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[74] Jeronimo hatte früher eine glänzende Wohnung besessen, jetzt mußte er sich einschränken. Er trat in Paris mit all dem Glanze auf, der der Wiederschein seines Vermögens war; jetzt hatte ihn eine unglückliche Leidenschaft so gebeugt, daß er nicht einmal das Schmerzliche seiner gegenwärtigen Lage empfand. Er dämmerte in seiner Idee hin. Er gab alles seinem Bruder, seitdem er keine Bedürfnisse mehr kannte. Sein ganzes Vermögen wurde Luigi verschrieben. Zuweilen, am frühsten Morgen, wenn noch keine Seele auf der Straße war, besuchte ihn dieser und stieg die vier Treppen hinauf, über denen Jeronimo wohnte. Denn er wollte nicht, daß sein Bruder irgendeinen Groll gegen ihn faßte. Er gab sich immer das Ansehen, als sorgte er väterlich für den Verlassenen, als bewahre er ihm seine Glücksgüter, die in seiner trüben Seelenstimmung ihm doch eine Last sein würden. So hatte er auch eines Morgens bedächtig an die Tür der kleinen Kammer gepocht, welche Jeronimo bewohnte. Er trat hinein und fand seinen Bruder lang ausgestreckt auf einem schlechten Bett, dessen er sich als eines Sofa bediente. An den kahlen Wänden hingen einige schlechtgemalte Heiligenbilder. Auf den Kissen rings lagen die zerstreuten Bestandteile einer ganz mangelhaften Toilette; auf dem Tische einige Bücher, die mit Staub bedeckt waren und deshalb ahnen ließen, daß Jeronimo noch aus sich selbst Trost und Unterhaltung schöpfen konnte.

Als Luigi eintrat, sprang sein verlassener Bruder auf, grüßte mit einer mechanischen Höflichkeit, für welche er[74] selbst keinen Grund wußte, räumte schnell einen Stuhl ab und schob ihn zurück, um seinem Besuche Platz zu machen.

»Ist sie wohl?« war seine erste Frage. Luigi bejahte sie mit dem Lächeln eines Mannes, der hier gleichsam sagen wollte: Es hängt alles von dir ab! oder: Du kannst Vorteil davon ziehen!

Aber Jeronimo war nicht so starken Glaubens. »Sie liebt mich nicht!« rief er aus, »sie ist grausam und kalt! Man sieht, daß ein solches Herz nur im Norden geboren werden konnte.«

»Was hängst du auch, mein Sohn!« entgegnete Luigi, »dieser Grille nach? Warum sich einer Leidenschaft hingeben, welche ohne alle innere Begründung ist und die nur dazu dient, dein ganzes Leben zu verwirren?«

»Sie läßt mich nicht mehr vor!«

»Du zwingst sie dazu; denn Sie liebt mich von Herzen. Was richtest du an! Du bist in der glänzendsten Lage, bist reich, jung, hast eine ausgesuchte Bildung; warum entziehst du dich der Gesellschaft? Warum diese schlechte Wohnung, die dich um deine Annehmlichkeiten und mich um meinen Kredit bringt? Warum dieser vernachlässigte Aufzug, welcher eher dem eines Industrieritters und Bankeruttiers gleicht als dem Range und dem Geiste, den du besitzest?«

»Du bist sehr boshaft, Bruder!« sagte Jeronimo, den ein Vernunftfunke durchleuchtete. »Wenn ich mich vernachlässige, so bist du schuld daran, meine Liebe wahrlich nicht, welche nur dazu dient, das Unglückliche meiner Lage mich weniger herb fühlen zu lassen. Wer spiegelt mir die Ungeheuern Verluste vor, die mein Vermögen soll erlitten haben?«

»Ungerechte Beschuldigung!«

»O sieh, Luigi! ich blicke tief in dein Inneres. Dein Geiz[75] ist die Triebfeder deiner Schlechtigkeit. Du hast dir immer das Ansehen gegeben, mein Beschützer zu sein, und wahrlich, du machtest dich vortrefflich dafür bezahlt. Ich würde wahrhaftig keine deiner ehrlosen Intriguen zugeben, Mann, wenn ich mir Besonnenheit und Festigkeit des Willens in meiner jetzigen Lage erhalten hätte.«

»So ungerecht sprichst du zu einem Bruder, der für dich sorgt, Jeronimo? Der niemals in dieses verfluchte Schmutznest tritt, ohne von den Geldrollen in seiner Tasche einen schweren Tritt zu haben. Wann komm' ich leer? Ich biete dir alles an: ich beschwöre dich an zunehmen. Auch jetzt: siehe! nimm! aber wache über deine Ausdrücke, die mein Herz verwunden und der Welt Veranlassung zu einem falschen Urteil geben können.«

»Oh, damit schläferst du dein Gewissen ein, mit diesen Geldrollen, welche hier liegen und von mir nicht geachtet werden, weil ich keine Bedürfnisse mehr habe! Man hat gut von Reichtümern zu einem Manne reden, der das Gelübde der Armut ablegte. Was fürchtest du wohl mehr, Prahler, als meine erwachende Lebenslust? Sie kann niemals kommen, Glücklicher! Du siehst mich dem Tode entgegenreisen und hoffest, bald der Sorge um einen Menschen enthoben zu sein, von dem ich selbst gestehe, daß er für menschliche Berührungen und das im Dasein Gewöhnliche kein Kettenglied mehr ist. Du aber warst es, der mich um Wally betrogen hat.«

»Lenk' ich die Neigungen dieser schwer zu zügelnden Frau?«

»O Mensch, Bruder, du warst auch als Gatte schlecht genug, mir Hoffnungen zu machen.«

»Verächtlicher!« rief Luigi und sprang vom Sitze auf.

»Oh, setze sie vor dein kahlgewaschenes Antlitz, die Maske der Entrüstung! Dein Weib mußte der Blitzableiter meiner gewitterdrohenden Neigungen und der Hagelwetter werden, welche mein Vermögen ruinieren konnten. Dein Geiz sah alles vorher. Ein teuflisches Spiel hast du mit mir getrieben. Zu den Beleidigungen fügtest[76] du noch meine Entnervung, meine Unfähigkeit, mich für sie zu rächen, hinzu!«

Und das sagte Jeronimo mit Recht. Denn wie richtig er auch das Benehmen seines Bruders, diese Manier, ihn zu beobachten und in der Hand zu haben, durchschaute, so war er doch in seiner Willenskraft wie gelähmt. Eine unerwiderte Neigung hatte ihn zu Boden geworfen. Er war keines Entschlusses fähig, wenn sein Bruder so schlecht handelte, ihm wieder eine neue Hoffnung zu machen. So lächelte Luigi auch hier, nahm die Geldrollen und ließ, indem er sie einsteckte, wie zufällig die Schleife eines blauen Damenkleides aus ihr herausfallen. Jeronimo fing sie auf und preßte sie an seine Lippen. Sie war von Wally, ein Raub in derselben Art, wie ihn ihr Gatte oft mit verstellten Zärtlichkeiten beging. Während Jeronimo im Entzücken dieses Besitzes schwelgte, fand Luigi Muße, sich ohne Geräusch zu entfernen.

Als er dicht bei seinem Hotel war, öffnete sich die Tür desselben, und einer seiner Bedienten trat heraus, ohne ihn zu bemerken. Ein junger Mann sprang auf den flüchtigen Burschen zu, hielt ihn an und fragte ihn dringend, indem er etwas durch Geld belohnte, was noch kommen sollte: »Ist die Gräfin zu Hause?«

»Ich glaube nicht.«

»Sei aufrichtig: ich muß es wissen!«

»Sie ist bei der Vicomtesse von Hericourt.«

»Dort kann ich sie nicht sprechen. Sie war krank?«

»Wer? Die Gräfin? Freilich; sie ist vor einer Woche vom hitzigen Fieber genesen.«

»Gerechter Gott! Wie lebt sie denn im Hause? Hat sie viel Vergnügungen?«

»Sie wissen wohl, hierin läßt sie sich nichts entgehen. Sie glauben, Herr Baron, ich kenne Sie nicht? Wie oft waren Sie bei der Gräfin, als ich noch mit ihr Manêge ritt.«

»Du kennst mich? Sage ihr nicht, daß du mich gesehen hast: morgen aber hilfst du mir, sie ohne Zeremoniell und weitläufige Anmeldung sprechen zu können!«[77]

Der Gesandte sah dem forteilenden Fremden nach. Er erkannte ihn als einen Deutschen, dem er früher begegnet sein mußte. Der Bediente gab ihm den Namen an; doch hatte er nie gewußt, daß dieser mit Wally in einer Verbindung gestanden hätte. Er trat in sein Hotel.

Quelle:
Karl Gutzkow: Wally, die Zweiflerin. Stuttgart 1979, S. 74-78.
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