Fünftes Capitel
Eine Scene

[793] Ackermann und Selmar trafen den eben angekommenen Justizrath in dem untern Zimmer, bei den Demoiselles Wandstabler. Verletzend genug für Ackermann's Gefühl war auch hier die Überraschung, daß sie beim Eintreten Schlurck in dem Versuch einer flüchtig scherzenden Umarmung der jüngern, der Lorette, Lore oder Laura Wandstabler antrafen ....

Ackermann ließ die Thür zu und blieb einstweilen draußen auf der Thorflur stehen. Der Knabe war vor dem Anblick bewahrt geblieben ...

Schlurck kam schmunzelnd, erhitzt, heraus und winkte, nach höflicher Begrüßung, ihm über die Treppe hinauf zu folgen. Er würde versuchen, sagte er, ob die Ärzte eine mündliche Unterredung zwischen Herrn Ackermann und dem Fürsten über das von ihm gemachte dankenswerthe, den Wünschen aller Gläubiger entsprechende Anerbieten erlaubten.

Ich habe nochmals, sagte Schlurck beim Hinaufsteigen mit prüfender und den Amerikaner scharf durchbohrender Miene, nochmals Ihre Offerten durchgelesen und bin vollkommen überzeugt, daß sie Sr. Durchlaucht genehm[793] sein werden. Sie stellen eine Caution von 10.000 Thalern und übernehmen die Pachtung sämmtlicher Güter des fürstlichen Hauses Hohenberg. Sie zahlen jährlich dreißigtausend Thaler in die Masse, um damit theils die Zinsen der Schuld, theils das Capital derselben allmälig zu tilgen und erbieten sich den Rest Ihrer Einnahme dem Fürsten zur Disposition zu stellen, nachdem Ihnen erstens die Verzinsung des Capitals, das Sie selbst in die Ökonomie stecken werden, gesichert ist und Sie für Ihre eigene Mühewaltung eine Summe von – wie viel war es? Tausend Thalern – ergänzte Ackermann.

Bester Freund, sagte Schlurck und blieb auf der Treppe, gerade an einer Statue stehen. Lassen Sie uns erst aufrichtig reden! Tausend Thaler! Was ist Das? Ich dachte heute früh, ich hätte Sie misverstanden und nun wiederholen Sie diese Bagatelle.

Überhaupt bin ich mit manchen Punkten noch nicht einverstanden, fuhr er fort. Wie können Sie bei so geringer Einnahme bestehen? Sie opfern ja Ihr Interesse dem eines Fremden! Sehen Sie hier! Das ist die Statue des Merkur. Ein bedeutsames Wahrzeichen. Es muß Sie an Ihren Vortheil erinnern. Merkur war der Gott des Handels ....

Und der Diebe! sagte Ackermann scharf einfallend.

Schlurck hob den Kopf, zog die Brille etwas in die Höhe und fixirte mit halb unbewaffnetem Auge, mit dem er in der Nähe besser sah, diesen seltsamen Ein fall.

Ganz recht! sagte er und machte ein eigenthümliches[794] Zeichen, das Ackermann als Freimaurerzeichen erkannte, ohne es jedoch zu erwidern.

Schlurck wollte sich über diesen neuen Generalpächter orientiren, blieb immer noch stehen und wiederholte seine Bemerkung:

Aber – ob des Handels oder der Diebe, gleichviel ... Sie opfern ja Ihr Interesse dem eines Fremden! Tausend Thaler!

Das ist meine Sache, sagte Ackermann. Genügen Ihnen meine Zeugnisse, meine Cautionsanerbietungen, meine Vorschläge für die Creditoren, so hab' ich nur die Absicht, mein Vermögen sicher anzulegen und im Übrigen durch diese Verwaltung Gelegenheit zu haben, gewisse Grundsätze der Landwirthschaft, die ich auch als Kenner und Theoretiker treibe, praktisch anzuwenden. Die natürliche Beschaffenheit dieser Güter kommt meinen Ideen entgegen. Die Ökonomie auf ihnen ist mehr vernachlässigt als irgendwo und doch sind es wieder meist dieselben Fehler, die überall in Europa gemacht werden. Ich habe mir die Gelegenheit angesehen, die ich an Ort und Stelle günstig genug gefunden habe, etwas Tüchtiges zu schaffen und wenn ich fast für gewiß voraussehe, daß Sr. Durchlaucht noch zwanzigtausend Thaler reinen Gewinns übrig behalten werden, so können Sie schon getrost eine so vortheilhafte Anerbietung eingehen.

Schlurck blieb, da man inzwischen weiter gegangen war, oben auf dem Corridor stehen und lehnte sich an das Gitter der Treppe.[795]

Hm! hm! sagte er dehnend. Es ist aber doch nöthig, daß wir ganz im Reinen sind, ehe wir den Versuch machen, die Meinung des Prinzen zu hören – Die bisherige Verwaltung durch die im Dienste Sr. Durchlaucht Angestellten beträgt etwa sechstausend Thaler. Sie war früher viel größer. Seit zwei Jahren hab' ich sie auf das Nöthigste reducirt. Dies Budget werden Sie ... wovon bestreiten?

Von den Einkünften des Bodens, aber auch von den Renten und Gefällen, die an die Gutsherrschaft gezahlt werden.

Bester Freund, sagte Schlurck, Renten, Gefälle.. die sind meist aufgehoben ...

So wurden sie abgekauft, sagte Ackermann. Dies Capital legt man an und erzielt davon eine Rente, die um so angenehmer ist, als nun durch keine böse Verstimmung mehr das Verhältniß des Grundherrn zum Bauer getrübt wird ....

Das Capital? sagte Schlurck lachend. Ja, guter Mann, Das, was die Bauern schon eingezahlt haben, ging längst in die Masse!

O! das war höchst ungerecht, das war unverantwortlich! sagte Ackermann.

Wie so? fragte Schlurck und rückte die Brille wieder empor.

Das war unbillig, wiederholte Ackermann. Sie konnten dulden, daß man so die Rechte des Erben verkürzt? Die Laudemien waren eine jährliche Rente. Von dieser Rente, von diesen Zinsen durften die Gläubiger nehmen.[796]

Die Ablösungssummen aber sind ein ganzes Capital, das an den Gütern haftet. Sie konnten sozusagen eine Ernte verkaufen, aber nicht den ganzen Boden.

Als Ackermann so laut und in den gewölbten Räumen widerhallend sprach, öffnete man die Thür.

Ein Frauenzimmer blickte heraus und schien eben in einen Strom von Scheltworten sich ergehen zu wollen, als sie erschrocken den Justizrath erkannte und ihrer Zunge augenblicklich Stillschweigen gebot.

Wie geht es Sr. Durchlaucht? fragte der Justizrath ruhig und bei sich über den Wahrheitsfanatismus dieses imposanten Landwirthes lächelnd.

Die Dame antwortete mit großer Unterwürfigkeit, daß die Ärzte im Zimmer wären, Niemanden zuließen und ihre Befehle nur dem französischen Bedienten mittheilten, den Se. Durchlaucht aus Paris mitgebracht hätten.

Wir Alle stehen hier in schmerzlicher Erwartung, sagte sie mit gewähltem, etwas geziertem Tone.

Dabei öffnete sie die Thür und schien Schlurck ein laden zu wollen, in den Vorsaal einzutreten ...

Es standen da einige fremde Bediente, andere saßen. Der alte Wandstabler ruhte auf einem Polstersessel und wischte sich die Thränen, die auf seinen grauen, heute nicht sehr gewichsten Schnurrbart rollten ... Es waren dies, da er unten schon oft nach den Schlüsseln gesehen hatte, Thränen sehr zweideutigen Ursprungs.

Die Sprecherin war Demoiselle Florette Wandstabler, seine Tochter. Sie erzählte flüsternd, daß der Prinz drei[797] Zimmer weiter läge, in der hochseligen Durchlaucht Schlafgemächern ... daß er im Fieber phantasire und nur auf Augenblicke bei Besinnung wäre ... Der Unglücksfall errege das allgemeinste Interesse. Alle hohe und höchste Herrschaften schickten stündlich und ließen Nachfrage halten ... Diese beiden Bediente dort gehörten der Gräfin d'Azimont, die jede halbe Stunde einen Rapport haben müsse.. Diese schöne bewunderungswürdige Dame hätte selbst an sein Lager fliehen wollen ... wäre schon auf diesem Vorsaale gewesen.. aber die dringendsten Befehle der Ärzte hätten gerade sie am meisten entfernt gehalten. Der französische Kammerdiener Monsieur Louis hätte sich ihr mit Entschlossenheit entgegen geworfen.. der wäre noch strenger, als die Ärzte.. und Sie kennen Sanitätsrath Drommeldey! schloß sie.

Selmar, der alle diese Mittheilungen anhörte, faßte krampfhaft die Hand seines Vaters, dem sich eine Thräne ins Auge schlich ...

Schlurck ersuchte jetzt Beide, in ein Seitenzimmer vom Entrée links zu treten und einen Augenblick zu verziehen.

Ich sehe doch, sagte er mit scharfer und selbstzufriedener Betonung, daß diese Angelegenheit nicht so rasch wird erledigt werden können, wie ich gehofft hatte ...

Er zog halb die Thür zu und flüsterte wieder mit Florette Wandstabler.

Als Ackermann und Selmar allein waren, warf sich dieser an den Hals des Vaters und weinte.

Beruhige dich, mein Kind, sprach der Vater gerührt.[798]

Unser Freund ist jung und von einer ungeschwächten Natur. Die gütige Vorsehung wird ihn schützen.

Und siehst du nicht, fuhr er dann fort, daß es Menschen genug hier gibt, die auf seinen Zustand lauschen wie auf die Athemzüge des geliebtesten Menschen? Er ist in Sorgfalt und Pflege.

Hätt' er eine Schwester, sagte Selmar, einen Bruder! Hätt' er eine Mutter, einen so zärtlichen Vater, wie du! Wir könnten mit ruhigerem Herzen dies große, ängstliche Gebäude verlassen. –

Deswegen sei ohne Sorge! tröstete ihn der Vater mit besonderem Nachdruck, dieser feine, mehr schlaue als kluge Herr, der sich in meiner Person sehr zu irren scheint, ist der Vater jenes schönen Mädchens, mit dem er in Hohenberg und auf der Reise so leichtsinnig tändelte und die Gräfin d'Azimont hörtest du doch, eine vornehme und sehr gefeierte Dame aus Paris, diese nimmt vollends einen Antheil an ihm wie an einem Bruder. Sie liebt ihn ja! So denk' ich, wird er von zärtlicher Obhut nie verlassen sein ...

Beklemmend war es für Ackermann, daß auch in diesem höchst elegant eingerichteten Zimmer Vieles enthalten war, was er von Selmar nicht gesehen wünschte ... Auf einem Sockel von grauem Marmor stand in einer Ecke eine Copie der mediceischen Venus von Alabaster. Er konnte nicht hindern, daß Selmar sein Auge auf dies schöne Kunstwerk richtete; ja hätte er davon zu sprechen begonnen, so würde er jetzt auch ruhig geantwortet haben[799] wie über etwas Harmloses. Es that ihm leid, daß er sich vorhin im Garten von seinem Unwillen hatte fortreißen lassen und gerade das Arge erst vielleicht geweckt hatte dadurch, daß er es durch seine Entrüstung als arg hinstellte.

Nach einiger Zeit ängstlichen Wartens trat dann Schlurck leise und schleichend wieder ein, nahm Platz und sagte mit verstimmter Miene:

Der Prinz hat das Nervenfieber, eine Krankheit ebenso gefährlich wie langwierig. Man wird nichts abschließen können, mein Bester ... Lassen wir dies Geschäft. Sie kommen aus Amerika? Darf ich ....?

Ackermann, von gewaltiger Unruhe getrieben, lehnte die dargereichte Dose ab und erwiderte:

Gerade jetzt ist vielleicht noch der einzige günstige Augenblick! Ein langwieriges Übel schiebt die Entscheidung auf unbestimmte Zeit hinaus. Kommen Sie, wir sprechen die Ärzte!

Unmöglich, sagte Schlurck und hielt Ackermann zurück. Wo denken Sie hin? Auch bin ich selbst, aufrichtig gestanden, mit Ihren Vorschlägen nicht ganz einverstanden. Sie bedingen sich nur Tausend Thaler eigenen Gewinnes. Ich finde Das mindestens gesagt auffallend ... Welches Interesse können Sie haben, sich solcher Mühe, so vielen Plagen zu unterziehen und dafür einen so geringen Entgelt zu beanspruchen?

Das ist ja meine Sache! wiederholte Ackermann.

Ihre Äußerung über die Capitalisirung der Laudemien,[800] fuhr Schlurck fort, frappirt mich; denn ich weiß in der That nicht, da ich die ganze Last dieser Überschuldung auf mir liegen habe, wie ich es mit den laufenden Ausgaben z.B. für die noch nicht an den Staat übergegangene Gerichtspflege und etwa ein Dutzend Angestellter des Fürsten halten soll. Sie haben ganz Recht, Herr Ackermann, daß es Unrecht war, ein Capital, von dem nur die Rente disponibel hätte sein sollen, zur Masse zu schlagen. Aber ein Familienstatut, ein Majorat existirt nicht. Was thun, um diese Löcher all zu stopfen?

Ich will, sagte Ackermann, in ruhiger Auseinandersetzung, ich will noch die sechstausend Thaler für Gerichtspflege und Amtskosten auf den Ertrag der Güter mit übernehmen, wenn ich die ganze Verwaltung der Grundrenten mit überkomme und mir die Ablösungen zur Verfügung und Durchsicht gestellt werden.

Schlurck erhob sich, schüttelte mit dem Kopfe und sagte:

Alles recht schön! Recht schön! Aber man kann Das nicht übers Knie brechen! Es thut mir leid –

Damit deutete er an, daß die Unterhandlung abgebrochen wäre.. Offenbar erfüllte ihn das sonderbare Drängen dieses Landwirthes mit Mistrauen. Er sah in ihm etwas Andres als einen Ökonomen, der nur landwirthschaftliche Versuche anstellen wollte. Die Zumuthung, Einsicht in die Bücher zu bekommen und gleichsam die frühere Verwaltung zu controliren, war ihm vollends lästig. Er war sich zwar, soweit er sich auf Bartusch verlassen konnte, keiner[801] auffallenden Verstöße bewußt, fürchtete aber doch alles Schroffe, Übereilte, Leidenschaftliche und das Allzuwißbegierige und Unbequeme ohnehin.

Da Ackermann nicht nachgab, so antwortete er, um nur eine Ausflucht zu haben:

Überdies gesteh' ich Ihnen, wir haben noch andere Anerbietungen, die vielleicht günstiger sind.

Er wollte gehen und kniff Selmar'n freundlich wie zum Abschied in die Backen.

Ackermann schwieg einen Augenblick, fixirte dann aber noch einmal den offenbar sich unbehaglich fühlenden Mann und sagte mit vieler Ruhe und Kälte:

Herr Justizrath, wenn ich die Verwaltung der Güter bekäme, würd' ich erkenntlich sein. Ich bot zehntausend Thaler Caution und verlange nichts, gar nichts vom Fürsten, um in die Ameliorationen etwas hineinzustecken.. Ich gebe das Alles selbst her, weil ich leidlich vermögend bin. Es ist mir nur um die Gelegenheit zu thun, eine große Wirthschaft zu führen und den deutschen Landwirthen amerikanische Erfahrungen zu zeigen.. Ich biete Ihnen ein kleines Gratial.. zweihundert Louisd'ors ... Herr Justizrath, wenn wir ins Reine kommen.

Dies gewagte Wort sprach Ackermann ganz ruhig hin und legte nicht den geringsten Accent darauf.

Schlurck aber sah ihn von der Seite an, zog seine Dose, nahm eine Prise und machte eine sehr lange Pause. Dann wandte er den Kopf empor, lächelte, schnellte den Rest des Tabacks aus den Fingern und sagte:[802]

Hm! Hm!

Noch einmal dann den Fremden, der ihn sicher und vertrauend und seines Mannes gewiß anblickte, fixirend, fragte er mit einem Tone, der etwa sagen wollte, als verstünde sich Das von selbst:

Jährlich?

Es war ein gewagtes Wort dies Jährlich! Es ließ einen tiefen, gefährlichen Blick auf Schlurck's Lebensphilosophie und die ganze Geschichte seines Berufes werfen ... Er sprach es aus, nicht etwa mit gemeiner schmeichelnder Gewinnsucht, die ihm fremd war. Er sprach es mit dem Tone eines Weltmannes, der gleichsam zum Andern sagen wollte: Die ganze Welt ist eine Komödie, wo Einer den Andern prellt. Was wollen wir Narren sein und die Tugend lieben?.. Der alte Fürst hatte ihm ja immer erlaubt, bei Gelegenheiten, wo er den Mäkler machte, auch an sich zu denken und von den geschriebenen Rechnungen allein war der ungeheure Aufwand, den er machte, nicht zu bestreiten.. Er fand es in der Ordnung, daß er bei einem guten Dienst, den er dem Andern leistete, auch eine Erkenntlichkeit für sich in Anspruch nehmen durfte ... Aber ... »Jährlich?«.. diese Frage war doch gewagt. Es war ihm eigentlich fremd, so zu feilschen und sein Gewissen in Fallen zu locken. Er liebte es nicht, daß er fodern sollte; er nahm, was man gab. Seine Lebensphilosophie haßte das Moralisiren auch nach dieser Seite hin und wenn man ganz die Wahrheit sagen will, so war er im Grunde doch viel weniger schlecht, als er sich im Allgemeinen[803] schlecht gab. Es war ihm eine solche Bestechungs-Angelegenheit nur der Humor des Lebens, der uns die Langeweile der Alltäglichkeit ausschmückt. Er hielt sich auch nicht lange bei solchen Verhandlungen auf und hätte vielleicht jetzt, wenn Ackermann die Achseln gezuckt und gesagt hätte: Nein, nur Einmal! Jährlich ist mir zu viel! gelacht und die tausend Thaler hingenommen, die er brauchen konnte, trotzdem, daß man ihn für reich erklärte.. Er war nicht reich. Er nahm viel ein und daß er viel einnahm, dazu gehörte gerade, daß man sich über tausend Thaler, in Gold baar auf den Tisch gelegt, nicht zuviel weitläufige Scrupel machte ...

Aber schlimm! Tausend Thaler auf einmal waren Schlurck nichts werth, wenn er die Administration dafür auf immer in andere Hände geben sollte. Er behielt zwar die Controle des Generalpächters, er vermittelte zwar die Ansprüche der Gläubiger, aber es trat ein neuer Mensch in seine Kreise ein, zwei neue, scharfe Augen sahen in seine Bücher und das für einmal eintausend Thaler in Gold? Das hätte ihm in diesem Falle lächerlich erscheinen müssen und deshalb wiederholte er noch einmal:

Jährlich?

Aber nun war es übel, daß auf Ackermann dies Wort fatal wirkte. Es war dies ein leidenschaftlicher Mann; die ganze Situation peinigte ihn schon lange. Er wollte mit seinem kleinen einfachen Anerbieten nur Schlurck auf den Zahn fühlen, in welchem Sinne dieser Herr wol des Prinzen Egon Güter verwaltete. Er hatte vielleicht Wunder[804] geglaubt, was er schon dem Gelüsten des Unrechts für einen gewaltigen Köder entgegenhielt. Als aber mit der Frage: Jährlich? ihm die Zumuthung eines perennirenden Betrugs gegen den Fürsten gestellt wurde, übermannte ihn so der Zorn, daß er glühend von Unwillen bei Wiederholung des Schlurck'schen »Jährlich« ausrief:

Nein, Schurke, nie!

Schlurck sank fast in einen Sessel.

Selmar sprang herbei, faßte die Hand des Vaters ...

Dieser ließ ihm den Hut, wie zum Aufbewahren, riß die Thür auf, stieß Schlurck zurück und sprach mit Donnerstimme, daß es Alle draußen hörten und ihn für wahnsinnig halten mußten:

Laßt mich zum Prinzen! Ein lichter Moment wird hinreichen, ihn vor Verräthern zu schützen!

Er stürmte mit diesen Worten auf die Thür zu, die zu den Zimmern des Fürsten führte.

Schlurck saß regungslos. Diese Scene! Diese Zuhörerschaft! Dies plötzliche Erlebniß, das er sich nicht hatte träumen lassen! Das war wie ein Einfallen des Himmels. Wie kam ihm denn Das? Ihm? Hier? Unter solchen Umständen? Hier bei der ihm wohlbekannten alabasternen Venus von Medicis ... Scenen! Scenen! Sie waren nie seine Sache gewesen. Er konnte geistreich, witzig, liebenswürdig sein; es war ein Mann sogar von Mitgefühl, von milder Gesinnung, von Wohlthätigkeit; er konnte auch einmal etwas begehen, was gewagt und gefährlich war. Aber still mußt' es dabei sein, die Leidenschaften mußten[805] schweigen, das Tollhaus der »Tugend« sich nicht entleeren, Scenen mußten wegfallen ... Daß er hier jetzt nur schon so auf den »Schurken« antworten mußte, so doch hinzuspringen, um den gefährlichen Mann von der Thür wegzureißen, das war ihm entsetzlich ... Einmal an sich entsetzlich, der Thorheit wegen, die er sich vorwerfen mußte, dann aber auch ebenso entsetzlich wegen der Exaltation, die solche Dinge in seinem träge rinnenden Blute hervorriefen ... O, er war einer Ohnmacht nahe.

Sein Schrecken wuchs, als sich die Thür öffnete, die Ärzte herbeistürzten und zornig nach der Ursache des Lärmens fragten ...

Ackermann, noch in der vollen Glut seiner Entrüstung, rief:

Meine Herren! Lassen Sie mich den Prinzen sprechen! Er kann davon nicht sterben, wenn ein Freund zu ihm spricht! Es wird ihn erquicken, wenn er sieht, daß es noch Menschen gibt, die ihn lieben und für ihn leben wollen.

Noch hatte er kaum zum unwilligsten Erstaunen der Ärzte, unter denen sich glücklicherweise Sanitätsrath Drommeldey nicht befand, diese Worte geendet, als ein junger Mann aus den Zimmern, deren Thüren nun alle offen standen bis in das dunkle hintere Schlafcabinet, heraustrat. Er war von mittler Statur, blassen gefälligen Mienen; das schwarze Haar lag kurz geschnitten auf dem Scheitel und erhöhte den Ausdruck des theilnehmend besorgten freundlichen Antlitzes. Nichts verrieth einen Dienenden.. Schwarzer Frack und schwarze Beinkleider[806] standen ihm wie einem Weltmann, doch war das Halstuch nur lose geknüpft und ließ durch den umgeschlagenen Hemdkragen in dem Eintretenden eher einen Studenten, als einen Kammerdiener, was er nach Florette Wandstabler sein sollte, erkennen. Die Hände entsprachen nicht ganz dem gefälligen Charakter des Gentlemans, sie waren zu stark im Vergleich zur Proportion der übrigen Formen und hatten nicht jene Weiße des Gesichts und des Halses, die zu dem schwarzen glänzenden Haare so auffallend abstach. Kinn und Oberlippe waren mit einem schöngekräuselten Barte geziert.

Was gibt's hier? fragte der Eintretende mit strengem, fast befehlenden Blick in französischer Sprache.

Ackermann zog die Thür an, die der Franzose noch in der Hand hielt und begann im beredtesten Französisch wie der gebildetste Weltmann sein Anliegen auseinanderzusetzen.

Mein Herr, rief er stürmisch erregt und ohne viel die Worte zu wählen; Sie sind ein Freund des Fürsten, denn er duldet Sie an seinem Krankenlager. Sagen Sie ihm, daß ein bemittelter und erfahrener Ökonom aus Amerika sich anbieten wollte, seine Güter zu verwalten. Sagen Sie ihm, daß dieser Mann dabei nicht das Interesse seiner eignen Bereicherung im Auge hat, sondern die Wohlfahrt des Besitzers. Er erbietet sich eine Caution von zehntausend Thalern sogleich zu zahlen als Bürgschaft seiner Treue und Ehrlichkeit. Er erbietet sich, die Hälfte seiner reinen Einnahmen auf die Befriedigung der Gläubiger[807] des Fürsten, die andere aber zur Befriedigung der Bedürfnisse des Fürsten selbst zu verwenden. Beide Summen werden Dank der Erfahrungen, die der fremde Landwirth machte, Dank seines ehrlichen Willens, groß genug sein, um ihren Zwecken zu entsprechen. Der Zuschlag müßte mindestens auf zehn Jahre geschehen. Die Capitale, die der fremde Mann auf seine Verbesserungen verwendet, gibt er selber her, unter der Bedingung, daß ihm eine Hypothek auf die Güter und die richtige Verzinsung gestellt wird. Für sich selbst verlangt er nur die Summe von jährlich tausend Thalern. Sagen Sie dem Fürsten, daß ich mich durch den Augenschein überzeugt habe, wieviel sich für seine Besitzungen noch thun läßt. Sagen Sie ihm das sogleich, mein Herr, ehe die Krankheit, die den jungen Prinzen bedroht, weitere Fortschritte macht und einen Zeitverlust verursacht, der in Rücksicht auf die nächstjährige Ernte nicht wieder eingebracht werden kann. Nennen Sie ihm meinen Stand und Namen! Ich bin ein Deutscher, komme aus Amerika, heiße Ackermann und biete alle Garantieen. Der Justizrath Schlurck ist zugegen, um die Willensmeinung des Prinzen in Empfang zu nehmen und die Urkunden aufzusetzen.

Der Franzose hatte ruhig, aufmerksam und ernst zugehört.

Monsieur, un instant! sagte er und kehrte in die Krankenzimmer zurück.

Ackermann sah nun in höchster Spannung um sich.[808]

Alles haftete an ihm. Die Bedienten, die Ärzte standen starr. Selmar schmiegte sich an den Vater und hielt ihm die eine seiner Hände, in denen man das Blut klopfen fühlte. Schlurck leichenblaß und im höchsten Grade mit sich selber unzufrieden, stand in einiger Entfernung am Fenster des Vorzimmers, klopfte mit seinem Stöckchen wie in der Zerstreuung an die Scheiben, Florette Wandstabler schlich sich zu ihm heran und fragte besorgt:

Was haben Sie, Herr Justizrath? Was ist Das nur?

Wer ist der Franzose? fragte Schlurck fast tonlos.

Monsieur Louis, antwortete diese ebenso leise. Sr. Durchlaucht gab gleich nach der Ankunft von Paris Befehl, diesem Franzosen in Allem zu gehorchen. Erst seit gestern wohnen Durchlaucht hier und Monsieur Louis sind erst eingezogen, seitdem Durchlaucht sich für krank erklärten. Denken Sie sich! Anfangs trug dieser Louis ein Überhemd wie ein Fuhrmann und wohnte vorm Thore in einem elenden Gasthofe. Jetzt erst, wo er beim Fürsten wacht, hat er sich so fein gekleidet. Die Gräfin d'Azimont, die heute früh hier fast in Ohnmacht lag, haben die Ärzte und Monsieur Louis mit Gewalt von Sr. Durchlaucht fern gehalten. Wir werden schlimme Dinge erleben, gleichviel, ob der junge Herr lebt oder stirbt ... was übrigens Gott verhüten möge ...

Schlurck erwiderte auf diesen Bericht nichts, wandte sich auch nicht nach ihr um, sondern sah auf die Straße hinaus. Er fürchtete, wenn er sich wandte, dem zermalmenden Blicke Ackermann's zu begegnen, den er überdies[809] für einen jener exaltirten Menschen aus der Schule des Heidekrügers Justus hielt. Alle Störungen der einfachen Lebenslogik waren ihm im höchsten Grade zuwider, vollends aber Phantasterei ... Ackermann stand da wie ein antiker Heros. Das Feuer des Zornes hatte alle seine Züge gehoben. Das braune lockige Haar, das nur wenig an den Spitzen hier und da schon graute, hatte sich fast aufgerichtet. Die Nasenflügel zitterten. Flammen eines jugendlichen Muthes blitzten aus den Augen und ließen erkennen, daß Ackermann sicher einst in seiner Jugend ein so schöner Jüngling war, wie noch jetzt ein imposanter, anziehender Mann.

Theatereffect! brummte Schlurck vor sich hin. Ich wette, es ist ein verdorbener Schauspieler ...

Und doch sagte er sich:

In dem Stück spielst du eine miserable Rolle!

Die Thür ging wieder auf.

Louis trat herein und sagte mit Ruhe und Anstand auf Französisch zu Ackermann:

Entschuldigen Sie, mein Herr, der Prinz ist zu angegriffen, um die Verhandlungen mit Ihnen selbst zu führen. Auch verbieten es die Herren Ärzte. Er frägt, ob er das Anerbieten, das Sie ihm stellen, mein Herr, die Ehre hat von einem Amerikaner, Namens Ackermann, zu empfangen, der in Begleitung eines kleinen Knaben vor einigen Tagen am Fuße des Schlosses Hohenberg war und dort die Bekanntschaft eines jungen Mannes, Namens Dankmar Wildungen machte?[810]

Ja, mein Herr, sagte Ackermann freudig erregt. Und auf seinen Knaben zeigend, setzte er hinzu:

Der bin ich. Das ist mein Sohn dort! Der Name Dankmar – wie sagten Sie?

Dankmar Wildungen! war die Antwort.

Ackermann schien plötzlich überrascht von diesem Namen, den er in Hohenberg nicht gehört hatte und den sich, wie er glaubte, der Fürst selbst gab.

Wildungen! Wildungen! wiederholte er.

Eine neue ihn befremdende Gedankenreihe schien über ihn zu kommen ...

Der Franzose wiederholte ein wenig dringender, aber artig, ob er jener Herr wäre?

Ja, sagte Ackermann, der bin ich; mein Knabe dort – ist es auch. Aber Wildungen? Wie kommt dieser Name hieher?

Es genügt, sagte der Franzose, daß Sie Herr Ackermann sind und in Begleitung Ihres Herrn Sohnes vor einigen Tagen in Plessen, am Fuße des Schlosses Hohenberg, sich aufhielten..

Damit entfernte er sich ...

Ackermann stand sinnend, strich sich über die Stirn und wiederholte:

Wildungen? Dankmar Wildungen? Warum Wildungen!

Schlurck hörte alle diese Verhandlungen mit gekniffenem Lächeln an. Waren sie ihm schon an sich peinlich, weil sie die Vorboten großer Störungen seiner Einkünfte[811] schienen, trübten sie ihm schon an sich den Humor, mit dem er das Leben zu fassen gewohnt war, so mußte er im höchsten Grade überrascht sein, hier Alles bestätigt zu finden, was er von Bartusch und Paulinen über die seltsamen Abenteuer auf Hohenberg vernommen hatte.. Der junge Prinz war auf Hohenberg gewesen, war unstreitig ein und dieselbe Person mit jenem Dankmar Wildungen, von dem er noch immer nicht mehr wußte, als daß er von ihm etwas erfahren hatte, was er ins tiefste Dunkel gehüllt glaubte, den Fund jenes räthselhaften Schreines an der Schmiede im Mondenlicht; er konnte keinen Zusammenhang, kein klares Licht mehr entdecken. Er sah nur noch jenes Kreuz mit den vierblättrigen Kleeblatt-Enden, das ihm in jener Nacht, als er aus dem Justizamte zurückkam, plötzlich an dem zerbrochenen Wagen eines verwundeten Fuhrmannes in die Augen fiel. Er gedachte des gewaltigen Eindruckes, den ihm da so plötzlich mitten in der Nacht eine Erinnerung an seinen großen, wichtigen Proceß über den Nachlaß einer geistlichen Ritterschaft machte, er gedachte der Mittel, die er brauchte, um die Familie Zeck zu überreden, verschwiegene Zeugen einer Aneignung zu werden, die fast auf einen Raub hinauslief ... er sah sich da von einem Netz umstrickt, in dessen kunstvoller Anlage auch die kleine weiße knöcherne Hand und das rothe Haar Fritz Hackert's ihm plötzlich entgegenfuhren, er sah um sich Gestalten, die die Zähne fletschten, hörte ihr teuflisches Hohnlachen, fühlte den Boden unter sich wanken ... und faßte sich erst, als wieder[812] die Thür aufging und Monsieur Louis zu Ackermann sagte:

Mein Herr! Der Prinz läßt Ihnen sagen, Sie wären ihm durch die Erinnerungen an Hohenberg und Dankmar Wildungen zu gut empfohlen, als daß er nicht mit Freuden die Gelegenheit ergreifen sollte, das unglückliche Schicksal seines Erbes herzlich gern Ihnen anzuvertrauen. Sollte ich sterben, fügte der Fürst mit Standhaftigkeit hinzu, so wird die Seitenlinie unsres Hauses gewiß meinen Willen ehren, den ich die Herren Ärzte zu bezeugen bitte ... Die Herren Ärzte waren anwesend. Der Prinz hat darauf befohlen, daß Herr Schlurck die ganze Verwaltung der Güter Herrn Ackermann übergibt und an ihr nur noch als Vertreter der Ansprüche der noch unbefriedigten Gläubiger betheiligt bleibt. Über dies Alles wollen Sie, mein Herr, in diesen Tagen gerichtliche Akte nehmen lassen! Die Ärzte sind Zeugen und ich selbst bin es, Louis Armand, gebürtig von Lyon.

Die wiederzurückgekehrten Ärzte bestätigten diese Äußerung, die Schlurck mit unfreiwilligem Lächeln entgegennahm.

Louis Armand war sogleich wieder in die dunklen Krankenzimmer zurückgekehrt.

Er wird leben! Der Prinz wird genesen! rief Ackermann und eine Thräne trat in seine Augen, während Selmar die seinen verbarg, um nicht zu sehr zu verrathen, wie der Ausdruck seiner Empfindungen sie schon längst feuchtete ...[813]

Nachdem Schlurck mit einem schweren Seufzer sich noch kurz geäußert hatte, in seinem Bureau würde Herr Aktuar Bartusch zu jeder Zeit und wenn man wünschte, noch heute die nöthigen Aufklärungen ertheilen und auch die Akte aufsetzen, die man gerichtlich niederzulegen hätte, schritten Ackermann und Selmar, Vater und Sohn, langsam und schweigend, aus dem Zimmer. Der Stolz, verklärt vom Schmerz der Liebe, ist ein Weiheaugenblick des Menschen, wo er am größten erscheint, auch ohne äußerlich zu triumphiren. Ackermann war zu großmüthig, um auf Schlurck verächtlich herabzublicken.

Florette Wandstabler aber trat zu Schlurck heran und flüsterte:

Herr Justizrath, ist denn das Alles gut?

Ihr Vater, der phlegmatisch, weinerlich und halb berauscht, dieser Scene stehend beigewohnt hatte, trat gleichfalls, fast hinkend auf seinen eingeschlafenen dünnen Beinen, deren Schuhe und Strümpfe in lächerlichem Contraste zu der ganzen dicken soldatischen Figur und dem Schnurrbarte standen, zu dem Justizrath heran, der bisher ihrer Aller Schutz und Hort gewesen war und drückte Das, was er ungefähr fühlte, durch einen fragenden, tiefgezogenen Seufzer aus.

Schlurck, sich zum Gehen wendend, sagte draußen unbelauscht von den Dienern, denen durch die französische Sprache diese aufgeregte Scene nicht ganz verständlich geworden war:[814]

Ja! Ja, seufzt nur Leute! Les jours de fête sont passés... französisch sprechen kann ich auch ...

Florette faßte draußen seine Hand und meinte noch besorglicher:

Also es ist nicht gut?

Mit einem verzweifelten Versuche, seine alte Heiterkeit wieder zu gewinnen, antwortete Schlurck:

Mädchen, macht, daß Ihr Männer kriegt! Dem oben werdet Ihr keine Bäder machen und hübsche Schmetterlinge fangen. Maikäferchen fliege! Schlaraffenland ist abgebrannt.

Aber den Franzosen hätt' ich mir ganz anders gedacht, sagte Florette ...

Beißt wol nicht an, der Schwarzkopf? erwiderte Schlurck. Alte Künstlerin, da müssen jüngere Hexen kommen!

Die Lore ist noch recht hübsch ... meinte doch Florette.

Und in der That stand Lore Wandstabler unten und wartete mit Dore, der mittleren Schwester ...

Sie hatten sich, da sie alle mager und schwarz waren, mit grellen Farben geschmückt.. und standen recht verfänglich da. Sie hatten das Schmiegsame und Hingebende so in der Übung, daß sie den Justizrath, wenn man sagen will, ebenso gut umstanden, wie schon umarmten ....

Aber er hatte heute keinen Geschmack für ihre lacertenartige Zärtlichkeit.

Katzen, sagte er halb scherzend, halb ärgerlich, laßt mich heute los! Und überhaupt ... setzte er hinzu, als sie[815] ihm für seine Stimmung doch zu schmiegsam wurden.. Ihr seid mir immer zu mager gewesen.

Mit dieser Grobheit ließ er die erschrockene Familie Wandstabler in Erstaunen und großer Bekümmerniß zurück.. so unhold war er ja nie gewesen.

Die Mädchen sahen sich fragend an, begleiteten ihn bis an das geöffnete Portal und staunten, welchem ruhigen, nachdenklichen Schlendergang sich heute der Justizrath ergab. Franz Schlurck, der sonst hüpfte und immer verrieth, daß die Welt eine Kugel ist, auf der sich Alles dreht und wendet ... schlich heute schneckenartig.

Wir zweifeln fast, ob unser alter Freund sich jetzt noch beim Italiener Lippi zur griechischen Weinprobe einstellen wird.

Es drückten ihn drei Widersprüche und eine Thatsache.

Erstens: War Prinz Egon jener Dankmar Wildungen vom Heidekrug, der gegen seine Familie und vorzugsweise Melanie so liebenswürdig sich benommen hatte, wie kam er jetzt auf diese offenbare Feindseligkeit?

Zweitens: Welche Bewandtniß hatte es mit den Andeutungen, die er von Bartusch über die Abenteuer auf dem Heidekruge erhielt und von denen er sich so viel gemerkt hatte, daß er glaubte, ein dem Prinzen werthvolles Bild befände sich noch gegenwärtig in den Händen seiner Tochter?

Drittens: Was sollte er auf die leidenschaftliche Caprice bauen, die seine Tochter plötzlich für jenen Mann gefaßt hatte, den sie für den Prinzen Egon hielt und der von[816] seinem gefundenen Schrein mit dem Kreuze sprechen konnte?

Das waren die Widersprüche.

Die Thatsache aber hieß:

Du hast die Administration des Fürstenthums Hohenberg verloren!

Er beeilte seine Schritte, um daheim für das Chaos der Widersprüche, in dem er sich befand, bei Melanien Licht, für Das aber, was unumstößliche Gewißheit war, heute einmal wieder seit lange bei der lebensfrohen Philosophie seines guten Hannchens Trost zu suchen.[817]

Quelle:
Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. [Band 1–3], Frankfurt a.M. 1998, S. 793-818.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Ritter vom Geiste
Die Ritter Vom Geiste (5-6); Roman in Neun Buchern
Die Ritter Vom Geiste: Roman in Neun B Chern
Die Ritter Vom Geiste: Roman in 9 B Chern, Volume 1
Die Ritter Vom Geiste: Roman in Neun Büchern, Volume 2 (German Edition)
Die Ritter Vom Geiste: Roman in Neun Büchern, Volume 6 (German Edition)

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Der Hungerpastor

Der Hungerpastor

In der Nachfolge Jean Pauls schreibt Wilhelm Raabe 1862 seinen bildungskritisch moralisierenden Roman »Der Hungerpastor«. »Vom Hunger will ich in diesem schönen Buche handeln, von dem, was er bedeutet, was er will und was er vermag.«

340 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon