst ihn im Kreuzgang deckenden Steines Rosen und Vergißmeinnicht … Armgart erfreute ihn dabei durch Eines – durch jenes gründliche Eingehen auf seinen Tod und sein Begräbniß – eine Tugend, die viel besser wirkt, als ein ewiges Weg- und Ausredenwollen des Sterbens … »Darin kann ich Karl V. ganz verstehen, daß er sich Probe begraben ließ!« sagte sie …

Des Dechanten Hauptbeschäftigungen im letzten Lebensjahr waren seine Briefe mit Cäsar von Montalto und Bonaventura … Armgart erfuhr wenig von ihrem Inhalt – aus den von Italien kommenden nur das, was Paula und Gräfin Erdmuthe betraf … Oft fuhren Onkel und Nichte zusammen nach Sanct-Wolfgang, besuchten das Pfarrhaus, auch das erbrochene, jetzt wohlerhaltene Grab des alten Mevissen … Ja noch ein Studium nahm der Dechant in seinem letzten Lebensjahre vor, die italienische Sprache … Oft sprach er von Bonaventura's Vater[50] und versenkte sich in dessen Entwickelungsgang. Als Paula einmal schrieb, sie lerne provençalisch, die Sprache der Troubadours, rühmte der Dechant seinen »verstorbenen«, im Schnee des Sanct-Bernhard »so elend verkommenen« Bruder, der in seinem immer romantisch gewesenen Jugendsinn auch diese Sprache sich angeeignet hätte vom dritten Bruder Max, dem Offizier, dem Adoptivvater Benno's, der die Kenntniß derselben aus dem südlichen Frankreich und den Pyrenäen mitbrachte … Er las die Minnesänger und vergaß seine Acten! sagte der Dechant träumerisch von seinem Bruder Friedrich … Es war ein Thema, über das er in ein langes, seltsames Schweigen verfallen konnte … Ueber Benno's Ursprung wurde wenig gesprochen … Die Erinnerung an die falsche Trauung im Park von Altenkirchen war dem Greise zu unheimlich …

Kurz vor seinen letzten Stunden raffte der Greis noch den Rest seiner Kraft zusammen und ließ sich über mancherlei in einem langen Briefe an den Erzbischof von Coni aus, den er schon theilweise Armgart dictiren mußte … An gewissen Stellen nahm er selbst die Feder und ließ Armgart nicht lesen, was seine zitternde Hand geschrieben … Er verbreitete sich über alles, was noch in Bonaventura's Leben, nach seinem Wissen, unaufgelöst und zu verklingen übrig blieb … Auch die Losung: Fiat lux in perpetuis! wiederholte sein entschwebender Geist still vor sich hinmurmelnd … Armgart schrieb mit Erstaunen und schon an Irrereden glaubend: Nun würde er diese Worte nicht mehr unter den Eichen von Castellungo, sondern im Vorhof der Seligen hören; sein[51] Huß- und Savonarola-Scheiterhaufen würde die läuternde Flamme des gelösten Weltenräthsels sein! Sollte Bonaventura noch einst, dictirte er, den Eremiten im Silaswalde sehen, so mög' er ihm sagen: Im Leichenhause des großen Sanct-Bernhard hätte auch er eine neue Offenbarung über Gott und die Welt gefunden – – Da besann sich der Greis und stockte … Er ließ sich die Feder in die Hand geben und versuchte selbst weiter zu schreiben … Die Hand versagte den Dienst … Armgart mußte noch den Brief vor seinen Augen verschließen und dann sorgsam siegeln …

Man senkte den Greis unter die kalten Steine des Kreuzganges, pflanzte aber um die Oeffnung des Bogens, der in den Friedhof führte, Rosen und Vergißmeinnicht …

Beda Hunnius, auf dem nun ganz von den Jesuiten eroberten Terrain, auch jenseits der Elbe, wieder zu Ehren gekommen, wurde sein Nachfolger … Zu seinem Kaplan machte sich dieser neue Dechant den in Lüttich erzogenen Schifferknaben von Lindenwerth, den Thuriferar von Drusenheim, Antonius Hilgers … Der Arme hatte die ganze Erziehung und Abrichtung erhalten, wie sie Rom für seine Priester beansprucht … Er war noch ärgerer Zelot als Müllenhoff …

In dem schweren Amt der Bestattung und der Uebernahme der Hinterlassenschaft fand Armgart Beistand und überwand alles voll muthiger Entschlossenheit, noch ehe ihr Vater zu ihrer Hülfe aus der Schweiz herbeigeeilt kam … Armgart hatte ganz Kocher zu Freunden … Ihre Maxime war, bei jedem, der »ihr etwas zu haben schien«, still zu stehen und zu fragen: Ist etwas zwischen uns?[52]  … Das konnte sie selbst dem hämischen Hunnius gegenüber, der mit ihr wie mit jeder »Nichte« der Dechanei gegen deren Bewohner zu conspiriren suchte … Sie erfreute ihn durch ihre Empfänglichkeit für seine geistliche Poesie … Die »Dichterapotheke« von Weihrauch, Myrrhen, Narben, Aloë und ähnlichen Spezereien, die so stark aus seinen Versen »stank«, wie der Onkel sagte, erinnerte sie doch noch immer an die Zeit ihrer ersten Jugend, wo sie den Rosenkranz mit seinen fünf schmerzhaften, fünf freuden- und fünf glorreichen Geheimnissen in alle Himmel ausgebreitet sah, die Sonne als Monstranz und die Seelen als beflügelte Kreuze dem großen Herzen Gottes mit der lodernd über ihm thronenden Flamme zufliegend … Die Zeiten dieser Anschauungen waren freilich auch bei ihr vorüber … Nur hielt sie an ihrer allgemeinen Stimmung fest und die blieb eine gebundene – schon um Paula's willen, die ihr in der Ferne wie eine leuchtende Glorie, ein Ziel der Sehnsucht und heißesten Wünsche verblieb …

Unter den Beileidbezeugenden erschien auch Löb Seligmann … Er war ja so engverbunden der Dechanei, so engverbunden auch den Geheimnissen von Westerhof, von Kloster Himmelpfort und Schloß Neuhof … Seitdem man allgemein wußte, daß Benno von Asselyn der Sproß einer ruchlos geschlossenen Ehe des Kronsyndikus war, hatte endlich auch Löb seine Miene vertraulicher Protection gegen den Dechanten gemildert … Diesem hatte er sich wirklich eines Tages ganz offenbart, als er gerade von Reisen zurückkehrte und auch voll Wehmuth Veilchen Igelsheimer auf den Friedhof[53] hatte tragen helfen … Sein Auge weinte … Die sanfte Zimmerblume war an ihrer stillen Hektik dahin gegangen und hatte den rauhen Nathan von ihrem Husten befreit, den ihre zarte Schonung, sagte Löb, sich nur des Nachts gestattete! Am Tag, da hielt sie jeder unter den lachenden Masken und bunten Schellenkappen für wohlauf und gesund … Bis zum letzten Augenblick hatte Veilchen zum »Carneval des Lebens« gescherzt – und selbst noch im Tode waren ihre langen Locken so schwarz wie in ihrer Jugend geblieben, wo sie in eben diesem Park der Dechanei Spinoza kennen gelernt … Der Dechant, nicht wenig erschreckend über Seligmann's befremdliche Beichte, sagte damals zu ihm: Auch daran trag' ich schuld, daß Leo Perl diese bescheidenen Mädchenträume nicht erfüllte! … Löb, durch und durch »Trauermarsch« aus »Montecchi und Capuletti«, erzählte dem Dechanten mehreremale, in mannichfachen Variationen, was ihn das Schicksal in Schloß Neuhof belauschen ließ … Er gab aber die Bürgschaft seiner Discretion fürs ganze Leben und hatte gleich alles doppelt erzählt, gleich auch für die, vor denen er zu schweigen gelobte … Armgart wurde die besondere Flamme Löb's … Wie oft auch besuchte sie die noch lebende »Hasen-Jette« und hörte dort die Neuigkeiten – über ein seidenes Kleid, das Frau Treudchen Piter Kattendyk schickte, über die in Rom eine Gräfin gewordene »damalige Lucinde Schwarz«, von der auch Veilchen noch oft gesprochen hätte, über die Barone von Fuld, die den Seligmann zuweilen noch in Drusenheim sahen, aber nicht mehr zum »Speisen« einluden, ohnehin, seitdem sie die Rothschilds stürzen wollten; vor allem aber die Entzückungen[54] der glücklichen Mutter über David, ihren Sohn … David Lippschütz war auf die Beine gekommen, hatte Schulen, hatte schon einige Jahre die Universität besucht und war bereits ein berühmter Dichter … David Lippschütz und Percival Zickeles in Wien vertraten vorzugsweise diejenige neueste lyrische Schule, der es »die Loreley angethan« hat … Allerdings kostete diese Liebe zur Nixe des Rheins dem Onkel Seligmann viel Geld … Monat für Monat gingen seine mit einem frommen »Jehova« beschriebenen Zehnthalerscheine (ein bekannter jüdischer Heck-, Vermehrungs- und Verlustabwendungs-Segen) in die Ferne und suchten den David unter nordischen Tannen und südlichen Palmen, tiefunten am Kyffhäuser beim schlummernden Rothbart oder auch »dort oben auf luft'gen Höh'n, wo Adler die Nester sich bau'n«, und ähnlichen halsbrechenden Adressen auf … Dafür war aber auch David Lippschütz mit Percival Zickeles der Träger der neuesten Romantik, blies mächtig des Knaben Wunderhorn in allen Zeitschriften und sorgte dafür, daß dem deutschen Volk seine Nixen, Zwerge, Held Siegfried, sein Ritter Tannhäuser, vor allem aber die Anerkennung solcher Bestrebungen nicht abhanden kam … Ja Beda Hunnius sogar blieb zuweilen auf dem Markt in Kocher am Fall stehen und fragte die ihm begegnende Hasen-Jette: Ja, ist denn das da wirklich euer – es folgte ein intolerantes und liebloses auf Reinlichkeit gehendes Eigenschaftswort – euer David, der jetzt soviel die Nixe belauscht, so ihr Goldhaar strählt mit dem silbernen Kamm? … Die Mutter, allerdings gedenkend, wie ungern ihr David sonst sich kämmen ließ,[55] bestätigte leuchtendes Auges die volle Identität … Die reiche Frau Piter Kattendyk, weiland Treudchen Ley, erzählte sie, hätte den David auch in Wien – Piter, noch im Bruch mit seiner Familie, war meist auf Reisen – »zur Tafel gehabt« … Eine solche Hunnius'sche Anrede wirkte dann unten im Ghetto von Kocher am Fall mit einem spät verklingenden Echo als belohnender Ersatz für all die Summen, die der Onkel auf die Länge nicht mehr ganz mit dem Humor in die grünen Fluten warf, mit dem er sonst beim Rasiren die Barcarole sang: »Werft aus das Netz gar sein und leise« …

Der brave Grützmacher war nach der Gegend von Jüterbogk zurückversetzt worden und wohlbestallter Schleusenmeister an einem jener Kanäle, die Elbe und Oder verbinden … Und Major Schulzendorf hatte das eigenthümliche Loos gezogen, eine große Strafanstalt für sittliche Verwahrlosung zu dirigiren, die zu den Werken der »Innern Mission« gehörte, jener bekannten, hier offen, dort geheim wirkenden Bundesgenossenschaft der Jesuiten … Einer seiner Söhne, der die Rechte studirt hatte, war bereits bis zum Präsidenten eines Regierungsbezirks, als Nachfolger des Herrn von Wittekind-Neuhof, avancirt … Dieser kluge Mann hatte die Gewohnheit gehabt, auf Reisen, selbst an offner Table-d'hôte, vor der Suppe erst die Hände zu falten und zu beten … Diese Gewohnheit wurde in den maßgebenden Kreisen bekannt und so wohl aufgenommen, daß man ihn in seiner Carrière einige Zwischenstufen überspringen ließ …

Oberst Hülleshoven nahm nach des Dechanten Tode seine Tochter mit nach der Schweiz, wo er und Hedemann,[56] soweit letzterer noch konnte, sich in industriellen Unternehmungen zu bewähren suchten und Monika jede Aufforderung ergriff, theilzunehmen an irgendeinem Werk der Gesinnung und der auch den Frauen gestatteten öffentlichen Bewährung … Sie hatten abwechselnd in Basel-Landschaft, dann im Aargau, zuletzt am Genfersee gewohnt … Der Oberst leitete Ingenieurarbeiten für die schweizerische Armee; Hedemann bebaute mit Porzia's Hülfe das Feld; Monika reiste viel; sie hatte zuletzt eine große Vorliebe für Genf und die calvinistischen Anschauungen … Daß sie sich das Denken durch eine immer weiter gehende Vertiefung in Christus vereinfachen zu müssen erklärte, war theils die Rückwirkung Hedemann's, theils der auch jetzt nicht nachlassende Trotz gegen Armgart …

Der unruhige Sinn der Aeltern ging glücklicherweise im gleichen Takt; uneins mit der Welt und der Zeit, waren sie doch einig mit sich … Sie kauften jetzt – in jener Hast, die Monika eigen war – mit Armgart's bedeutendem Gelde sofort eine herrliche Besitzung, die Armgart gehörte, dicht am Genfersee … Es war das Schloß Bex, das einem Patricier Berns gehört hatte – dicht in der Nähe jenes Waldes, wo sich im Jahr 1689 von den aus ihren Thälern in Italien mit Feuer und Schwert vertriebenen Waldensern 900 wieder sammelten und unter Heinrich Arnaud's tapferer Führung jenen Heldenzug über den Genfersee, durch Savoyen hindurch und zurück in ihre heimatlichen Thäler unternahmen, eine Unternehmung, die nach dem Aufgebot zweier Truppencorps Ludwig's XIV. und Victor Amadeus' vollständig vom Siege gekrönt wurde …[57]

Als sie das Schloß bezogen, entdeckte man freilich hundert Fehler und hätte es gern wieder veräußert … Aber Armgart sagte nun: Ihr reißt euch gleich das Bein ab, wenn euch der Schuh drückt! … Sie drang darauf, das Schloß, den Park, die schönen Weinberge mit allem, was daran schadhaft war, zu behalten … Dabei grenzte sie sich ihr Leben eigenthümlich streng von dem der Aeltern ab … Sie hatte ihre eigenen Zimmer, Freitags ihre eigene Mahlzeit, manchen Abend sogar in ihrem Flügel Gesellschaft für sich und die Aeltern eine andere in dem ihrigen … Der Ton war mild, oft innig … Die Aeltern wußten, was im Innern ihres Kindes zu schonen war und woher sie den Anlaß zu ihrem jetzt schon eigenthümlich gehaltenen, allmählich sogar spröden und ablehnenden Wesen nahm … Benno von Asselyn, überall anerkannt als Halbbruder Friedrichs von Wittekind und demgemäß mit Lebensgütern reich gesegnet, verweilte nach wie vor als Cäsar von Montalto in London – bei ihm die Mutter und die Fürstin …

Diese Existenz währte einige Jahre, bis eine unerwartete Wiederbegegnung den schon mächtig hereinzubrechendrohenden Stillstand und Abschluß in Armgart's jungfräulichem Leben unterbrach und überhaupt die Schicksale der ganzen kleinen Colonie wieder in neue Bewegung brachte.

1

Thatsache.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 8, Leipzig 1860, S. 12-58.
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