6.

[144] Um den Weg in seine Wohnung zu finden, konnte sich Benno keiner zuverlässigeren Hülfe bedienen, als des Herrn von Pötzl, der gleichfalls Hut und Regenschirm genommen hatte und ihm gefolgt war …

Ueber den Namen dieses Mannes hatte sich Benno beruhigen wollen …

Schon daheim, wo er so oft dem Kattendyk'schen Hausfreund begegnete, dem alten Pfleger der Bologneserhunde, dem als Gesellschaftsheloten benutzten Spaßmacher Ignaz Pötzl, der sich darum doch einen Thaler nach dem andern in die Sparkasse trug, hatte er diesen nicht weiter nach seiner wiener Verwandtschaft gefragt, seitdem einmal dessen Antwort lautete, der Pötzls gäb' es wie Sand am Meer und »mit einem alten Junggesellen, der einen Nothpfennig hinterließe, wäre dann auch noch alle Welt verwandt, ohne Pötzl zu heißen …«

Fühlen Sie sich jetzt besser? hörte Benno hinter sich her reden. Die Luft wird Ihnen gutthun … Ja,[145] es ist ein überlebtes Gebäude! … Wär's eine Kasern', so wär' sie längst umgebaut …

Benno mäßigte seinen Schritt …

Wo aber, lieber Herr, wo wohnen Sie denn? … Vielleicht an der Mölkerbastei? … Das wäre gerade auch mein Weg …

Benno wohnte an der Freyung …

Das kaum gesagt, war auch das gerade Herrn von Pötzl's Weg …

Der Regen hatte inzwischen nachgelassen …

Wie sich beide vor dem Gewühl der Wagen durch ein schnelles Laufmanöver über die Fahrstraße hinweg sichern wollten, rief Herr von Pötzl einen an ihnen vorüberschießenden Herrn an:

Gehorsamer Diener, Herr von Zickeles! …

Es war noch ein junger, schon mit starkem Embonpoint versehener Mann, der eben aus einem berühmten Laden mit »G'frornem« trat und noch rasch hinüber in die Vorstellung wollte … Eine Mittheilung über ein misrathenes neues Stück in der Vorstadt mischte sich in seinen Gegengruß und zugleich die Frage, ob doch Herr Müller noch nicht seine große Scene gehabt hätte und ebenso ein forschender Blick auf Benno –

Benno, Herrn von Pötzl's Verlangen bemerkend, seinen Namen zu erfahren, ein Verlangen, das er hinter einer künstlichen Verlegenheit, ihn nicht vorstellen zu können, verbarg, fragte, ob Herr von Zickeles dem Hause gleiches Namens angehörte … Er hätte eine Karte von »Harry Zickeles« gefunden …

Mein Gott! … brach Harry Zickeles aus, bekannte[146] sich als Abgeber der Karte und rief: Doch nicht etwa der Herr Baron von Asselyn? …

Benno überraschte mit der Bejahung Herrn Harry Zickeles ebenso, wie Herrn von Pötzl …

Das ist ja einzig! rief Letzterer und hätte alle Vorübergehende über diese Spiele des Zufalls zu Zeugen anrufen mögen … Gerade der »Herr Baron von Asselyn« war die Persönlichkeit, die »beide« »gesucht« hatten … Herr von Pötzl demaskirte sich als Bruder des alten Komikers Ignaz Pötzl, der ihm von der Reise des Herrn »von« Schnuphase und von dem Herrn von Asselyn ausdrücklich »geschrieben hätt'« … Aber nein! … Und Sie geben mir nicht einmal die Ehre! … Die Freud' und die Ueberraschung! …

Benno hatte keine Anweisung auf die Bekanntschaft dieses so außerordentlich gefälligen Mannes erhalten …

Dennoch ließ er es nun an dem Schein einer engern Verbindung mit dem Bruder nicht fehlen … Machte er damit doch eine offenbare Freude und bahnte vielleicht seine Forschungen an …

Die Erinnerung an den alten Thaddädlspieler zeigte das ganze »G'müth« des Herrn von Pötzl … Jede Nuance der Charakteristik seines Bruders unterbrach er mit einem glückseligen: »Ja! Ja!« … Und als Herr von Zickeles den Witz machte: Sagens doch nicht, Herr Baron, daß er wohlauf ist! Herr von Pötzl hört viel lieber das Gegentheil! Er will ihn beerben! … erfolgte von Herrn von Pötzl nur ein einziges: »O Sie –!« Es lagen alle Schäkereien der Welt in dem Ton …[147]

Herr von Zickeles gab, wenn auch mit einigem Zögern, den »Hamlet« und den Applaus eines jungen Schauspielers auf, der auch an ihn empfohlen war … Laërtes, den Herr Müller »spüllte«, hatte seine Hauptscene erst im letzten Act … Herr von Zickeles ruhte nicht, bis der Herr Baron von Asselyn versprach, sofort, »aber auch auf der Stell'« in den Salon seiner Aeltern mitzukommen … Jeden Abend wären sie nach dem Theater daheim und der Herr von Asselyn wäre vollends von seiner gerade aus Paris anwesenden Schwester Bettina Fuld und von deren Begleiterin, dem Fräulein Angelika »von« Müller, aufs allerallerdringendste erwartet …

Angelika Mütter! … Welch ein Mollaccord! … Sanft und wohlthuend verbreitete er sich über Benno's erschrecktes Gemüth … Er wollte folgen … Hier war von keiner Willensfreiheit mehr die Rede … Harry Zickeles hatte ihn schon unterm Arm …

Herr von Pötzl folgte in Verklärung …

Herr von Zickeles ließ nicht eher ab, bis sie alle drei vor dem Portal seines älterlichen Hauses standen … Es lag jenseit des Grabens dicht in der Nähe eines großen Platzes, des »Hohen Marktes« …

Herr von Pötzl war etwas schweigsamer geworden, aber so gleichsam, als wenn der Ueberstrom der Gefühle ihm die Worte raubte …

Als Herr von Zickeles am Hause seiner Aeltern geschellt hatte, zog er die Uhr und sagte:

Freilich – glauben Sie wol, Herr von Pötzl, daß der Laërtes jetzt aus Paris zurückkommen ist? … Ich[148] bitt' schön, führen Sie den Herrn Baron zu meinen Aeltern hinauf … Ich hab' – Der junge Mann ist mir und merkwürdigerweise auch – der Kaiserin Mutter empfohlen worden – Sehr ein hübsches Talent! – Ich – Oder – Doch lieber – Kommen Sie, Herr von Asselyn, ich führe Sie erst selbst auf und dann spring' ich noch ein bissel in den letzten Act …

Nun keuchte der junge dicke Mann die Treppe voran … Das Haus war viel heller erleuchtet, als das Palais des armen Schuldners der Zickeles, des Grafen Hugo …

Auf der Mitte blieb wieder der Theaterfreund stehen, zog wieder die Uhr und schien die größte Angst zu haben, die Scene seines Günstlings, dem er, wie Herr von Pötzl elegischironisch sagte, seine gewohnte Protection durch einen stürmischen Applaus zugesagt hatte, zu versäumen …

Endlich waren alle drei im ersten Stock angelangt … Hier klingelte Herr von Zickeles und erst, wie er sicher war, daß der öffnende Bediente den Gast direct aus seiner Hand empfing und die Anmeldung fest hatte: »Herr Baron von Asselyn!«, bat er für eine halbe Stunde um Entschuldigung und stürzte, um im Burgtheater sein gegebenes Mäcenatenwort zu lösen, davon …

Sehr ein vortrefflicher Mensch und – Kunstkenner! sagte Herr von Pötzl mit seiner jetzt entschiedener ausbrechenden maliciösen – Gemütlichkeit …

Dann setzte er, beim Ausziehen der Oberröcke, Benno ins Ohr flüsternd hinzu:

Sie werden, wie ganz Wien weiß, hier erwartet[149] wie der Onkel aus Amerika oder das Manna in der Wüste! … Gebe der Himmel, daß Ihre Mission an den Herrn Grafen von dem glänzendsten Erfolge gekrönt wird! …

Auf Benno's Lippe bebte die Frage: Wie aber kommst du und die arme dann geopferte Angiolina zu einem und demselben Namen –? … Doch er mußte in die Salons der reichen Bankierfamilie treten …

Herr von Pötzl »führte ihn auf« unter einer Flut von gemüthvollsten Reden, in denen er alles haarklein erzählte, was sich zum Erstaunen und »wie in einem Roman« seit dem Eingang zum Burgtheater bis zum gegenwärtigen Augenblick in Herrn Baron von Asselyn's Leben und dem seinigen zugetragen hätte …

Die Räume waren erhellt, aber noch leer …

Nur der Herr Vater, Herr Marcus Zickeles, und die Frau Mutter und noch einige ältere Herren und Damen waren anwesend …

Sie bildeten Whistpartieen, die im vollen Gange waren, sodaß trotz der freundlichsten Bewillkommnung die noch nicht zu Ende gespielten Partieen eine ausführlichere Begrüßung unterbrachen …

Der Vater und die Mutter verwiesen ihn mit aller Freundlichkeit auf den jüngsten Sohn des Hauses, der ihm besonders von Seiten der Mutter mit hoher Genugthuung und den Worten vorgestellt wurde: Mein Sohn Percival! …

Percival Zickeles war noch ein unreifer, etwas schüchterner Jüngling, dem, wie es schien, der erste Buchhalter beispringen mußte, um die Honneurs zu machen …

Benno war es sehr zufrieden, daß ihm selbst Herr[150] von Pötzl, der seines »Aufgeführten« Bedeutung leise tuschelnd da und dorthin mittheilte, einige Ruhe ließ …

Was lag nicht alles centnerschwer auf seiner Brust! … Selbst die harmlose Erwähnung Angelika's, der »ewigen Verlobten« Püttmeyer's, weckte Erinnerungen, die ihn haltlos wie in Lüften schweben ließen …

Angelika Müller trat auch wirklich ein … Sie, in gesellschaftlichem Putz und Staat – Sie, die alte verblühte Erzieherin – sonst in einem halben Nonnenkloster – hier in einem israelitischen Hause …

Kaum sah sie Benno, so stieß sie einen Schreck- und Jubelruf aus, der für die alte »Frau von Zickeles« im Spiele störend schien … Sie wandte sich um und – stumm reichte Angelika jetzt Benno die Hand … Ihr Lächeln war das alte … Es zeigte die ganze Reihe ihrer riesigen, aber weißen, schön erhaltenen Zähne … Eine lange Rosaschleife erstreckte sich von den mühsam zusammengelesenen blonden Haaren in den Nacken … Sie trug ihre Arme, so mager sie waren, entblößt … So befiehlt das Sklavenleben des Gouvernantenthums, den innern und äußern Menschen den Umständen gemäß zu metamorphosiren … Auch den innern Menschen! … Es war Angelika Müller und sie war es auch nicht … Ein Jahr in Paris und auf Reisen – und dienen, dienen müssen fremden Launen … Da sprach sie schon von Armgart wie von einer Jugenderinnerung … Freilich gab es in Armgart's Leben die allerüberraschendsten Veränderungen … Armgart in dem ihr sonst so verhaßten England! … Näheres wußte sie nicht von ihr … Nur durch[151] Püttmeyer war die »treue Seele« im Zusammenhang mit ihrem alten Leben … So mußte wol Benno erzählen … Er that es voll Liebe und Güte und Schonung Püttmeyer's … An diesem hielt Angelika unverbrüchlich fest … Sie hatte in Paris für sein System gewirkt; sie hoffte auch in Wien einige rechtgläubige Spätlinge der Naturphilosophie für die Philosophie der Kegelschnitte gewinnen zu können …

Frau von Zickeles wurde aufgeregter … Die Gesellschaftsdame ihrer Tochter schien ihr zu sehr im Vordergrunde zu stehen … Sie spielte zwar noch Whist, unterließ aber nicht, ihrer sich jetzt mehrenden Gesellschaft ihre Aufmerksamkeit zu bezeigen … Nach jeder Karte, die sie ausgespielt hatte, rief sie: Joseph! Das galt dem Bedienten … Oder: Pepi! Das galt dem Hausmädchen … Fräulein Müller! Das galt der Gesellschafterin ihrer Tochter, der Frau Bettina Fuld … Wenn sie: Percival! ihren Jüngsten, rief, so war es ein Ton besonderer Zärtlichkeit … Sie hatte dem »hoffnungsvollen« Knaben nach einem Lieblingsdrama der Zeit diesen Namen nachträglich statt seines ursprünglichen »Pinkus« gegeben …

Angelika Müller bekam Augenwinke, die ihr sagten, daß in den Zimmern außer dem Herrn Baron auch noch andere Herrschaften wären …

So näherte sich denn dem »Herrn Baron« wieder Herr von Pötzl, zog die Dose, offerirte und genoß die Zinsen von dem auf den Fremden bereits gewandten Kapital von Zuvorkommenheit … Er flüsterte über den Grafen Hugo …

Den Kampf, ob er morgen den Besuch im Palatinus[152] oder die Reise nach Schloß Salem aufgeben sollte, hatte Benno schon zu Gunsten seiner geschäftlichen Pflicht entschieden …

Auf seine Aeußerung, er würde morgen früh dem Grafen Hugo auf Schloß Salem aufwarten, unterließ Herr von Pötzl nicht, die schöne Gegend, den Charakter des Grafen zu schildern, kleine satyrische Seitenhiebe hineinzuwerfen und ihnen wieder eine Fülle von Gemüth folgen zu lassen …

Die Veränderung wird außerordentlich werden! sagte er … Und wahrhaftig! Die Zickeles sind sehr dabei interessirt! … Wo nur Herr Leo bleibt! … Leo ist das Geschäft nächst dem Vater … Ganz Metalliques, blos Abends Wohlthätigkeitsschwärmer … Ich vermuthe, er sitzt in diesem Augenblick Comité … Das Talent, ein gutes Herz zu zeigen, Herr Baron, ist in Wien sehr cultivirt, aber – kostspielig … Herr Leo von Zickeles wird deshalb wol auch nie heirathen … Er sieht sich seine Medaillen, Ehrenpatente, seine gedruckten Thränen der Witwen und Waisen an und behält sein von tausend Zähren des Dankes emaillirtes Herz für sich allein …

Joseph! rief hier die Mutter … Hat Herr von Asselyn G'frornes? …

Joseph präsentirte …

Herr von Pötzl fuhr fort:

Den zweiten Bruder, den Herrn Harry haben Sie schon kennen gelernt … Auch der ist Vormittags aufrichtig Metalliques … Aber die übrige Zeit gehört dem Enthusiasmus für Ruhm und schöne Künste … Sie sehen, daß er sich viertheilen lassen kann, wenn er einem[153] Schauspieler an einer gewissen Stelle einen Applaus versprochen hat … Es ist schon vorgekommen, daß er einem Maschinisten »auf der Wieden« befohlen hat, an einem Abend eine Störung hervorzurufen, nur damit ein andres Stück herausgebracht werden mußte, als dasjenige, wo er ein gegebenes Applausversprechen wegen eines anderweitigen Theater- oder Concert-Engagements nicht erfüllen konnte … Harry Zickeles führt jede in der Theaterzeitung neuangekündigte Unsterblichkeit, wenn sie nach Wien kommt, in die hiesigen Hallen des Ruhmes ein … Sein größtes Leidwesen ist dabei nur, wenn sich sein Herz zwischen zwei Gegnern in zwei Hälften theilen muß …

Pepi! rief die Mutter … Hat der Herr Baron G'frornes? …

Pepi präsentirte …

Herr von Pötzl flüsterte:

Der dritte Sohn, Percival, ist, wie Sie wol schon an dem träumerischen Jüngling gemerkt haben werden, ein dichterisches Genie … Vor zwei Jahren erst bekam er den Vornamen Percival … Er hat Romanzen geschrieben wie Heine, blos daß er zur Abwechslung auch einmal den Palmenbaum, statt von einer Tanne, von einer Akazie geliebt sein läßt – Wissens, von wegen der »Grazie« … Auch hat er einen »Ahasver« unter der Feder, in dem die geniale Idee vorkommen soll, daß Ahasver sich nach Wien begibt und im »Stock am Eisen« einen Nagel vom Kreuz des Erlösers einschlägt, gerade noch den letzten, der hinein geht, wodurch ihm die selige Ruh' zu Theil wird …[154]

Percival! rief die Mutter … Hat Herr Baron G'frornes? …

Percival fuhr wie aus Morgenrothsträumen auf, strich sich seine schönen langen schwarzen Haare zurück und machte eine Miene, als hätte ihm nur eine Geisterstimme gerufen … Allmälig besann er sich aber auf den irdischen Begriff des »G'frornen« und offerirte davon mit einer Miene weltschmerzlichen Duldens …

Herr von Pötzl nahm ihm die Schüssel ab mit der freundlichsten Anrede:

Sie, mein liebster bester Herr Percival! … Ich glaub' fast, Sie sind schon wieder einen halben Zoll gewachsen …

Percival schien die Anerkennung seiner Jugend gern zu hören und lächelte …

Die Frau Bettina von Fuld – die kennen Sie? … fragte dann Herr von Pötzl, als sie wieder an einem andern Fenster allein standen …

Benno mußte diese Voraussetzung verneinen …

O sie muß sogleich erscheinen … Mit ihrem Gatten, der etwas in das diplomatische Fach spielt – ein Changeant, das in Homburg und Baden-Baden viel Geld kosten soll … Dann ist noch die jüngere Schwester, die Jenny, da … Die ist noch »im Kärnthnerthor«, wo eine abgeleierte Oper von Bellini gegeben wird … Sie hat eine famose Stimme … Wenigstens glauben das die Aeltern und der Professor Biancchi – ja – kennen Sie den Namen? … Das ist derselbe, den Sie heut im Theater sahen … Der wird nicht Ursache haben, diese Ueberzeugung von Jenny's Stimme zu bestreiten[155]  – denn er »laßt« sich die Stund' mit einem Dukaten zahlen … Sie werden ohne Zweifel heute noch Gelegenheit haben, sich von dem Raffinement dieses Italieners mit dem Pergamentgesicht, das Sie heute sahen, näher zu überzeugen … Kommt er mit, so laßt er sie singen … Ich sage: laßt sie … Denn das ist höchst merkwürdig … Diese Musikprofessoren haben über ihre Schülerinnen eine Autorität wie ein Abrichter über seine Affen … Wann der Alte in den Salon tritt, kriegt die Junge regelmäßig einen innern Ruck, wie eine Braut vor ihrem kommenden Bräutigam … Vor keinem Menschen hat sie Courage, allein zu singen … Steht aber der alte Italiener dabei und schlagt mit seiner unerschütterlichen Pierrotmaske die Noten um, so geht's: Perfido! Crudele! –

Mamsell Müller! rief jetzt wieder Frau von Zickeles … Hat der Herr Baron G'frornes?

Angelika hüpfte zum Whisttisch … Sie war so in Träumen versunken, daß sie nur den Ruf, nicht den Auftrag gehört hatte …

Biancchi – Biancchi –! … Auch über diesen Namen mußte Benno tiefbeklommen athmen …

Angelika carambolirte inzwischen mit Herrn von Pötzl, der sich selbst unterbrechend mit der süßesten Miene und wie zum Kniebeugen anbetend auf Damen zulief, die eben ins Zimmer traten und vielleicht die Verlästerten selbst waren …

Immer größer und größer wurde der Zustrom …

Frau von Zickeles zankte mit dem Fräulein Müller[156] über das, »was sie nicht gewohnt wär' zweimal zu sagen« und verwies sie jetzt auf die Ankommenden …

Angelika's Rosabänder flogen einer Dame entgegen, die mit leuchtenden Augen lachend eintrat …

Frau Bettina Fuld kam von der »Wieden« und berichtete über die im dortigen Theater gehörten, »unerhörten Plattitüden« … lachte aber doch noch bis zum Ersticken darüber … Benno erfreute sich des angenehmen Eindrucks, den er zum ersten Mal empfing …

Dagegen war Herr Bernhard Fuld ihm zwar äußerlich bekannt, doch mußte er sich erst allmälig in ihm zurecht finden, denn er war so mit Bart überwachsen, daß man keine Physiognomie herausbekommen konnte … Er trug sein Band der »ehrlichen Legion« …

Benno fühlte Mitleid mit dem Grafen Hugo, zu dessen Leben er hier die Reversseite sah …

Jetzt kam denn auch Harry zurück … Er hatte noch dem Laërtes, als er die Rede für Opheliens und seines Vaters Tod gehalten, stürmisch applaudiren können, war dann nebenan in die Loge zur »Resi Kuchelmeister« gegangen und brachte diese und auch den Herrn Professor Biancchi mit …

Noch erschien eine andere ältere auch der Musik angehörende Persönlichkeit, der Professor Dalschefski, ein Pole … Es gab eben einen Zank, dessen Ursache Benno, den seltsamen Italiener, Bruder der alten Carbonari Marco und Napoleone fixirend, nicht sogleich ergründen konnte …

Alles das ging bunt durcheinander und noch bunter, als nun auch Leo Zickeles aus einem seiner Wohlthätigkeitscomités[157] nach Hause kam … Die Whistpartieen waren zu Ende, die Spieler standen auf und eine Nebenthür wurde geöffnet, wo compactere Speisen auf einem Tische standen, auf den die Hungernden »wie die Wölfe« zufuhren … Resi Kuchelmeister brauchte diesen Ausdruck … Sie freute sich Benno wieder hergestellt zu sehen und begrüßte ihn wie einen alten Bekannten schon – doch zugleich scharf ihn etwas musternd …

Der alte Herr von Zickeles trat vertraulich zu Benno …

Nach einigen Ermahnungen, sich einen Teller zu füllen, nahm er ihn bei Seite und erörterte den Stand der Angelegenheiten des Grafen …

Ja, sagte er, Seine Erlaucht sind auf dem Schlosse Salem … Die Frau Gräfin Mutter Erlaucht werden von Schloß Westerhof erwartet … Hat die Comtesse Paula von Dorste-Camphausen eingewilligt? …

Benno konnte keine Auskunft geben …

Hm! fuhr der alte Herr fort … Sie, Herr Baron, bringen doch vom Herrn Oberprocurator Nück schon die Stipulationes der Agnaten …

Der Graf soll sie zuvor unterschreiben …

Die Schuldenlast ist sehr groß und meine Lage nicht darnach, länger Geduld zu haben … Ich würde Salem und Castellungo subhastiren müssen …

Castellungo? … Das gehört der Mutter …

Schon längst hat sie es für den Herrn Sohn verpfändet … Ohne den Zwischenfall mit Terschka wären wir schon näher am Ziele … Die Urkunde – Allen Respect, Herr von Asselyn – Ich kenne Ihre[158] Ansichten nicht – aber doch – sehr eine verdächtige Geschichte …

Herr von Zickeles wollte sagen: Terschka hat im Auftrag Roms das Schloß angesteckt und dann eine falsche Urkunde producirt – Wenigstens las Benno diese Ansicht in den scharfen Mienen des Handelsherrn, der keineswegs zu Scherzen geneigt schien …

Benno antwortete:

Terschka ist ja Protestant –

Protestant –! lächelte Herr von Zickeles und flüsterte: Die Jesuiten lassen ihn auch sein Protestant …

Mit einem so furchtbaren Streiflicht über Terschka's Flucht und Aufenthalt in London stand Benno eine Weile sich allein überlassen … Denn die Töchter umschmeichelten eben den Vater, fielen ihm um den Hals, liebkosten ihn – natürlich, um dabei auch den fremden Baron, dessen begeisterte Prophetin schon lange Angelika Müller gewesen, näher in Augenschein zu nehmen …

Herr von Zickeles ließ sich Kinn und Wange streicheln, sagte auch der hinzugekommenen Resi Kuchelmeister viel Artiges, war ganz nur Patriarch und fuhr dann doch, als die Frauen forthüpften, streng wieder fort:

Sie werden es auf Salem sehr öde und einsam finden … Falls Sie bis dahin zurück sind, seien Sie doch den Mittag morgen bei uns zu Tisch – Und überhaupt – Herr von Asselyn, an jedem Tag finden Sie bei uns Ihr Couvert … Wenn die Gräfin zuletzt mit der wirklichen Entscheidung eintreffen sollte –

Herr von Zickeles konnte nicht weiter reden …[159] Auch Leo Zickeles nicht, der hinzugetreten war und sich ins Geschäftliche mischen wollte – Mein Gott, was ist! mußten Vater und Sohn zu gleicher Zeit fragen …

Jenny weinte laut … Weil Professor Biancchi mit Resi Kuchelmeister »eine Verschwörung« gegen sie eingeleitet hätte … Eben jetzt erst hatte sie erfahren, daß Biancchi heute Dalschefski's Platz im Burgtheater benutzt und die Resi begleitet hätte … Sie hatte bisher den Grund, warum er heute nicht im »Piraten« war, vergebens erforscht …

Soviel etwa verstand Benno von der Ursache des Streits …

Der Vater ging besorgt in das vordere Zimmer … Frau von Zickeles folgte in großer Aufregung …

Leo, der älteste Sohn des Hauses, der Wohlthätigkeitsschwärmer, ein ruhiger, kaltprüfender Mann, schenkte Benno Wein und sagte, ohne sich um den musikalischen Lärm zu kümmern:

Ja, Sie werden den Grafen sehr in Verstimmung finden! Aber man kann ihm doch nur Glück wünschen, daß namentlich auch – das Verhältniß aufhört mit dieser – Angiolina …

So war das vernichtende Wort gefallen …

Angiolina? sagte der hinzutretende Harry lächelnd und löste Leo ab, der von seinem Schwager, dem Diplomaten, in Anspruch genommen wurde …

Haben Sie auch schon von dem Fräulein Pötzl gehört? fragte er und sah sich dabei schmunzelnd und scheu nach Herrn von Pötzl um …

Wie hängt Herr von Pötzl mit – fragte Benno[160] in abgebrochener Rede … dieser – Dame – zusammen? …

Bei Leibe, flüsterte Harry und drückte seine kleinen Augen vollends zu; nur nichts laut davon! … Sie ist Herrn von Pötzl's Pflegetochter … Er kennt sie aber seit Jahren nicht mehr, will auch nichts mehr von ihr wissen … Auch zu uns kam sie sonst … Herr von Terschka führte sie auf … Später ging's nicht mehr – des Verhältnisses mit dem Grafen wegen, der sie als Kind hatte erziehen lassen und dann – … Sie wissen … Nur die Einzige, die sie noch zuweilen sieht, ist da die Resi … Das ist überhaupt ein lieber Narr! … Resi's Vater war unser erster Buchhalter und hinterließ ihr ein hübsches Vermögen … Seitdem wohnt sie mit einer Tante und will seit zehn Jahren schon zum Theater … Sie weiß aber nicht, daß das mit ihren fünfundzwanzig Jahren zu spät wird … Meine Schwestern sind mit ihr auferzogen worden … Sagen Sie ihr aber um Himmels willen nicht, daß Sie der Employé sind, der die Heirath des Grafen Hugo mit der Gräfin Dorste, der Geisterseherin, arrangiren soll … Sie kratzt Ihnen sonst die Augen aus, so intim war sie noch vor kurzem mit Angiolina, die wirklich sonst eine Pracht von einem Mädchen ist … Aber hören Sie, wie die Resi jetzt den Biancchi zurecht stutzt … Sie müssen wissen, die Therese wohnt in Einem Hause mit den beiden Musikmeistern, die zusammenwohnen, obwol sie ganz verschiedene Systeme haben … Theresens Lehrer ist der Dalschefski, ein Pole, und der ist für deutsche Musik; und unsere Jenny, die hat den Biancchi[161] zum Lehrer und der ist natürlich ein fanatischer Italiener … Der Pole und der Italiener wohnen, wie gesagt, in einem Quartier … Auf der Currentgasse … Und von Haus aus sind sie die besten Freunde … Im Vertrauen gesagt wegen der Politik … Aber in der Musik hassen sie sich … Nun können Sie sich die Eifersucht der beiden Mädchen denken! … Unsre Jenny weint eben, weil der Biancchi heute mit der Resi ins Burgtheater gangen ist, während sie im Kärthnerthor allein saß! …

Welche geringfügigen Leiden! dachte Benno …

Mehr konnte Harry nicht mittheilen; alles wurde still, weil die beiden Freundinnen allein das Wort führten …

Jenny, nicht so anmuthig, wie ihre Schwester Bettina, mit schärferer orientalischer Zeichnung, voller, drückte ihr Taschentuch vor die Augen und behauptete, die ganze Vorstellung des »Piraten« wäre ihr heute verdorben gewesen durch das vergebliche Warten auf Biancchi … Und dieser Mann würde inzwischen von Theresen in Beschlag genommen! …

Der Pole Dalschefski, ein magerer, schmächtiger Alter mit grauen Haaren, immer halb lächelnden, halb melancholischen Ausdrucks, sprach in gebrochenem Deutsch:

Mein Freund Biancchi – er hat sehen wollen – die Loge von großem Kanzler – wo sind gewesen heute die italienischen Herrschaften aus Rom – hab' ich ihm gegeben meine Platz – …

Unbesonnen genug von Ihnen! entgegnete ihrerseits die Resi … Der fremde Herr Baron, der durch Zufall[162] Zeuge unsrer Leiden gewesen ist, wird es bestätigen können, daß der Maestro durch seine gehässigen Bemerkungen uns die ganze Vorstellung verdorben hat …

Wenn Therese Kuchelmeister laut sprach, schien es, als wäre dies für alle ein Zeichen, zu schweigen … Angelika Müller raunte Benno, der an dem Italiener immer mehr Interesse nahm, ins Ohr:

Das ist unsre Armgart – ins Wienerische übersetzt … Sie ist natürlich – aber bis zur Grobheit einer Küchenmagd … Hören Sie nur! …

Angelika schien vorauszusetzen, daß es zwischen Benno und Armgart immer noch wäre wie sonst …

Unter allgemeinem Lachen sagte Resi, indem sie von ihrem Teller ein Ragout aß:

Ueberhaupt diese Italiener! … Nein, die listige Artigkeit erst, mit der er in die Loge kam statt des Dalschefski, bis sich dann seine wahre Natur enthüllte … So ist's auch in unserm Hause … Wann der »Obers« zum Kaffee den beiden Herren zu schlecht ist – und es ist ein Leiden mit der Milch in Wien, nicht wahr, Frau von Zickeles? – so schicken sie zu mir herunter und meine Tante laßt sich regelmäßig bestechen, wann sie gerad' oben eine Sonat' von Beethoven spielen hört … Dann, denkt sie, hat unser guter Dalschefski da die Oberhand, das arme fromme Lamm das …

Alles lachte … Dalschefski kicherte, als kraute ihm eine sanfte Hand – das Fell …

Mit unerschütterlicher Ruhe, einer Mumie gleich, verharrte Biancchi unter dem Gelächter und that, als wenn er überhaupt kein Deutsch verstünde …[163]

Dalschefski sagte zu Benno, der im Antlitz des Professors Aehnlichkeiten mit Napoleone, Marco Biancchi und – Olympien suchte …

O, sie ist schlimm! …

Jenny Zickeles stand ihrem Lehrer als einem willenlosen Opfer fremder Intriguen bei, brachte ihm von den Speisen und schlug den Flügel auf …

Der Schwiegersohn des Hauses, Ritter Fuld, schien vor dem Moment des Singens seiner Schwägerin ein Grauen zu empfinden, retirirte sich und zog Benno auf ein Kanapee ins Nebenzimmer … Seine Gemahlin kam ab und zu … Sie lachte fast zu viel – »ihrer schönen Zähne wegen«, flüsterte Herr von Pötzl schon bei ihrem Eintreten …

Jenny, ihre Schwester, sang indessen eine majestätische Arie von Caraffa … Biancchi schlug die Noten um …

Benno betrachtete in den Pausen, die ihm Ritter Fuld gewährte, den Italiener … Es mußte der »Onkel« Olympiens sein … Nur etwas Außerordentliches hatte diesen Feind der deutschen Sprache und Kunst ins Burgtheater ziehen können … Wie sprach er von dem Kind seiner Schwester Lucretia … War nicht über seine todten Mienen ein plötzliches wildes Erzittern gekommen? …

Die Arie endete natürlich mit großem Applause … Auch Resi und Dalschefski klaschten – um alles wieder gut zu machen … Herr von Pötzl war Fanatismo und zog auch Benno in die Wirbel und Strudel seiner Bewunderung,[164] ob er gleich ihm hinterher leise ins Ohr ein: Pitoyable! raunte …

Jenny stand am Piano und hielt die Hand ihres geliebten Maestro mit einer Zärtlichkeit, als wollte sie sagen: Du mein Licht, meine Sonne, du Ursache meines höhern Seins, du Erkenner und Bildner meiner unvergleichlichen Stimme! …

Signore parla italiano –? fragte sie, um dem geliebten Professor das Gespräch zu erleichtern … Denn Benno mußte sich jetzt dem Sonderling nähern, dessen Empfindungen er vielleicht nur allein hier verstand …

Dieser blieb so kalt wie Eis …

Benno fragte ihn in seiner Sprache, ob er die italienischen Herrschaften, die ihn heute ins Burgtheater gezogen hätten, schon aus Rom gekannt hätte? …

Jetzt blitzte über das gelbe Antlitz ein heller Lichtschein …

Nein, mein Herr, erwiderte er trocken. Einmal diese Leute gesehen zu haben, ist schon zu viel …

Lieben Sie so wenig Ihre Landsleute? entgegnete Benno …

Diesen Principe Rucca? … sprach Biancchi. Haben Sie das schwarze Pflaster gesehen? Der junge Affe hat sich wahrscheinlich den Kopf an einer Fensterscheibe zerstoßen und geht nun mit einem Pflaster ins Theater, um Oesterreich glauben zu machen, ein solcher Italiener könnte ein Duell gehabt haben …

Benno erzählte die Ursache der Verwundung, nannte die junge Gräfin Maldachini und sah das Auge des[165] Italieners unter seinen schwarzen Brauen immer mehr hin- und herzucken …

Ja mit Bestien muß die spielen! … sagte er und fixirte Benno mistrauisch, als müßte er Anstand nehmen, sich ganz auszusprechen …

Dalschefski horchte gleichfalls schlau … Beide Männer schienen in ihrem innersten Wesen noch etwas anderes zu sein, als was sie hier vorstellten …

Benno erkannte immer mehr, daß er wirklich Luigi Biancchi, den dritter der römischen Flüchtlinge, vor sich hatte, in deren Familie sich Hedemann hineinheirathen wollte …

Jenny war überglücklich, die neue Bekanntschaft des Hauses sofort mit Biancchi so eng verbunden zu sehen …

Wie beide ihr der Hitze wegen in ein Nebenzimmer folgen sollten, Benno auf eine Bestätigung des Ursprungs der Gräfin Maldachini gefaßt sein konnte, unterbrach Resi, die gefolgt war, die zur nähern Verständigung einleitende Frage Benno's: Haben Sie nicht Verwandte, die in Frankfurt am Main und London leben? … mit den deutschen Worten:

Der hat gar keine Verwandte! Der ist in Italien auf einem Holzapfelbaum ganz für sich allein gewachsen! …

Benno hätte wünschen mögen, die neckische Plaudertasche hielte sich jetzt entfernt … Er konnte voraussetzen, daß Biancchi sich in tiefster Herzensbewegung befand, so ruhig auch wieder sein Aeußeres erschien …

Da er auf die erneute Frage nach dem »Bildhauer« Biancchi, wie Benno den Gipsfigurenhändler, und nach dem »Maler«, wie er den Restaurator nannte, nur ein[166] Kopfschütteln als Antwort bekam, ließ er Resi's Spott gelten …

Glauben Sie ihm das alles nicht! sagte diese … Die Leute, die Sie da nennen, die sind allerdings sämmtlich seine Verwandte! … Oder sie mögen nicht weit von seinem Stamm gefallen sein … Aber Dalschefski muß ihnen regelmäßig schreiben, daß der Onkel im Spital läge und sich selbst von milden Gaben anderer Menschen sein Leben kümmerlich friste …

Ha ragione! sagte Biancchi ruhig und nahm eine Prise, die ihm sein persönlicher Freund und Stubengenosse, wenn auch musikalischer Gegner und Rival Dalschefski präsentirte …

Besuchen Sie ihn in der Currentgasse, Herr Baron, sagte Resi … Ein Haus mit drei Höfen, berühmt durch den heiligen Stanislaus nebenan … Jetzt gehört es der Handlung Pelikan & Tuckmandl … Da werden Sie jeden Mittag um zwölf Uhr, Hof Nr. 3, Thür Nr. 17 rechts diesen von mildthätigen Gaben lebenden italienischen Bettler über einer Pastete von Rebhühnern und dergleichen und dem besten Wein Deutschlands finden, eines Landes, das er so gründlich verachtet … Unsere Musik schlecht zu machen hat ihm in diesem charakterlosen Wien ein Vermögen von fünfzigtausend Gulden eingebracht … Nachts fürchtet er freilich zur Strafe die deutschen Diebe – und darin hat er Recht, es wird in Wien fürchterlich gestohlen – Frau von Zickeles! In der Josephsstadt ist schon wieder eingebrochen! – Dann ruft er in seiner Angst dem Dalschefski und wenn dieser edle Pole, der die deutsche[167] Musik trotz der drei Theilungen Polens ehrt, es vorzieht, um zwölf Uhr Nachts zu schlafen, so weckt ihn dieser grausame Tyrann, macht Licht und schmeichelt ihn aus dem Bett heraus mit dem Zugeständniß, daß Mozart manchmal ein Italiener gewesen wäre … O, wir kennen alle seine Verwandte. Eine Frau Giuseppina Biancchi zieht in Castellungo die besten Seidenwürmer … Graf Salem-Camphausen hat sich's eine Untersuchung kosten lassen, als er der Angiolina Stunden gab und ihn auch da einmal Terschka um seine Verwandte zur Rede, er sich aber darüber völlig unwissend stellte …

Mit größter Ruhe entgegnete der Maestro auf diese für Benno tief ergreifenden Einzelheiten:

Es ist ja bekannt, daß dieser Herr Graf von Salem seine Finanzen durch allerlei dumme Possen ruinirt hat …

Da man lachte, so brach Resi in ein parodirendes: Perfido! Crrrrrudele! aus im Ton der italienischen Oper, sprang zum Klavier, variirte noch eine Zeit lang in diesem Ton heftige Verwünschungen gegen Biancchi, ging aber allmählich wie von Rührung über die Erwähnung Angiolinens und die wol jetzt in Erfahrung gebrachte Mission des fremden jungen Rechtsgelehrten ergriffen, in andere Melodieen über und sang zuletzt Schubert's »Wanderer« mit einem erschütternden Ausdruck der Empfindung …

Benno hatte indessen nicht den Muth, weiter zu forschen … Ueberall sah er, daß er Anknüpfungen seiner Interessen, voll äußerster Verlockung, sich zu enthüllen, fand und immer, immer war dazu der Begleiter der Schmerz … Er hörte die Thurmuhren draußen[168] feierlich in den schönen Gesang hineinschlagen … Es war wie ein Ruf aus dem Jenseits …

Als Resi zu Ende war, hätte er gehen mögen … Wie disharmonisch war der ausbrechende Beifall! … Herr von Pötzl raste und kein vertrauliches: Pitoyable! folgte … Resi aber würdigte gerade ihn keines Blicks … Es war, als wollte sie sagen: Wir haben eine Loge zusammen – müssen gemeinschaftlich unsere kritischen Empfindungen im Burgtheater los werden – aber ein Urtheil über ein Lied von Schubert gestatt' ich dir nicht …

Zuletzt gab man noch Benno für seinen wiener Aufenthalt allerlei gute Rathschläge …

Bernhard Fuld warnte vor den Fiakern – Herr von Pötzl, ihm leise ins Ohr raunend, vor den »Spitzln« – Frau Bettina Fuld mit einer leisen Anspielung auf Terschka, über den sie mit ihm einiges gesprochen hatte (staunend und lächelnd; sie lächelte zu Glück und Unglück), vor den Böhmen – Harry vor den immer sehr schlechten Eckplätzen in den Theatern – ja selbst Percival, den der Schlaf übermannte, thaute noch einmal auf und äußerte sich ganz praktisch über das Institut der »Hausmeister«, das zwar Trinkgelder bedinge, aber den Besitz eines Hausschlüssels überflüssig mache …

Resi sagte:

Die Hauptsache, Herr Baron, bleibt immer die, daß Sie sich nicht bestehlen lassen! In Wien stiehlt alles! Nicht blos die Raizen und Rastelbinder – das sind noch die ehrlichsten von allen! Nur draußen in der Vorstadt, aber auch da nur in der alleräußersten, gibt's noch[169] ein bissel Ehrlichkeit! Ganz verlassen könnens »Ihnen« blos auf die Ungarn! Sonst stiehlt in Wien alles … Die Raizen stehlen weil sie's brauchen … Die Italiener stehlen, weil sie die Ehrlichkeit für einen Mangel an Geist halten … Die Böhmen stehlen, weil sie so wißbegierig sind … Die Raben entschuldigen sich ebenso … Die Polen, lieber Dalschefski, nehmen Sie mir's nicht übel, die stehlen auch; sie haben das Bedürfniß, die Liebe ihrer Herrschaft in Prügeln bewiesen zu bekommen … Ja und alle diese Motive zum Stehlen lassen sich noch hören … Aber die schlechteste Nation, Professor Biancchi, sind in diesem Punkt allerdings die Deutschen! Die stehlen aus dem ganz gemeinen Grund, dasjenige, was andern gehört, lieber selbst haben zu wollen … Ich sage das in voller Ueberzeugung und nicht blos deswegen, weil der arme Biancchi sich über das Schubert'sche Lied schon wieder ganz gelb geärgert hat und morgen am End' die Stund' hier absagen laßt …

In solche und ähnliche lustige Reden hinein wurden die Mäntel, die Shawls und Hüte aufgebunden …

Phantastisch aufgeputzt wurde Biancchi von Jenny und Dalschefski von der Resi … Große Shawls hüteten die geliebten alten Maestri vor »Verkühlungen« … Ein charakteristischer Zug aller gebornen Wiener war, daß sie nun noch einstimmig das Klima ihrer herrlichen Stadt verwünschten … Frau von Zickeles entwickelte sich jetzt erst in einer längern Rede … Angelika Müller pries dafür ihr Landhaus in der »Briehl« … Sie seufzte auf wie eine Märtyrerin, Benno, als[170] stünde sie an der Maximinuskapelle, zuflüsternd: Ich hoffe auf eine stille Stunde! … Harry Zickeles ließ sich nicht nehmen, Benno nach Hause zu begleiten … Alles schritt hinunter … Man trennte sich …

Herr von Pötzl benutzte Harry's Holen eines vergessenen Halsshawls, um Benno zu sagen:

Der Harry ist in Wien »Führer« par excellence … Wo wäre ein neu angekommener Name, den er nicht des Morgens auf den Graben spazieren geführt und des Abends nach Hause begleitet hätte! … Leo hat seine Wohlthätigkeitsdiplome, Percival seinen »Ahasver«, der Harry wird Ihnen noch sein »Album« anbieten … Dieses sechs Pfund schwere Buch folgt ihm nach Mailand, Paris und London … Was nur Namen hat in der wissenschaflichen, künstlerischen und gesellschaftlichen Welt, hat da mehr oder weniger hineingeschrieben: »Hommage à mon ami Zickeles!« Er ist der einzige Mensch, dem sich Meyerbeer, Thalberg, Liszt und andere Genien im Nachtkamisol und in Unterbeinkleidern beim ersten Morgenbesuch zeigen und – »Genirens Ihnen nicht, Meyerbeer, ziehen Sie sich ruhig an, Ihr Freund Harry Zickeles raucht die Cigarre!« –

O bitt' schön, lieber Herr von Zickeles (unterbrach er sich) – da sind Sie ja … Ja, Sie Charmantester … Nur keine Verkühlung … Mein Weg ist in die Josephstadt … Herr von Asselyn … Hab' mich unendlich gefreut … Aber ich hab' noch die Ehre – …

Auf die schärfste Satyre folgte der gemüthvollste Händedruck erst an Harry, dann an Benno, und nun wohnte Herr von Pötzl doch in der Josephstadt, während[171] ihn so lange, als er über Benno noch nicht im Reinen war, sein Weg auch über die Mölkerbastei und auf die Freyung geführt hatte …

Harry ergriff Benno's Arm wie den eines alten Bekannten und gab über den schnell davon Huschenden die Erklärung:

Herr von Pötzl ist sehr ein rangirter Mann – Witwer – ohne Kinder – Die Angiolina war seine Pflegetochter – Graf Salem ließ sie auf seine Kosten von ihm erziehen – Sonst ist er – ursprünglich, glaub' ich, ein verdorbener Architekt … Er hatte das Geschäft gepachtet, im Prater die Buden aufschlagen zu dürfen … Dann baute er selbst Häuser oder lieh Geld auf andere … Das hat ihn in die Höh' gebracht … Als seine Frau starb, verließ ihn die Angiolina und ihm war's ganz recht, denn er hat einen großen Nagel im Kopf und hieße gar zu gern der »Edle von Krapfingen«, was eine Besitzung ist, die ihm gehört ... Die Leute sagen – aber ganz unter uns – hier an dem Gebäude (Harry zeigte auf ein düsteres, Benno schon bekanntes Haus – die Polizei) kennt der Mann alle Hinter- und Seitenthüren … Nehmens sich ein bissel vor ihm in Acht … Wir haben allerhand Spitzln … Bezahlte und unbezahlte … Wenn Sie in der kleinsten Garküche speisen, so weiß man hier in dem Hause schon Abends, in was für Münze Sie bezahlt haben …

An dem stillen Priesterhause, Benno's Wohnung, mußten die lehrreichen Aufklärungen ein Ende nehmen …[172]

Ein großer eiserner Klopfer wurde noch von dem gefälligen Harry angeschlagen …

Die Thür ging auf … Benno nahm Abschied und versprach, wenn er morgen zeitig vom Schloß Salem zurückkehren sollte, die Einladung zum Mittagstisch anzunehmen, sonst aber jeden freien Augenblick in dem unterhaltenden, gastfreien, so zwanglosen Hause zuzubringen …

Nun schritt er durch matt erhellte Gänge und kam in seine stillen Zimmer, wo er suchen mußte, nach soviel kaum zu Ertragendem, das heute das Geschick ihm verhängte, im Schlummer die Kraft zu gewinnen für sein ferneres – »Freudvoll und Leidvoll«.

Quelle:
Karl Gutzkow: Der Zauberer von Rom. Roman in neun Büchern, Band 7, Leipzig 1860, S. 144-173.
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