23.

[319] Mit ihrem Bündelchen und dem erbrochenen Briefe schritt Armgart wie die verstoßene Hagar dahin' …

Sie betrat die Gegend Witoborns, wo sonst das Wasser rauscht, die Räder brausen, die Sägemühlen kreischen, die Mittagszeit alles still gemacht hatte … Die Witobach machte hier eine Biegung, die einen alten Gefängnißthurm, jetzt das Hauptwerk des ganzen Mühlenbetriebs, wie auf einer Insel liegen ließ …

Hier und da wurde der Weg durchkreuzt von alten durchbrochenen Mauern und großen Schuppen …

Hier also wollte der Vater seinen künftigen Wirkungskreis eröffnen, hier eine Erfindung des Satans befördern helfen und Papier machen … Daß doch auch die Gebetbücher und Breviere des Papiers benöthigt waren, gab Armgart schon eine Erkräftigung gegen die strengen Vorwürfe der Frau von Sicking … Aber – welch ein räthselhaftes Wesen allerdings im Papier liegt, sie fühlte es an dem Briefe, der ihr enthüllen konnte, was und wie Terschka ihrer Mutter zu schreiben wagte …[320]

Fernab, schon in der ersten Häuserreihe der Straßen, lag das freundliche Häuschen, wo Hedemann wohnte … Und seit einigen Wochen hatten dort Benno und Thiebold gewohnt, sie, die sie aus ihrem Leben ausgelöscht zu haben glaubte und es doch so wenig konnte wie wieder die heutige Erinnerung zeigte … Es war Mittagszeit … Sie konnten, wenn sie beide noch nicht abgereist waren, eben beim bescheidenen Mahl ihres gastlichen Freundes sein … Wie bewußtlos schritt sie dahin …

Auf einem der schmalen Stege und geländerlosen Brückchen, die hier zu überschreiten waren, begegneten ihr zwei Bekannte …

Der bucklige Stammer und Frau Schmeling, die Hebamme …

Unwillkürlich erschauderte sie trotz des demüthigen Grußes, der von beiden ihr zu Theil wurde … Stammer war im Kirchenbann, auch die Schmeling sollte hineinkommen … Auch von Hedemann hörte man, daß sich zu Ostern, beim allgemeinen Communiongang, sein wahrer Kern enthüllen würde … Die Aeltern Hedemann's waren gleichfalls im Kirchenbann … Ja ihr eigener Vater galt für einen Freigeist, wie die Mutter … Sie irrte wie am Scheidewege zwischen Himmel und Hülle …

Wie lag das Gespräch mit Lucinden auf ihrem Herzen … Was hatte sie an Anschauungen und wilden Lebensmaximen vernommen! … Und sie fühlte ja auch schon lange, daß eine seltsame Musik durch ihre eigene Seele zog, fühlte, daß sie im Vergleich mit ihrer lichtreinen Paula längst in immer unheimlichere Schatten trat … Sie konnte nichts nennen von dem,[321] was sie so bedrückte … Aber ihr erstes Gefühl war, zu sagen: Das ist die Sünde! … Und gerade darin lag ihre Angst, daß in ihr tausend muthige Stimmen riefen: Was Sünde! Gib dich, wie du mußt! … Dies Müssen war ihr dann wie ein Gezogenwerden schon von der Hand des Teufels …

Grinsend sprang der berüchtigte Musikant zur Seite … Auch die Hebamme schien betroffen, sich von dem Stiftsfräulein hier mit Stammer gesehen zu finden … Sie knixte und erbot sich mit schneller Zunge zu einer Auskunft, da Armgart nicht wußte, wie sie aus diesem Labyrinth der kleinen Kanäle der Witobach herauskommen sollte …

Ich wollte zu Hedemann … sagte sie …

Der ist eben im Thurm, mein gnädiges Fräulein! Eben ging er die Treppe hinauf … Da! … Sehen Sie … dort die Thür! …

Stammer deutete zu diesen Worten der Schmeling den kürzern Weg an, auf dem Armgart zu diesem Thurm gelangen konnte …

Alles ringsum blieb still … So viel Worte hätte man hier sonst ohne die lebhafteste Erhebung der Stimme nicht wechseln können …

Der Thurm mußte bewohnt sein … Eine alte Frau stieg von der Außentreppe nieder, in der Hand hielt sie einige Töpfe … Aus einem Verschlage, an dem Armgart still stand, sah eine Ziege hervor und bohrte mit den Hörnern an der Oeffnung … Selbst darüber wurde ihr ängstlich zu Muthe … Vollends aber, als sie die Frau nach Hedemann fragte und an der Antwort sah, daß die Alte taub war …[322]

Armgart stieg nun von selbst einige Stufen höher in die offene Thür …

Von hier wieder abwärts gehend, hatte das alte Mauerwerk im Erdgeschoß eine Küche, in die man hinunterblicken konnte … Auf dem Herd unten lagen verglimmende Kohlen … Eine enge steinerne, abgetretene Treppe führte nach oben hinauf … Sollte sie sie besteigen? … Sie sah sich erst nach einer Klingel um; die Alte folgte ihr schon dicht auf der Ferse und sprach nichts und betrachtete sie nur neugierig …

Da wurde Armgart von oben angerufen und begrüßt …

Es war Hedemann's Stimme; aber sie sah ihn noch nicht … Nur die Füße bemerkte sie … Sie mußte erst durch eine Fallthür den Kopf stecken, bis sie Hedemann von Angesicht sehen konnte …

Fräulein Armgart, Sie sind es –? rief er ihr entgegen und reichte ihr die Hand, sie emporzuziehen …

Hier sind Sie ja wie in einem Gefängniß … sagte sie …

Das war hier auch ehedem so etwas! sagte Hedemann … Der Thurm gehörte zur Vogtei …

Hedemann schien hocherfreut von diesem Besuch und setzte hinzu:

Aber darum ist es hier doch ganz angenehm! Kommen Sie nur näher! …

Hedemann öffnete ein Gemach, das in der That warm und behaglich war. Zwar waren die Fenster kaum größer, als Schießscharten, aber da es ihrer vier waren und sie ganz hoch lagen, erhellten sie den Raum, der mit[323] einem in einem Alkoven befindlichen Bett, einem alten Lehnstuhl, einem Tisch und einigen Stühlen besetzt war … Tassen, Gläser standen auf einer Kommode … Es war das Bild einer kleinbürgerlichen Wohnung …

Um den Fußboden dieses Zimmers selbst zu betreten, mußten dann beide innenwärts noch einige Stufen hinuntersteigen …

Armgart war glücklich, Hedemann hier oben allein sprechen zu können … Sie warf ihren Muff ab, band den Hut auf, lüftete den Mantel und rückte sich dem behaglichen halb eisernen, halb Kachel-Ofen näher, um die Füße zu wärmen …

Hedemann begleitete alle diese Bewegungen mit den Worten:

Nun, das ist gut! Das ist gut! …

Was ist gut, Hedemann? …

Daß Sie nicht in Westerhof bleiben! Heute kommt Ihre Mutter! …

Sie wissen –? … Und der Vater? …

Das ist recht, Sie halten am Vater …

An Vater und Mutter! Wie Sie's immer ja selbst sagten …

Aergert dich aber dein Auge, so reiß es aus! … Mit der Mutter können Sie nicht gehen, ohne den Vater zu kränken …

Ich weiß es … Und wann kommt der Vater? …

Ich denke, jede Stunde … Sie sind ein gutes Kind – In Ihren Jahren gehören Sie dem Vater! …

Ich will zu den Clarissinnen gehen, Hedemann, und dort so lange warten, bis mich beide abholen …[324]

Da würden Sie den Schleier nehmen müssen! Daß beide zusammen kommen, würde lange dauern …

Nun, dann – dann thäte es ja auch so – vor Gott nichts …

Hedemann wallte über dies Wort auf und schien von plötzlichen Gedanken ergriffen …

Haben Sie schon gegessen? fragte er …

Essen und Trinken lehnte Armgart ab …

Kommen Sie hinüber in mein Häuschen … Benno und Herr de Jonge speisen heute nicht bei Tangermanns, sondern gönnen mir die letzte Ehre … Vielleicht überrascht uns zum Nachtisch – der Oberst …

Hedemann! … Ich darf nicht …

Sie bleiben dann auch gleich drüben … Bei Ihrem Vater! … Ja, dessen Schild und Ehrengarde müssen Sie nun werden! …

Sie wissen ja schon von Lindenwerth, wie ich über alles das denke …

Der Vater will keine Versöhnung …

Ich aber will sie …

Läßt sich ein Mann vorschreiben? …

Aber die Mutter …

Umstrickt Sie! Auf Westerhof ist gestern das große Loos gezogen! Die Urkunde hat sich gefunden … Da mag es hoch hergehen … Bleiben Sie getrost bei Ihrem armen gekränkten Vater …

Hedemann –

Sie sind jetzt alt? – Sechszehn Jahre – denk' ich … Warten Sie, ich kann es bis auf die Minute sagen –[325]

Hedemann nahm ein Buch, das unter den Tassen und Gläsern lag und an seinem Einband schon als die Bibel zu erkennen war …

Hier stehen sie alle, die zu meiner Familie gehören! … Auch Sie gehören dazu …

Guter Hedemann! … Aber hier kann ich nicht länger bleiben …

Sie – bleiben hier …

Ich gehe nicht nach Westerhof zurück … Das versprech' ich … Aber ich will ins Kloster …

Ins Kloster! Was da! Sie bleiben bei Ihrem Vater! Da steht auch Buch Sirach: »Bleibe treu dem Freunde in seiner Armuth!« …

Armuth? …

Arm und reich macht Liebe, Ehre, Anerkennung, Gerechtigkeit … Armgart, Sie müssen jetzt zum Vater halten! Sie müssen die Netze der Mutter fliehen! Westerhof sogar, die Tante, den Onkel, alle, die den Obersten lästern … Die Rede Ihrer Mutter wird süß sein, gewiß … Erst aber müssen Sie dem Vater in die Arme fliegen – wie die Tochter Jephtha's, da er die Feinde geschlagen! Sela! … Sechszehn Jahre, drei Monate und sieben Tage sind Sie alt! Da steht's! …

Das kann ich nicht, Hedemann! sprang Armgart jetzt auf … Denn sie erschrak vor der seltsamen Entschiedenheit des Mannes … Wie könnt Ihr mir rathen, so meiner Mutter weh zu thun? …

»Der Mann ist nicht geschaffen um des Weibes willen!« spricht Paulus – sondern – doch wohl umgekehrt …[326]

Hedemann, adieu! Schickt den Vater zu den Clarissinnen! Ich folge ihm nur, wenn er mit der Mutter kommt! …

Der Rath des Herrn bleibt ewiglich! Sela! …

Mit diesen Worten machte Hedemann einen gewaltigen Schritt auf die vier oder fünf Stufen hinauf, die von der Thür in das kleine Gemach hinunterführten …

Was habt Ihr vor? rief Armgart entsetzt und sprang ihm nach …

Und wie Hedemann noch eine Stufe weiter zurückgegangen war, kam ihr die Ahnung, daß er gegen sie etwas im Schilde führte …

Jesus Marie! rief sie … Ich werde – doch – wieder – gehen können –? …

Das hat der Herr gefügt! sprach Hedemann und hielt schon die Thür in der Hand …

Hedemann, was? … Armgart stand schreckgelähmt …

Nicht wie in Lindenwerth sind wir hier … Nicht wieder wie damals in Nacht und Nebel vor Vater und Mutter entflohen …

Hedemann! …

Armgart, die diese Wendung ihres Vertrauens nicht für möglich gedacht hatte, schrie den Namen so laut, daß man sie auf hundert Schritte weit über die Insel hinaus hätte hören müssen …

Aber auch im selben Augenblick griff Hedemann an eine links hängende Klingel und wie der Zusammensturz eines Hauses so brausend begannen sofort die Räder der Mühlen ihre kreisenden Bewegungen, die schrillen Töne der Sägen durchschnitten die Luft, das Wehr,[327] das gestaut gewesen, entsandte seine Donnertöne … Seine eigenen Gedanken begriff man nicht, viel weniger hörte man ein eigenes Wort oder das eines andern …

Wie von einem Taumel überfallen schwankte Armgart zurück und ehe sie sich noch in den schrecklichen Augenblick gefunden und sich mit beiden Händen wie zum Angriff auf Hedemann gerüstet hatte, war dieser verschwunden …

Nun stürzte sie die Stufen hinauf und rüttelte an der Thür … Sie schlug wider sie mit beiden geballten Fäusten … Die Thür war eisenbeschlagen und eisenfest … Sie suchte einen Griff, einen Riegel, um zu rütteln – selbst diese fehlten, die Thür war von innen nur durch einen Schlüssel zu öffnen und dieser war abgezogen … Mit der Behendigkeit eines flüchtigen Wilds sprang sie die Stufen wieder hinunter, riß einen der Stühle an die hoch gelegenen kleinen, kaum einen Fuß breiten Fenster, griff hinauf, um eines, das nach außen vergittert war, zu öffnen – vergebens, von den Fenstern war gerade dies nicht zu öffnen – Sie sprang hinunter, rückte den Tisch an die Wand, kletterte hinauf, suchte ein anderes Fenster zu öffnen … Dies gelang … Sie schrie hinunter ins Freie: Hülfe! Hülfe … Der Ruf verhallte in dem Lärm des Mühlenwerks und des Wehrs ohnmächtig wie das Summen eines Käfers … Kein Haus lag gegenüber, kein Weg führte daher … Sie konnte rufen und rufen und erschöpfte nur die Kraft ihrer Stimme und den letzten Rest des Muthes, den sie dem so rasch ausgeführten Entschluß entgegensetzen konnte …[328]

Schon dachte sie: Es ist ein Scherz von ihm … Er wird wiederkommen …

Aber wenn er mit dem Vater käme? Wenn mein Gelübde – vereitelt wäre! …

Als sie das Fenster der hereinströmenden Kälte wegen zugeworfen hatte, wieder niedergestiegen war, immer von dem betäubenden Geräusch begleitet, sank sie auf den Lehnstuhl nieder und ließ verzweifelnd die Hände zusammengefalten auf ihrem Schoose liegen … Blasser und matter neigte sich ihr Haupt … Der Hut entfiel ihr … Sie lag in Betäubung … Von dem dumpfsten Schmerze der Seele ebenso gefoltert, wie von dem grauenhaften, ihrer Stimmung hohnsprechenden Getöse um sie her …

Das hatte sie nicht für möglich gehalten! Hedemann's Gefangene war sie … Aus seinen Bitten, die ihr noch von den letzten Augenblicken an der Maximinuskapelle im Ohr klangen, waren Befehle geworden … Sie konnte erwarten, daß nur ihr Vater sie hier befreien würde … Jetzt hätte sie aus dem Fenster nach Benno und Thiebold rufen mögen … Was half es … Nichts war von ihrem Ruf zu hören … Ihre Thränen brachen hervor … Sie, die sich selbst gefangen setzen konnte, tagelang, sie konnte es nicht von andern sein … Sie wollte aufspringen, wider die Wände rennen … Ihre Muskeln hatten keine Kraft mehr, ihren Willen auszuführen … Und was sie dann auch that, nichts ging ja helfend an gegen die Gleichmäßigkeit des Rauschens und Rollens und Donnerns um sie her …[329]

Dazu dann endlich noch der Brief, der geöffnete, der vor ihr auf dem Tische lag! …

Sie sah ihn lange mit der innern Ermuthigung an, wenigstens den zu lesen und dadurch in eine vorherrschende, wenn auch schmerzlich zerstreuende Stimmung zu kommen … Jetzt aber überfiel sie plötzlich wieder ein Rettungsgedanke; sie sprang auf und lief an die Klingel, um diese zu ziehen und vielleicht auf einen Augenblick so die Räder zum Stehen zu bringen …

Sie zog so gewaltsam, daß sie den Draht in der Hand behielt …

Die Räder gingen fort und fort und die stürzenden Wellen des Wehrs rauschten und rauschten nach wie vor …

Nun saß sie wie vernichtet und wie ausgelöscht aus dem Leben …

Allmählich entquollen ihr Thränen …

Sie sah sich gestraft für eine Menge Sünden, die wie in langen trauervollen Bildern an ihrem Innern vorüberzogen … Sie sah sich gestraft von Gott selbst … Die Bibel lag vor ihr, ein Buch, das sie wenig kannte, ein Buch, das ihre geliebte Kirche nicht empfiehlt … Hedemann hatte zwischen manche Seite Papierstreifen gelegt, manche Stelle unterstrichen. Epheser 6, 1: »Gehorsam seid, ihr Kinder, euern Aeltern!« … Und wie, wenn sie eine Antwort gesucht hätte auf die Frage der Verzweiflung: Aber hab' ich denn nicht ein Gelübde gethan? so fand sie an einer andern Stelle, 1 Samuelis 15, 22, die Worte unterstrichen: »Gehorsam ist besser, denn Opfer.« …[330]

Aus ihren Träumen weckte sie – nur das rauschende Rad und die Woge …

Ganz allein und vergessen war sie darum nicht … Sie bemerkte eine halbe Stunde später ein näher kommendes Geräusch … Es kam aus dem Ofen, der von außen geheizt wurde …

Legte man noch Holz an? …

Bald bemerkte sie einen vom Ofen herkommenden Speisegeruch …

Sie ging hin und sah in der warmen Röhre ein starkes Brett mit einer Schüssel Suppe, mit Brot, Rindfleisch, Erdäpfeln und Braten … Das war wie hingezaubert … Die Speisen kamen von außen herein … Sie übersah den Ofen, der nur zur Hälfte im Zimmer stand und von der andern Hälfte aus eine Klappe hatte, durch die man einen hier Eingeschlossenen verköstigen konnte, ohne daß man eintrat … Sie sah von ihrem Alkoven aus noch einen kleinen Raum, wo sich sogar Geräthschaften zur Reinlichkeit befanden; selbst einen Verschlag, den sie rasch wieder schloß … Der Thurm war für einen längern Aufenthalt eines hier oben völlig Isolirten eingerichtet …

Gefangen! seufzte sie wieder und stellte die einfachen Geschirre auf den Tisch und untersuchte die Klappe im Ofen, die von ihrer Seite aus sich nicht in Bewegung setzen ließ …

Das wird dir wol vom Abschiedsmahl Benno's und Thiebold's geschickt! … Wenn sie wüßten, für wen diese Reste bestimmt waren! … Hedemann, mein Kerkermeister, wird ihnen kein Wort davon sagen …[331]

Beim Umblick in dem kleinen Raum bemerkte sie immer mehr Dinge, die sowol einem längern Aufenthalt wie zur Befriedigung nächster Bedürfnisse dienen konnten … Auch Wasser stand da, trinkbares … Das Zimmer gehörte ohne Zweifel dann und wann einem der ersten Beistände Hedemann's bei seinem Geschäft; jetzt fanden sich nirgends Spuren eines eben darauf angewiesenen Bewohners …

Sie aß nun einige Löffel von der Suppe und stellte den Rest der Speisen zurück … Später nahm sie ihn doch. Die Natur machte ihre Rechte geltend …

Sie hätte sich schon zu fügen angefangen, wäre sie nur nicht so gefoltert worden von dem Rauschen der Räder … Das war doch, als rollte so ihr eigenes Leben um … Nun, dachte sie, geht Terschka aufs Schloß, die Mutter ist vielleicht schon da, die Geheimnisse dieses Briefes enthüllen sich, dein Liebesopfer verwirft das Schicksal, der Traum der Legenden ist im Leben unmöglich …

Wieder weinte sie … und bald vor Zorn … Sie schwur, das Aeußerste daranzusetzen, ins Freie zu kommen …

Sie untersuchte wieder Thür, Wände, Fenster, den Ofen … Die verbindende Platte war von Eisen … Dann hoffte sie auf den Abend, auf den Stillstand der Räder, auf die Kraft ihrer jugendlichen Stimme …

Nein, die Nacht läßt er dich nicht hier! sagte sie …

In ihrem wilderregten Innern jagte sich Bild auf Bild. Bei allem verweilte sie, bei Lucinde, bei Bonaventura, bei Paula … Zum Bilde Paula's vor ihrer[332] Seele erhob sie die Hände in die Höhe und betete: Schließt sich dein Auge, Freundin, so frage deine Engel, wo ich weile! Man wird mich doch vermissen, man wird mich doch suchen; du wirst sagen, wo sie mich gefangen halten! …

Nun weinte sie um die Verzweiflung derer, die nicht wissen würden, wo sie geblieben …

Wieder blätterte sie in der Bibel … Sie bedurfte dieser Zerstreuung auch deshalb, um des Briefs nicht zu gedenken, der sie magisch anzog … Sie hatte ihn in ihren Hut und auf das Bett gelegt … Noch konnte sie sich nicht entschließen, sich für ihre Sachen der Riegelhaken zu bedienen, die sich rings an den Wänden befanden …

In der Bibel fand sie alle die Geschichten am Urquell wieder, die ihr aus ihrem Jugendunterricht so lieb waren, die Erzählungen des Alten und Neuen Bundes … Und sie forschte nach Aehnlichkeiten ihrer Lage … Sie verweilte bei Joseph's Liebe zu seinem Vater, bei Absalon's wildem Trotz, bei den Söhnen Eli's und deren strafendem Ende …

Glocken hörte sie vor dem Lärm nicht schlagen … Schon kam aber der Abend …

Wenn nun ihr Vater hereintrat, was würde sie ihm sagen! … Die Kraft, ihn zu begrüßen mit dem Wort: Du Grausamer, du hast mich um die Wonne des Heiligsten gebracht! hatte sie nicht mehr und stiller und immer stiller wurd' es in ihr bei dem Gedanken: Hättest du wol das Aeußerste gewagt und Terschka's Arm ergriffen und dich vor den Augen der Mutter für ihn bekannt? …[333] Sie hatte sich ausgemalt, das im entscheidenden Augenblick thun zu wollen, die Angehörigen zu Zeugen seiner Werbung zu machen und die Aeltern so zu überraschen; die Mutter, wenn sie Terschka liebte; den Vater, wenn er davon eine Ahnung hätte …

Ein Licht stand auf der Kommode und ein Feuerzeug …

Es war nur Ein Licht … Es konnte nicht zu lange brennen und sie rechnete darauf, nicht zu schlafen und die Nacht an ihre Befreiung zu gehen und, wenn die Mühlen endlich innehalten würden, ihren Hülferuf zu erneuern …

So verging die Zeit … Sie zündete endlich das Licht an … Es wurde ihr zu gespenstisch einsam, zu schauerlich ringsum … Sie hörte und sah im Geist, wie man auf Westerhof sie suchte, wie man nach dem Stift schickte und wie die Mutter sich in gleicher Lage befinden würde, wie damals, als man sie ebenso in Lindenwerth nicht fand … Sie gedachte der Geistertheorie des Onkels … Sie hätte auf irgendeine Weise, um an sich zu erinnern, auf Westerhof spuken mögen, durch Anklingen an eine Tasse oder ein Aufklinken der Thüre … Sie wußte, man brauchte nur ganz fest und bestimmt an jemand zu denken und davon erschiene man ihm … Sie dachte sich, Paula versinkt in Schlummer, Bonaventura's Berührung bringt sie in den Hochschlaf und sie sagt: Armgart sitzt hinter Schloß und Riegel im witoborner Mühlenthurm! …

In solchen Zuständen läuft es im Menschen hin, wie uns plötzlich eine Maus erschrecken kann im wohnlichsten[334] Zimmer – wie uns eine Katze begegnet im lachendsten Blumenfelde. Sachen fielen ihr ein, lächerliche, als sollte sie wahnsinnig werden; zwei Groschen Schulden, die sie noch an eine Mitpensionärin in Lindenwerth zu bezahlen vergessen hatte; eine wundervolle purpurrothe Schleife, die sie an einem Morgenhäubchen der Frau Fuld auf der Veranda in Drusenheim bewundert hatte; ein Bändchen, das neulich dem Pfarrer Müllenhoff während der Messe am Halse hervorguckte; hundert kleine verworrene Thatsachen blitzten auf wie todt bisher in ihr aufgespeichert und machten Lucindens Theorie wahr, derzufolge im Menschen der Stoff zu tausend Propheten stäke, wenn nur eine Hand da wäre, die die Thore des in ihm versenkten Wissens ohne seinen Willen aufschlösse … Und als sie Benno's und Thiebold's gedachte, stieß sie dumpf die Worte aus: Gott! Gott! Laß mir die Sinne! …

Dann sprach sie ihr Gelübde noch einmal und bat die Gottesmutter, ihr zur Erfüllung desselben beizustehen. Sie wandte sich an die vierzehn Nothhelfer, jedem derselben nach seiner besondern Kraft ihre Bitte um Beistand vortragend. Die Angerufenen standen vor ihr, jeder mit dem Marterwerkzeuge, das ihm die Ehre der Heiligkeit gegeben. So gewohnt war sie die Litanei: O du gnadenreiche Mutter, du heiliger Joseph, du heiliger Michael und ihr andern lieben Engelein und Erzengelein! daß ihr die Bibel, nach der sie griff, wie ein fremdartiges Buch erschien. Sie gab ihr gleichsam nur das einfache Brot, ihr gewohntes Brevier eine viel süßere Kost …[335]

Aus dieser Betrachtung weckte sie wieder ein Gepolter des immer gleich warm bleibenden Ofens …

Jetzt sprang sie rascher hinzu; aber schon war die Bescheerung da … Ein Nachtessen, reicher, als die Tante Abends der Gesundheit für zuträglich hielt … Schon war die Klappe unerbittlich wieder zugezogen …

Wer mag der Rabe sein, der mich nährt? sagte sie, an den Propheten Elias denkend … Die taube Alte? …

Indessen sie aß und nicht ohne Appetit und nicht ohne Besorgniß vor dem Geschirr, das jetzt in der Küche fehlen würde, da sie das vom Mittag noch zurückbehalten hatte, und nicht ohne guten Willen, es selbst zu waschen und in den Ofen zu stellen und dabei rufen zu wollen: Nehmt's lieber mit, ehe ich's zum Fenster hinauswerfe! …

Nach zu reichlichem Nachtessen Pflegte sie einzuschlummern und schon manche der schauerlichen Geschichten des Onkels waren ihr auf Schloß Westerhof dann verloren gegangen. Nur weil die Mühlen noch immer rauschten, dachte sie: Es ist noch früh! Es ist noch nicht einmal Feierabend! …

Aber ihr Licht! Eine Talgkerze, gegen deren Duft sie an sich nichts hatte, da sie wenigstens in Lindenwerth keine andern gebrannt hatte und auch der Onkel oft genug Lichter goß, die aus allerhand Surrogaten neuentdeckt waren und noch viel schlechteren Geruch verbreiteten, als Talg – Ihr Licht war schon zum letzten Drittel niedergebrannt und sie hatte doch noch die lange, lange Nacht vor sich und ihren Plan mit dem lautesten Hülferuf …[336]

Schlafen sollte sie? Schlafen in diesem Bett? … Das wollte ihr nicht einkommen …

Sie deckte doch aber das Bett auf … Dabei mußte sie den Hut wegnehmen, die Kleider – Der Brief fiel auf die Erde und die Einlage glitt aus dem Couvert …

Wie sie sie aufhob, war's wie eine glühende Kohle … Sie sah das Wort: »Freundin«

Das vollends war ein Stich ins Auge … Und doch wagte sie nicht zu lesen …

Sie ordnete die Schüsseln und Teller und stellte sie in den Ofen, der, wie es schien, ihre einzige Verbindung mit der Welt blieb …

Das Bett war sauber und weiß … mindestens so gut, wie ihr Lager in Heiligenkreuz …

Sie versuchte es, sich zu legen … Bald aber stand sie wieder auf … Das Zimmer war zu heiß …

Jetzt gedachte sie den Tisch an einen der Fensterspalte zu rücken. Aber schon ermüdete sie und ahnte, daß sie doch nur zu vergeblichen Versuchen zurückkehrte … Schon ergab sie sich … Die Mühlenräder gingen und gingen … Keine Hand stellte sie … Wen konnte sie rufen? Ost sogar dachte sie, Hedemann käme – in Kettenstrafe, wenn man seine ruchlose That erführe, und da wollte sie denn lieber dulden, schweigen und weinen …

»Freundin!« … Das Wort verließ sie nicht mehr … Sich alle Beziehungen desselben ausmalend, versank sie, unentkleidet auf ihrem Bett ausgestreckt, in Träume und entschlummerte allmählich … Schon hatte sie sich an das Rauschen des Wehrs und der Mühle, an das Sägen, das hirnzerschneidende, gewöhnt … Ihr Einschlummern[337] kam ihr wie ein Ertrinken, aber nicht mehr schmerzhaft vor … Sie träumte von einem großen dunkelblauen Bande, das sie umringelte … War es ein Thier? Eine Schlange? Immer enger und enger wurde das Band, endlich sah sie nichts mehr, als aus blauer Verstrickung hervor einen rosigen jugendlichen Kopf mit lachenden Mienen, mit langen, feuchten, schwarzen Haaren – Das war dann Lucinde, die, wieder freundlich geworden, ihr zunickte wie die Wasserfee …

Sie mußte lange nach Mitternacht zur Ruhe gegangen sein; denn als sie erwachte, war es Heller Morgen …

Die Sonne fiel schon ins Zimmer, ihr Lichtglanz rief sie aus ihrem dunkeln Alkoven …

Die Besinnung auf ihre Lage kam ihr schnell genug … Und das Donnergeräusch um sie her hatte wol nur während ihres Schlafes aufgehört … Schon war wieder die Luft von demselben verwirrenden Geräusch erfüllt, wie gestern …

Schwankend schritt sie aus dem Alkoven hinaus und sah sich in ihrem Gefängnisse um …

Es war ihr, als hätte es gestern Abend anders ausgesehen … Und bald auch bemerkte sie ein neues Licht … Auch frisches Wasser stand auf dem Tisch … Eine ordnende Hand mußte hier schon gewaltet haben, während sie schlief … Nur der Klingeldraht hing zerrissen wie bisher …

Im Ofen fand sie ihr Frühstück …

Sie ergab sich jetzt … Ihre Augen, noch geröthet von den gestrigen Thränen, füllten sich aufs neue[338] mit dem Ausbruch ihres Schmerzes … Sie klagte Hedemann's Grausamkeit nicht mehr an … Sie wollte jetzt dulden … Blinzelnd sah sie auf den zur Seite liegenden Brief, der jedoch keine Spur trug, daß er gelesen war …

Sie machte sich zu schaffen, so gut es ging … Das Zimmer war warm … Die Bibel lud zur Erbauung, zur Zerstreuung ein. Sie las einige Seiten … Dann ging sie an ihre Kleidung, die sie ordnete … Zerknittert und zerdrückt war alles. Sie öffnete ihre Tasche, nahm ihr Nacht-, ihr Nähzeug heraus und sagte:

Diese Nacht wirst du, wenn man dich nicht befreit, dem Bett vertrauen und dich getrost legen! …

Sie gedachte der Märtyrer in Indien, die ja so ein ganzes Leben lang im Kerker schmachteten … Das Brausen der Luft um sie her nahm sie wie bestimmt, ihr das Gehör zu rauben … Auch darüber lächelte sie seufzend … Ein Geist der Ergebung war über sie gekommen …

Den Brief Terschka's wollte sie lesen, wenn sie die Hoffnung baldiger Freiheit gewann … Sie ahnte, daß er ihre Bereitwilligkeit zum Dulden aufregen, ihr ergebenes Martyrium stören würde …

Stundenlang saß sie, das Haupt aufstützend und in grübelndes Sinnen verloren … Sprang sie auch zuweilen auf und rief mit Wildheit: Nein! Nein! Ich will nicht länger! so brach sie sofort wieder zusammen, schlich an die Thür, an der sie still mit den Nägeln kratzte, plötzlich mit den Füßen stieß, allmählich aber schlich sie wieder auf das Sopha zurück und ergab sich … Die Bibel fing an ihr vertraulicher zu werden … Sie vermißte[339] zwar die Gottesmutter in ihr und die Heiligen … Aber sie konnte sich auch an Abraham und die Patriarchen halten …

Kein lebendes Wesen um sie her bemerkte sie, als – einige Fliegen, mit denen sie schon Bekanntschaft machte …

Wie sie gegen Mittag wieder im Ofen rumoren hörte, sprang sie auf und rief Drohungen und Zornausbrüche in die Oeffnung, deren Wand sich wieder geschlossen hatte ...

Niemand hatte geantwortet …

Eine halbe Stunde raste sie umher und konnte sich nicht fassen … Auch die gestrige Mittagsrast der Mühlen fand heute nicht statt …

Ihre Kost war noch besser als gestern … Ihr Wasservorrath reichte bis über die Nacht hinaus … Sie beschloß diese Nacht früher zu Bett zu gehen, damit sie den heimlichen Besucher am Morgen nicht verschliefe, sondern aus dem Bett springend ihn überraschen könnte …

Wenn Shakespeare seinen Menenius sagen läßt, nach Tisch wäre der Mensch dem Mitleid zugänglicher als mit leerem Magen, so stumpfen sich in der That mit zunehmendem Behagen des Körpers die heroischen Entschlüsse ab … Nach ihrer Mahlzeit konnte Armgart dem Verlangen nicht widerstehen … Endlich las sie den Brief Terschka's …

Sie las mit jener Scheu, die bei Oeffnung eines Briefs sich zuvor auf das Gegentheil dessen, was man zu lesen hofft, mit dem ganzen Aufgebot des Entschlusses wappnet, sich dem Schicksal nicht gefangen zu geben …[340]

»Verehrte Freundin!« war das erste Wort …

Doch nicht: »Geliebte Freundin!« sagte sie sich und hielt einen Augenblick inne, um neuen Muth zu schöpfen …

Aber nicht zu lange währte die Hoffnung auf einen Ton, der ihr hätte beweisen können, wie voreilig sie urtheilte, wie überflüssig das Opfer war, das sie bringen wollte …

Zu ihrem Entsetzen las sie:

»Ich begrüße Sie in einem Augenblick wieder, wo ich den Rath der weisesten Männer der Erde, die Hülfe der mächtigsten Gewalthaber anflehen möchte und wo ich nichts, nichts habe, dem ich vertrauen kann, als Ihr edles, starkes Herz! Sie, Sie sind die letzte Rettung meines Lebens! – – Wenn ich mich erinnere, wie mir die gütige Freundschaft der Gräfin Erdmuthe stets so nachsichtig war, wenn ich mich mit Dankbarkeit erinnere, wie oft für mich die Gräfin bei Ihnen und Sie bei der Gräfin gesprochen haben, so schöpf' ich Muth und denke mir, der Zusammenbruch meines Lebens läßt sich noch aufhalten! Ich habe in diesen Tagen Schmerzliches gelitten und furchtbar gekämpft. Bedenken Sie zu den innern Erfahrungen, die ich für meine Person allein machte, noch die Schreckenserlebnisse auf dem Schlosse! Der Brand, der Fund jener Urkunde, die unsern Freund, den Grafen, vollends zum Schattenbilde seines Namens und seiner gesellschaftlichen Würde macht! Ich weiß es, diese Bekenntnisse meiner Verzweiflung werden Ihnen räthselhaft erscheinen. Sie werden sie auf die Veränderung meiner Stellung zu Hugo und zur Gräfin, zu Ihrer mütterlichen[341] Freundin, beziehen – – Aber das, was in mir vorgeht, liegt tiefer, tiefer – Ich muß ein Ende machen mit dem Elend meines Lebens. Der Wechsel der Religion ist ein leichter Schritt für eine starke Seele, die sich ihre eigene Philosophie gebildet hat; aber bei mir würde dieser Schritt mit Folgen verbunden sein, die meine Freiheit, nicht unmöglich mein Leben, wenigstens die Fortdauer meiner gegenwärtigen Lebensstellung bedrohen. Gern will ich untergehen, wenn ich wenigstens eine Hand finde, die mir den Tod versüßt. O nur das eine, eine Glück, einen letzten Preis für den Rest meines Lebens errungen zu haben, wenn es sonst auch in Nacht und Grauen dahinfährt. Ach, ich bin schwach! Ich möchte nicht den Kampf mit dem Geschick zu herbe kämpfen und das vermag ich nur durch Sie! Nur Sie blicken tief in das Menschenherz! Nur Sie können mit Engelzungen reden – reden, wo die irdische Sprache nichts Ueberzeugendes mehr hat. Ein Entschluß muß gefaßt werden … In vierundzwanzig Stunden schon kann für mich alles verloren sein … Deshalb schreib' ich Ihnen! Deshalb fleh' ich fußfällig, gewähren Sie mir heute Abend, wenn ich von Witoborn zurückgekommen bin und Sie den Umständen angemessen auf Westerhof begrüßt habe, eine Stunde der Verständigung. Ich weiß nicht, wo es anders sein kann, als auf Ihren Zimmern. Um zehn Uhr ruht alles im Schlosse. Nehmen Sie mich an! Hören Sie mich! Vielleicht schon am Morgen darauf will ich nach England entfliehen, zu unserer theuern Gräfin, die das Richtige in meiner Sache nur durch Sie allein finden kann! Denken Sie rein von mir, so rein, wie die Blumen sind, die[342] Sie in meinem Namen begrüßen! Ich ahne, daß Ihre holdselige, wunderliebliche Tochter sich wiederum der Umarmung der edelsten Mutter entzieht: aber auch sie wird jetzt Frieden stiften helfen für Ihre Brust und für die meine. Ihre Hand, edelste Frau, wird eine segnende sein. Nur muß ich Sie heute Abend sprechen – muß – muß es! Ihr Urtheil hör' ich über Leben oder Tod – – Terschka.«

Pater Stanislaus hatte diesen Brief zum Theil in jenem seraphischen Ton geschrieben, der der Rhetorik der Jesuiten entspricht. Dennoch lag Wahrheit in ihm. Er wollte mit seinem Stand brechen und unter dem Schutz der Gräfin Erdmuthe, dieser heroischen Bekennerin ihres lutherischen Glaubens, sich vor den Folgen seiner Entlarvung sicher stellen … Monika's Zeugniß wollte er bei der Gräfin für sich haben, wollte sich in den Folgen seiner für den Grafen empfangenen Mission enthüllen, wollte Monika das Räthsel zur Entscheidung vorlegen, wie er im Gegentheil ein Freund des Grafen wurde und seine römischen Aufträge vergaß. Wer konnte wie sie so tief und nach den obwaltenden Umständen alles überblickend ergründen, was zur Entschuldigung seiner Lage und – Lüge dienen konnte? Zuletzt wollte er in der That und Wahrheit seine Liebe für Armgart bekennen … Diese Leidenschaft war so mächtig in ihm, daß sie alle seine Schritte bestimmte … Gerade deshalb, weil diese Leidenschaft ihm Kraft gab, den muthigsten Entschluß seines Lebens auszuführen, hielt er sie fest und während er diese ebenso verzweiflungs- wie hoffnungsvollen Zeilen schrieb, stand nur Armgart vor seinen leuchtenden Augen … Die Liebe,[343] die den Mann auf der Höhe seines Lebens ergreift, die Liebe, von der er ahnt, daß sie die letzte sein wird, die noch erhört werden dürfte, hat eine unwiderstehliche Kraft.

Armgart aber las aus allen diesen Hülferufen nur im Gegentheil – die Liebe zu ihrer Mutter … Jedes Wort dieser glühenden Rede war ihr ein Ausdruck der Zärtlichkeit nur für sie … Für diese Liebe wollte Terschka seinen Glauben ändern und nach England entfliehen … Die Mutter mußte ja dann ein Gleiches thun … Von alledem hatten sich schon dunkle Sagen verbreitet … Schon als man hörte, Monika reiste mit der Gräfin Erdmuthe nach England, war man auf einen solchen Schritt gefaßt … Diese Voraussetzungen des Briefes, wie sicher waren sie … Ein Angenommenwerden auf den Zimmern der Mutter in nächtlicher Stille konnte ihr nur beansprucht erscheinen nach längst vorausgegangener Vertraulichkeit … Der letzte Hinweis des Briefs auf sie selbst war ihr nur der Ausdruck einer matten Rücksicht; in nichts, nichts entsprach er den seit acht Tagen ihr gewidmeten Zärtlichkeiten und Huldigungen – dieses treulosen Verräthers … Das der Dank für das Opfer eines – Lebens! … Hatte sie ihm nicht deutlich genug zu erkennen gegeben – daß sie ihn erhören würde, wenn auch mit blutendem Herzen, wenn er wollte – –? …

Eine purpurne Glut des Zorns und der Scham färbte ihr Angesicht … Sie rannte dahin … Sie starrte den Brief unausgesetzt an und floh wieder wie Nattern seine Buchstaben … Das also ist die aufgedeckte Seele eines Menschen! … Das ist der Abgrund der Wahrheit,[344] den das Lächeln der Lüge, die Blumen des Scherzes verhüllen! … Namenloses Elend aller betrogenen Menschen! … Und du, du Schimpf meines geliebten Vaters! … Ich kann nicht, ich kann nicht erfüllen, was ich wollte! Die Mutter ist für mich verloren! Vergib mir, o Himmel! Vergebt mir alle! Vergib mir auch du, Hedemann! Ich will dulden! Will hier bleiben als deine Gefangene! Schwände das Licht des Tages doch ganz und säh' ich nichts mehr, als Nacht und Dunkel, sowie das Kind im Mutterleibe –! …

Ein solches Bild zu wählen, war ihr nicht anstößig … Natürlichkeit und ihre Wahrheit gingen ihr über alles …

So beugte sie das Haupt auf ihre weißen Händchen, die sie aufstützte. Sie dankte, niederblickend, dem Himmel für die Lage, in der sie sich befand, dankte für das Brausen, das in ihr betäubtes Ohr drang … So war es ja schön! … So auch hätte sie jetzt untergehen mögen! … O, diese Welt ist zu schlecht! – Ihrem Vater hätte sie auf dem Schoose sitzen mögen, den allein liebkosen mit allen verborgenen Zärtlichkeiten ihres Herzens und diese Zärtlichkeiten selbst dann wieder beweinen …

Nichts aber geschah zur Veränderung ihrer Lage … Sie blieb verurtheilt, auch diesen Tag, auch die Nacht so hinzuleben … Sie konnte ihren ersten Entschluß nicht ausführen, konnte nicht zeitiger zur Ruhe gehen … Immer nur saß sie und dachte: So wandelt euere Wege hin! So seid Lügner! So leugnet nur Gott und die Treue! So brecht euere Eide, enthüllt euere Sünden und schmückt euch noch sogar mit ihnen![345] Herr, laß mich nicht sitzen, da die Spötter sitzen! … Wie erquickten sie die Psalmen! … Die Bibel wurde ihr ein Trost … Jedes ihrer Worte paßte nun auch auf sie …

Spät ging sie zur Ruhe … Da ihr ganzes Sein Schmerz und Ergebung geworden war, schlief sie jetzt still und fest und träumte nichts Erschreckendes …

Am Morgen hatte sie doch richtig wieder den Besuch verschlafen …

Gewiß war es die taube Alte, die indessen im Zimmer gewesen und aufgeräumt hatte …

Armgart sah sich um und fand es so friedlich und wohnlich um sie her – ganz so, wie sie sich einen Aufenthalt im Kloster gedacht … Das Zimmer war warm, ihr Frühstück fehlte nicht im Ofen, auf dem Tisch stand das frische Wasser, auch ein neues und ein besseres Licht – Zeichen einer noch vorauszusehenden längern Gefangenschaft … Sie sah sich um, setzte sich dann und malte sich aus, was alles in ihrer nun schon dreitägigen Abwesenheit von Westerhof geschehen sein könnte … Terschka sah sie mit ihrer Mutter doch auch ohne den Brief – heimlich und zärtlich verbunden …

Da konnte sie eines nicht fassen, was ihr heute Morgen besonders neu und wohlthuend war … Sie blickte um sich … Es war etwas vorhanden, was gestern fehlte. Was nur mochte es sein? … Blumen? Die dufteten nicht … Musik? … Jetzt erst bemerkte sie, daß es ja ganz still um sie her war … So in sich verloren, so an ihre Lage gewöhnt war sie schon … Die Mühlen standen ja, die Wasser rauschten ja nicht,[346] die Sägen schwiegen … Was ist das? erhob sie sich von ihrem Frühstück … Das ist der Himmel! Die Musik liegt in der ewigen Stille nach dem Geräusch des Lebens! … Unwillkürlich mußte sie die Hände falten …

Vorgestern und noch gestern hätte sie dies plötzliche Schweigen um sie her benutzt zu ihrer Befreiung … Heute, wo sie endlich wieder auch die Glocken hörte, riß sie nichts ans Fenster, drängte sie nichts dazu, um Hülfe zu rufen … Ja selbst das Läuten des Münsters und der Jesuitenthurmglocke und der Dominicanerkirche – all diese Glocken konnte sie seit frühster Kindheit unterscheiden – alle diese Zungen der Luft redeten die Sprache ihres Innern nicht … Sie sah in die Bibel und fand, daß dort die Psalmen und die Propheten andre Worte sprachen, als die sie jetzt sogar im Münster hätte hören können …

Zum Fenster stieg sie hinauf, nur um doch etwas von der Außenwelt zu sehen … Es war ein bedeckter Frühlingsmorgen, Nebel verhüllten die schon hoch stehende Sonne, Schnee und Eis waren geschmolzen … Sie öffnete, um die frische verheißungsreiche Luft einzuathmen … Sie sah Menschen vorübergehen … Niemand blickte zu den kleinen Schießscharten des Thurms empor … Auch waren die Wände so dick, daß ein hinter den kleinen Scheiben befindliches Antlitz nicht gesehen werden konnte … Und rufen, Hülferufen war Armgart's Bedürfniß nicht mehr …

Ruhig stieg sie von Tisch und Stuhl hinunter und ordnete ihre Kleidung, flocht ihr Haar, schmückte sich so einfach, wie sie seit Jahren gewohnt war …[347]

Die Mühlen standen immer noch still und schon berechnete sie, ob heute ein Feiertag war … Die Fastnachtszeit war da … In wenig Tagen war Aschermittwoch … Heute begann zu Sanct-Libori die vierzigstündige Anbetung des allerheiligsten Sakraments … Die Bilder aller Altäre der katholischen Christenheit sah sie jetzt, wie immer zur Fastenzeit, verhüllt werden, nur das Kreuz des Erlösers offen bleiben, um wenigstens für die Passionszeit allein auf diesen die Aufmerksamkeit zu lenken … Alledem suchte sie in ihrer Bibel nachzuleben, soweit es noch zutraf …

Gegen elf Uhr hörte sie ein näher kommendes Geräusch … Nicht vom Ofen kam es, sondern von der Thür her …

Sie hob ihr Dulderhaupt und sah ruhig auf die Thür, durch die ohne Zweifel Hedemann eintrat … Sie wollte ihm nichts Zorniges sagen, obgleich sie im ersten Augenblick eine auflodernde Wallung nicht unterdrücken konnte … Hülfebringende müssen doch wol eiliger kommen! berechnete sie …

Draußen ging ein Schlüssel … Die Thür öffnete sich …

Armgart hatte sich nicht erhoben … Ruhig den Kopf auf die Hand stützend und nur von ihrem Buch aufsehend saß sie da …

Aber unwillkürlich mußte sie sich jetzt erheben …

Hedemann kam nicht allein … Er ließ einen Herrn und eine Dame vor sich eintreten …

Die Besuchenden waren ein Paar … Sie kamen Arm in Arm … Die Dame war nicht groß, das[348] Antlitz von einem schwarzen Schleier bedeckt … Der Herr erschien stattlich, frischen und gebräunten Antlitzes, den Kopf mit einer dunkeln Tuchmütze bedeckt, die ein rund gehender goldener Streifen zierte …

Hedemann sprach nichts … Die Besuchenden blieben oben an der Thür stehen und blickten auf Armgart und die Stufen hinunter …

Armgart überfiel eine seltsame Regung … Ihr Herz schien eine Weile zu stocken … Ein Zittern ergriff sie, als sie einen Schritt weiter wollte und den so lange auf sie Niederblickenden entgegengehen …

Die beiden Fremden blieben oben und sahen nur stumm ins Zimmer hinunter …

Der Herr mit der Mütze hatte einen schwarzen Ueberwurf um, ein buntes Tuch noch fast jugendlich um den Hals geschlungen – einen weißen aufrecht stehenden Halskragen – Fast hatte er etwas vom Onkel Levinus –

Da schlug die Dame den Schleier zurück … Lange silbergraue Locken quollen unter dem dunkeln Sammethute hervor … In den Augen der stummen, jugendlich schönen Frau, in den Augen des stummen Mannes blinkte ein feuchter Glanz wie Thränen …

Armgart bebte … ermannte sich … glaubte … zweifelte … Endlich stürzte sie mit einem ausbrechenden Schrei auf beide schon die Stufen Herabkommenden und lag zunächst doch nur – in den Armen der Mutter …

Während aber auch Ulrich von Hülleshoven sein Kind an sich zog und in Armgart's Auge zu blicken suchte, lag Armgart's Hand in der linken Hand Monika's und[349] Monika's Rechte – hielt die edle, würdige Gestalt des Gatten umschlungen …

Die Rührung dieser drei Herzen war unaussprechlich und auch Hedemann, der den Empfindungen als Dolmetscher dienen mußte, konnte nicht damit vorwärts kommen …

Jetzt riß Monika ihr Kind fast wie eifersüchtig und wie gekränkt ganz an ihr Herz … Armgart – noch tief mistrauend, und doch wie von himmlischem Lichtglanz geblendet, wagte nicht zu ihr aufzuschauen und wandte sich mehr und mehr zum Vater, aus dessen hellen blauen Augen eine so selige Welt der höchsten Himmelsreinheit sie anschien … Ulrich drängte sie der Mutter zu und sprach in einem vor Rührung leisen, sonst männlich festen, wohllautenden Tone:

Das ist ein Sieg nach langem Kampf! O Gott, o Gott! Was sind deine Menschenherzen verkehrt! …

Armgart, ihre Aeltern sprechen hörend, sank in die Kniee. Sie umschlang die Kniee des Vaters und reichte der Mutter mit krampfhaftem Zittern die Hand … Dann blickte sie wieder zu ihnen beiden empor und sog ihre Bilder auf mit ihren braunen, schwärmerisch irrenden Augen … Und wieder den Aeltern mußte es sein, als sähen sie hinunter in einen See, über dem Rosen und Lilien schimmerten – in die tiefsten Tiefen dessen, was auf Erden und im Himmel schön und gut ist – und wie in ihre eigene Jugend …

»Selig, selig«, sprach Hedemann und faltete über seiner – grauen Müllermütze die Hände, »bist du,[350] die du geglaubest hast! Denn es wird vollendet werden, was dir gesagt ist von dem Herrn!« …

»Und Maria sprach:« fuhr Armgart fast tonlos in den Worten des englischen Grußes fort, »Meine Seele erhebet den Herrn!« …

Noch einmal traten Pausen ein, deren die vom höchsten Glück erschütterten Herzen bedurften …

Dann folgten Verständigungen und diesen die Entschuldigungen Hedemann's … Monika sah in der alten von Hedemann ihr dargereichten Bibel die Stunde der Geburt Armgart's verzeichnet und gab dann dem Gatten dies Blatt … Dieser warf darauf einen mild überrascht und schmerzlich lächelnden Blick und zog voll vergebender Inbrunst Monika an sein Herz … Der Oberst schien ein Mann, der mit dem Sturm der Jugend nicht die sanfte zärtliche Empfindung schon verloren hatte; alles, was er sprach, war eigenthümlich gemessen und bedacht, aber jugendlich innig und wohlthuend … Monika staunte nur und strich wie in unbewußtem Träumen ihre grauen Locken …

Wo wir uns wiedergefunden haben? sprach der Oberst … Bei unserm Kinde! Bei deiner Liebe! Deiner – nun wandte er sich doch zu seinem Weibe – deiner vergebenden Liebe, Monika! …

Beim Geist und bei der Wahrheit! sprach Monika mit leuchtenden Augen, zeigte auf die Bibel und stand neben der aufhorchenden, immer noch scheu vor ihr niederblickenden, immer noch zweifelnden Armgart wie eine ältere Schwester, so jung, so schön noch und keinesweges nur durch ihre leuchtende Verklärung …[351]

Hedemann sprach vom Kampf der Gerechten und Armgart begriff noch immer nicht, was die Aeltern so plötzlich verbunden hätte? … Sie fragte dies auch leise …

Monika sprach:

Dein Opfer hat uns verbunden, Kind! … Kind – meiner Schmerzen! … Deine Gefangenschaft! Hier dieser Thurm! Ist es nicht so? Hedemann! Wie dank' ich Ihnen! …

Auch Ulrich wollte Hedemann danken, umschlang aber nur die Sprecherin und umschlang sie mit jener männlichen Würde, die den Ausbruch der noch jugendlich regsamen Leidenschaft milderte …

Sie soll noch alles hören! sprach er. Nun aber kommt! Laßt uns im Triumph nach Westerhof fahren und zeigen, was wir mitbringen können! Nun, nun zieh' ich ein! … Anders wär' ich dorthin nicht gegangen …

Nicht blos Armgart, sagte Hedemann; sondern sich selbst bringen Sie beide mit …

Monika's Ja! war so einfach, aber sie konnte nichts besseres sagen, als Ja! und reichte dem Gatten die Hand …

Noch schien die Aussöhnung das Werk einer vor wenigen Minuten erst gekommenen Verständigung zu sein … Monika schwankte noch dahin wie ein vom Wind bewegtes Rohr … Kind und Gatten hatte sie in Einem Moment gefunden …

Wen nur nehmen wir noch mit? rief der Oberst. Benno ist fort; mein »Geretteter«, Thiebold de Jonge, mit ihm – Selbst die schwarze Hexe, mit der du von Westerhof entflohst, Schwarmkind, ist nicht mehr da … Der Domherr ist im Amte … Ja, gestern[352] noch suchte mich ein Herr von Terschka auf, der heute wiederkommen wollte … Er wohnt auf dem Schlosse … Wer begleitet uns im Triumph? Ganz Witoborn? …

Armgart zuckte auf den Namen Terschka's zusammen und blickte zur Mutter hinüber, die sorglos und nur voll Wehmuth stand … Offenbar gab das Herz des Kindes dem Vater den Vorzug … Das sah Monika … Sie sah es jetzt wieder an dem sonderbar scheuen und prüfenden Blick Armgart's …

Terschka suchte dich wie einen verlorenen Edelstein! fuhr der Vater harmlos fort … Und das bist du ja auch … Ihm verdanken wir eigentlich Alles – Nicht wahr, Monika? …

Armgart hörte und hörte … Durch Hedemann reisefertig gemacht ging sie schon wie eine Führerin voraus … Eros, der Griechengott, wie mit der Fackel voranleuchtend …

Monika rühmte im Nachfolgen Terschka's Gefälligkeit … Der Vater war ganz erfüllt von dem böhmischen Rittmeister … Fast schien es, als hätte bei ihm Terschka um Armgart geworben … Klar blickte sie über nichts und sah sich nur immer nach einem störenden Schatten zwischen ihnen allen um, zerpreßte den Brief, den sie auf der Brust verborgen trug, und deutete und deutete noch dies und das nach dem Lügengeist, den sie gestern als den Beherrscher des Lebens erkannt haben wollte … Wie ist das nur? sprach sie vor sich hin und zog Vater und Mutter sich nach in die freie Gotteswelt …

Jetzt begannen auch wieder die Mühlen, die Wasser[353] rauschten … Man stieg über die Schwelle des Thurms … Die taube Alte sah ihnen verwundert und schelmisch lachend nach … Unten standen Gesellen und Bursche und zogen die Mützen und weiter und weiter ging's … Durch die Bächlein, über die Brücken … Zu sprechen war hier nichts, nur zu sehen, nur der Druck der Hand zu fühlen …

Der Thurm da hat euch verbunden? hauchte Armgart, als sie an den Wällen ankamen, wo unter der Allee ein Wagen auf sie wartete, ein Kutscher von Westerhof in den Dorste'schen Farben … Sie schüttelte den Kopf und ihre lieblichen beiden Zähne blinkten …

Die Seele des Thurms! sprach der Vater …

Die Mühlen! Die Mühlen! lachte Hedemann und bat Armgart um Vergebung …

Er selbst konnte nicht weiter dann folgen …

So stiegen die Aeltern und Armgart allein ein …

Im Wagen sah Armgart, daß das Band ihrer Aeltern in der That jetzt eben erst neugeschlossen war … Das Auge des Vaters ruhte mit gleicher Wonne auf der Mutter, wie auf ihr … Das Auge der Mutter war umflorter, als das seinige … So dachte sie sich Braut- und Bräutigamswonne beim Heimfahren von der Kirche …

Du begreifst es noch nicht recht? sprach der Vater … Und so ganz licht und hell ist auch die Zukunft noch nicht, mein Kind! … Die Zeit der Kämpfe – beginnt erst … Da aber, als ich mich nach einem Beistand dafür umsah, da gerade fand ich die besten Bundsgenossen … Weib und Kind …[354]

Monika blinkte ihm zu auf Armgart's Staunen:

Sie lebt und schwärmt wie Paula! …

Das war so ein erster Zug von dem, was Armgart als das Wesen ihrer Mutter kannte … Armgart verstand nicht ganz, was die Mutter meinte, ahnte aber die Gedankenwelt, die Vater und Mutter hegten und die sie verband. Da es die nicht war, die sie theilte, so verließ sie ein Zagen nicht … Aber sie verurtheilte Niemanden … Sie grübelte, was die Aeltern so recht, recht einen mochte und – wie die Mutter – mit Terschka stand …

Da sie fürchtete, durch ihr Schweigen kalt zu erscheinen, sagte sie zum Vater:

Du warst noch nicht – auf – Westerhof? …

Der Oberst schüttelte sein jetzt ernster werdendes Haupt …

Nein! sprach er. Nur so konnt' ich ja dort ankommen! Wenn die Mutter dort war – – konnt' ich nur kommen mit unserm Kinde …

So seinen Worten gleich die mildere Deutung gebend, blickte er träumerisch und sich auf die Vergangenheit besinnend in die Ferne … Das da ist Sanct-Libori? sagte er …

Die Mutter war bereits heimischer … Es war der dritte Tag schon, den sie in Westerhof zubrachte … In bangen Aengsten … Das glaubte Armgart wohl … Aber räthselhaft, wie sorglos sie von Terschka sprach … Noch räthselhafter für Armgart, wie ihn der Vater so rühmen konnte …

Herr von Terschka mußte gestern plötzlich zum Bischof![355] sagte der Vater. Er wollte doch heute in der Frühe wiederkommen … Ja, wir glaubten erst, du wärst bei den Clarissinnen! Terschka wollte es behaupten und sagte, sie verbärgen dich dort … Hedemann gestand noch nichts …

Erst heute früh gestand er's, Kind …

Als du kamst? … fragte sie …

Ja, Armgart, als ich – Ich kam zuerst … Zum Vater … Sieh mir ins Auge, Seelenkind! …

Armgart hielt die Hände beider Aeltern und sah dabei noch immer nach rechts und nach links …

Wann sagte es denn Hedemann? – stammelte sie, ungewiß noch über alles und mit liebenden Augen die Kälte ihres Fragens mildernd …

Wo du warst? fiel der Vater ein. Da sagte er es, als er sah, daß du in unsern Herzen wohnst! Liebes Kind! Deine Mutter brachte mir durch ihr Anklopfen an meine Thür Lebensmuth, Stolz, Erhebung … Sie hörte, daß sie mich so heftig in Westerhof anklagten … Sie hörte von meinen Absichten aus Witoborn … Sie war überrascht davon und vertheidigte meine Auffassungen der Zeit und des Berufs und meine Denkweise … Sie hatte sich meiner Person entwöhnt und machte plötzlich einen ganz andern Menschen aus mir, als ich bin … ja sie hatte sich – sollte man's glauben – in meinen schlimmen Ruf verliebt …

Ulrich! fiel die Mutter ein … Sie ist zu jung, um zu verstehen was über alles, alles im Leben geht und warum es heißt: »Im Anfang war das Wort!«

Armgart widersprach nicht … In ihrer Seele[356] klangen die Evangelien und die Stimmen aus der Bibel nach …

Sie begriff – wenn auch mit tiefem Bangen – daß die Aeltern sich durch die Verwandtschaft ihres Denkens, durch die gleiche Richtung des Willens, durch den Muth ihrer Ueberzeugungen wiedergefunden hatten …

Doch ließen beide ihr den Ruhm, daß sie, sie allein die letzte Entscheidung gegeben … Monika war ja in der That zum Obersten mit den Worten eingetreten: Suchen wir doch zusammen unser verlornes Kind! …

Da Armgart so oft schwieg, so tief versunken blieb in ihre stille Welt des Glücks und des noch immer nicht recht befestigten Glaubens an dies Glück, so hielten sie allmählich die Aeltern für weniger geistesreif, als sie ihnen geschildert worden. Sie beruhigten sich leicht darüber und sprachen mit ihr von der Gegend, vom Brand, von Paula, von der Erbschaft, von den Bewohnern des Schlosses Westerhof, von Bonaventura von Asselyn, der, wie Monika sagte, für den aufs Neue erkrankten Pfarrer die kirchlichen Handlungen verrichten helfe und schon für die nächsten Tage nach der Residenz des Kirchenfürsten zurückgerufen wäre … Armgart gab klug und verständig ihre Erläuterungen und schon erfreute sie die Aeltern durch kleine Anflüge ihres Humors … Harmlos ergingen sich die Aeltern in ihren Urtheilen über die Zeit und die Welt … Was die Mutter von Paula berichtete, waren Zweifel an ihrer Seherkraft. Doch sie wurden milde vorgetragen und verriethen vor Armgart's Freundin Achtung. Die Mutter hatte nicht, wie Lucinde, Freude an ihren Verneinungen …[357]

Das Erstaunen, die Ueberraschung, der Triumph, der die drei Ankömmlinge dann auf dem Schlosse empfing, waren unverstellt und bei Allen schon um Armgart's, des wiedergefundenen Flüchtlings willen, der allerfreudigste …

Benigna, die um Armgart's Schicksal, um Monika's plötzliche Parteinahme für ihren Gatten in heftigster Erregung zurückgeblieben war, vergoß Thränen, unaufhaltsam … Onkel Levinus setzte sich die englische Militärmütze mit den goldenen Tressen auf und vergaß alle Anklagen über Standesetikette und Standesrücksichten, die Monika schon beinahe gestern von dannen getrieben hatten … Auch wol jetzt noch spottete er über den Papiermüller, maß sich aber doch mit ihm an der Thür, wo sie einst vor dreißig Jahren sich in ihrem Wuchse gemessen hatten und richtig den Strich noch fanden – nur daß Levinus damals der größere, jetzt der kleinere war und Ulrich rief: Gewachsen bin ich doch wahrhaftig nicht! … Nun dann bin Ich – zusammengekrochen! gestand Levinus und lachte nun Paula entgegen, die die wiederentdeckte Armgart an ihr Herz zog und vor Ulrich, Armgart's vielbesprochenem Vater, in Verlegenheit stand wie mit Rosen überhaucht …

Terschka fehlte noch, wurde jedoch erwartet … Auch Bonaventura, der noch in Sanct-Libori oder im Stift war …

Verständigungen, Aufklärungen folgten … Die Tante ging sogar auf einige Ketzergrundsätze ein … Sie verwies als einen sträflichen Aberglauben die Abhängigkeit, in die man sich von unüberlegt ausgesprochenen »Gelübden« setzte … Ja sie erzählte sogar, als Terschka[358] und Bonaventura immer noch nicht kamen, mit leisem Kichern eine Geschichte von Müllenhoff's neuer Krankheit … Sie wurde nur halblaut vorgetragen, drang aber doch zu Armgart's Ohr … Nachdem hintereinander erst ein Püppchen, dann ein Kätzchen an des Pfarrers Hausthür wäre ausgesetzt gewesen, hätte man gestern in der Frühe ein wirkliches – lebendiges – neugebornes Kind, einen pausbacknen Jungen, hellschreiend in einem Korb gefunden … Was von Urtheilen daran angeknüpft wurde, entging Armgart … Sie war in der Stimmung eines Kinds am Weihnachtsabend, wenn die Bescherung längst da ist und der glücklich trunkene Blick noch immer irrt und irrt und erst noch das Oeffnen der lichterhellten Zimmer zu erwarten scheint … Sie machte sich Vorwürfe über ihre der Mutter bewiesene Kälte …

Wie beherrschte aber auch Monika schon alles durch ihren Geist, durch ihre Ruhe, ihre – Aehnlichkeit mit der Tante und doch so ganz ihr Anderssein! …

Terschka blieb aus … Und wenn er kam, was dann – was dann? – dachte Armgart … Ja, ihr Opfer schien ihr in der That nicht vollzogen, das Band, das die Aeltern einigte, nicht fest genug – Nach solchem Briefe! Solcher Sprache! … Kam Terschka, sie fühlte, daß sie dann noch, Gott zu Ehren, von einem Felsen springen mußte … Sie hätte ihn begrüßt – als den Erwählten ihres Herzens … Monika stand mit Rührung über Armgart's stetes Zurückgezogensein von ihr … Oft auch mit dem Gedanken: Sie ist noch Kind; sie bleibt, so schön und hold sie ist, hinter der Erwartung zurück, die man mir von ihr gemacht hatte[359]  … Ein trunkenes, blindes Verlorensein des Muttergefühls in dem wiedergefundenen Schatz ihrer Sehnsucht lag nicht in ihrer Natur, die auch eben deshalb von Paula prüfend genug beobachtet wurde …

Immer hieß es dabei: Wo bleibt der Domherr? Wo Terschka? …

Wurde Terschka's Name genannt, so richtete sich Armgart auf, um ihm sogleich mit geschlossenen Augen und wie mit zum Todesstoß dargereichter Brust entgegenzugehen …

Monika blieb ruhig, befriedigt, glücklich … Der Domherr hatte sie gestern und vorgestern vollkommen so harmlos begrüßt, als kannte er sie nicht … Er hatte so viel natürliche Sorge um das Auffinden Armgart's und die Aussöhnung mit dein Obersten verrathen … Ihre Philosophie, die die Reue bestritt, kannte kein Reuegefühl über ihr »maßloses Sichgehenlassen« im Beichtstuhl damals, als sie von einer »zweiten Liebe« gesprochen, nur um die Ehegesetze der katholischen Kirche anzugreifen …

Paula bildete auch jetzt noch, wie immer, unter den Anwesenden den Mittelpunkt, so wenig sie diese Ehre suchte … Monika fragte forschend ihre Schwester:

Warum ist sie – nur so unruhig? …

Monika hätte eine Offenbarung ihres geheimnißvollen Traumlebens wünschen mögen …

Benigna misverstand die Frage. Sie glaubte, Monika meinte Armgart … Diese stand am Fenster und wartete auf Terschka und wie auf ihr Todesurtheil … Sie wollte ihn so empfangen, daß alle sagen mußten: Das ist ein Paar …[360]

Benigna aber hatte, um schon wieder zanken zu können, mit dem Essen zu thun, zu dem schon gerufen wurde …

Man ging zu Tische …

Schon saßen alle, da rollte ein Wagen vor …

Wol Terschka? rief der das Hundertste ins Tausendste redende und nun auch schon Papier machende Onkel …

Armgart griff an ihr Herz … Ihr Vater beobachtete sie … Auch die Mutter …

Ein Diener wollte eben sagen: Herr von Terschka hat hinterlassen – da meldete man den Domherrn …

Paula erglühte …

Und Monika bekam Ahnungen von Bonaventura als dem »Bruder Gottfried« der neuen Hildegard … Paula's Sehergabe hatte in diesen drei Tagen, wo der Domherr wenig auf dem Schlosse war, geschwiegen …

Endlich erschien Bonaventura … Ernst und milde, wie immer … Er grüßte die Neuverbundenen. Er wußte schon alles von Hedemann … Von Witoborn kam er, wo er Armgart hatte suchen helfen und den Obersten begrüßen wollen … Er beglückwünschte, mehr mit dem Auge, als mit den Lippen, forschte den Obersten nach dem Dechanten aus, verrieth der Frau in Silberlocken nichts, daß er all ihr Herzensleben aus dem Beichtstuhl kannte … Mit Armgart sprach er sogar scherzhaft und drohend … Aber bei alledem blickte er voll Trauer …

Reisen Sie wirklich schon morgen? fragte der Oberst bedauernd …

Bonaventura bestätigte seine Abreise, sprach von einem Auftrag nach Wien – von einer Erhebung sogar zum Domkapitular …[361]

Man beglückwünschte voll Ueberraschung …

Paula senkte die Augen …

Monika's Art war kein kleinliches Forschen; doch bemerkte sie die Gleichzeitigkeit des trauernden Ja und jener gesenkten Augen …

Wie viel Gründe hatte nicht Bonaventura für seine Trauer … Wie liebevoll und beziehungsreich sprach er von Benno und vom Dechanten …

Als man wiederholt nach Terschka spähte, überraschte er alle mit dem Plötzlichen Worte:

Terschka? … Sie wissen – also – noch nicht? …

Die fragenden Blicke aller richteten sich zugleich auf ihn zum Zeichen, daß man ohne jede Ahnung war …

Armgart hielt krampfhaft die Hand der Mutter und die des Vaters … Sie saß zwischen beiden … Beide verstanden allmählich ihre Aufregung und sahen die »Liebe« des jugendlichen Herzens … Monika mit Schrecken …

Herr von Terschka ist abgereist! fuhr Bonaventura fort … Wußten Sie das nicht? …

Abgereist? So plötzlich? fragten der Onkel und die Tante und sahen sich nach den Dienern um, die davon wissen mußten …

Armgart beobachtete jeden Zug im Antlitz der Mutter und diese wieder in ihrem und beide saßen zum Tod erstarrt …

Ich wiederhole Ihnen nur, was ich soeben in Witoborn aus Jedermanns Munde hörte … Herr von Terschka war gestern Abend beim Bischof, heute in aller Frühe schon im Kloster Himmelpfort; dann will man ihn noch im Düsternbrook bei den beiden Eremiten gesehen haben … Ein Pferd soll er in Witoborn in[362] den Stall bei »Tangermanns« gestellt haben, das über und über mit Schweiß bedeckt war … Dann nahm er Extrapost und ist abgereist …

Die Tante klingelte den Dienern, die auch eben kamen und die Speisen hereintrugen …

Monika blickte nieder – für sich fühlte sie wie erlöst. Terschka hatte sie auf dem Schloß gestern und vorgestern mit unbesonnener Vertraulichkeit verfolgt, ja in Erwartung, sie hätte seinen Brief erhalten, sogar gewagt, Abends an ihre Thür zu pochen, wo sie sich nur durch die Glocke helfen konnte … Seitdem hatte sie ihm nicht mehr Rede gestanden und wies einen zweiten Brief zurück … Aber – Armgart …?

Von den Dienern erfuhr man, daß Terschka in aller Frühe mit einem großen Koffer nach Witoborn gefahren war; der Wagen war eben jetzt allein zurückgekehrt …

Der Onkel, hocherstaunt, fragte:

Aber die Schlüssel seiner Zimmer? …

Man übergab die Schlüssel …

Daß nach dem Fund der Urkunde Terschka nicht lange hier verweilen würde, hatte man vorausgesehen. Dennoch war diese jähe, abschiedslose Entfernung aus seiner ihm, man sah es gestern und vorgestern, unbehaglich gewordenen Lage zu auffallend …

Inzwischen blickten Alle auf Armgart … Sie verschlang die Worte aus Bonaventuras Munde …

Die Diener waren wieder abwesend …

Ohne zu grelle Hervorhebung ließ Bonaventura, wenn auch mit Beben, die Worte fallen:

Sie werden bald vernehmen … was ich in Witoborn[363] schon aus Jedermanns Munde erfuhr … Terschka ist ja seltsamerweise … nicht in der Lage, jemals – zurückkehren zu können …

Alle horchten auf …

Terschka – war das nicht, was er uns allen erschien …

Armgart hatte sich erhoben … Jeder erwartete, sie würde ausrufen: Er ist vermählt! …

Bonaventura sprach leise:

Terschka ist – ein Priester …

Das Wort des Erstaunens erstarb auf aller Lippen …

Noch mehr, fuhr Bonaventura fort und dämpfte die Stimme – man sagt es in der Stadt allgemein, er gehört dem Orden – der Gesellschaft Jesu an und hat in Rom das vierte Gelübde abgelegt … Mein Stiefvater – scheint – die Gesetze gegen ihn geltend gemacht zu haben, die keinen Jesuiten im Lande dulden … Oder – – man vermuthet, daß seine Mission zu Ende ist und man ihn schleunigst nach Rom zurückberief … Nur zurückhaltend spricht man von diesem seltsamen Vorfall; doch scheint die Nachricht – unwiderleglich zu sein …

Es gibt eine magische Lichtwirkung, die plötzlich die blühendsten, lebensfrischesten Physiognomieen in Larven verwandelt …

So die Wirkung dieser Mittheilung …

Was mußte man von Terschka's Metamorphose, was von seiner Verbindung mit den Camphausens in Wien, was von seinem Leben hier auf dem Schlosse denken? …

Monika, die den Beziehungen Terschka's zur Familie des Grafen Hugo so nahe stand, konnte sich kaum[364] im Sitzen erhalten … Ihre Lippen bebten; ihr Auge rollte; ihre Brust hob sich; sie hatte einen – Fluch auf der Zunge … Das sahen alle …

Ihr Gatte betrachtete sie mit gleicher Empfindung und maß den Antheil, den er aus ihren Beziehungen zur Mutter des Grafen Hugo vollkommen zu würdigen wußte … Er verstand die Entrüstung aus gleicher Gesinnung …

Dennoch stammelte Monika:

Fast glaub' ich, man muß dem Manne nicht zu sehr zürnen! … Er war vielleicht mehr ein Opfer, als ein Werkzeug! …

Mehr konnte sie nicht sagen … Denn alles war erschreckt durch Armgart …

Diese stand wie wenn sie eine Geisterwelt um sich sähe … Nicht daß sich ihr sofort das Räthsel des Briefs enthüllte, nicht daß sie sofort verstand, wie Terschka nur gerade diese Last der Seele hatte abschütteln, deshalb convertiren wollen … sie sah nichts, als daß Terschka für die Mutter aufhörte ein Mann zu sein, aufhörte, verwirrend und bestrickend in Frauenseelen einzugreifen … Ein Priester! … Erlöst von einer Last, die von ihrem Herzen fiel, stieß sie einen lauten Ton der Freude aus. Sie stürzte auf die Mutter zu … Jetzt erst, jetzt sie wiedergewinnend, jetzt ganz an sie glaubend, nachholend, was sie an ihr versäumt hatte, lichtumflossen nach so langer dunkler Irrung, umarmte sie die Befremdete stürmisch, küßte ihre Stirn, ihre Lippen, ihre Hände, umfaßte ihren Leib und entfloh aus dem Zimmer …[365]

Was ist dem Mädchen? riefen alle – außer Bonaventura und Paula …

Monika verstand allmählich auch das beharrliche und auffallende Schweigen beider und sagte, sich in ihren Vorstellungen Licht suchend:

Welch ein Wahn? …

Sie sah purpurroth vor Bonaventura nieder und gedachte nun beschämt ihrer Beichte …

Die Tante kannte Terschka's Neigung für ihre Schwester. Aber ihrer Verlegenheit half die Nachwirkung des Schreckens über Terschka. Von allem Unangenehmen gleich zur Abwehr gestimmt, hatte sie das Bedürfniß des Polterns …

Sie ist eine Närrin! … rief sie Armgart nach …

Bald aber stockte auch ihre Rede – voll Grauen über die Verstellungskunst, deren Zeuge sie hier einen Winter über gewesen waren …

Der Onkel gab sich offener. Er verweilte mit unausgesetztem Erstaunen bei der Mittheilung des Domherrn und fand sie für die Enthüllung römischer Zustände außerordentlich …

Armgart's Platz blieb leer … Man aß und suchte in zerstreuendem Gespräch Fassung zu gewinnen … Was stören und die eben gewonnene Einheit trüben konnte, wurde vermieden … Levinus rügte nichts am Bruder, die Tante nichts an ihrer Schwester … Dafür behielten Ulrich und Monika für sich, was beide tiefschmerzlich von Rom, seinem Bau, seinem Bann über die Welt empfanden …

Bonaventura und Paula empfanden alles das nicht minder …[366]

Dennoch erhielt Onkel Levinus scheinbar Recht, als er das Glas erhob und sprach:

Der Mensch ist so glücklich, wenn er die erste Summe seiner Ersparnisse zurücklegen und sagen kann: Das haben wir denn nun – und das Uebrige findet sich! … Halten wir uns an das Glück, das wir sehen und – mit Händen schütteln! … Hoffen wir, daß im Schoos der Zukunft mehr, mehr, viel mehr zu unserer Freude verborgen liegen wird, als wir ahnen! …

Darauf klangen auch alle an …

Die Tante lachte über das Levinus'sche Bild von »zurückgelegten Ersparnissen« …

Plötzlich aber fiel allen Paula's Blick auf …

Paula hatte von den Speisen wenig nehmen mögen …

Ihre Erregung mehrte sich durch die Erwartung der Wiederkehr Armgart's …

Sie fragte nach ihr … Schon seltsam leise erklang ihre Stimme …

Die Tante kannte diesen Ton und erhob sich …

Paula blickte starr auf die großen silbernen Gefäße, die beim Mahle benutzt wurden …

Die Tante rückte eine glänzende Vase zurück, in der sich Paula schon wie unbewußt spiegelte …

Das glänzende Metall übte seine Wirkung …

Paula begann mit Armgart zu sprechen, ohne daß diese im Zimmer war.


Ende des fünften Buchs.[367]

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 7, Leipzig 1860.
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