Die Bücher der Zeiten

[68] Herr! Herr!

Unterwunden hab ich mich,

Zu singen dir

Bebenden Lobgesang.


Dort oben

In all der Himmel höchstem Himmel,

Hoch über dem Siriusstern,

Hoch über Uranus Scheitel,


Wo von Anbeginn

Wandelte der heilige Seraph

Mit feirender, erbebender Anbetung

Ums Heiligtum des Unnennbaren,


Da steht im Heiligtum ein Buch

Und im Buche geschrieben

All die Millionenreihen

Menschentage –


Da steht geschrieben –


Länderverwüstung und Völkerverheerung,

Und feindliches Kriegergemetzel,

Und würgende Könige –

Mit Roß und Wagen,

Und Reuter und Waffen,

Und Szepter um sich her;[69]

Und giftge Tyrannen,

Mit grimmigem Stachel,

Tief in der Unschuld Herz.

Und schröckliche Fluten

Verschlingend die Frommen,

Verschlingend die Sünder,

Zerreißend die Häuser

Der Frommen, der Sünder.

Und fressende Feuer –

Paläste und Türme

Mit ehernen Toren,

Gigantischen Mauern

Zernichtend im Augenblick.

Geöffnete Erden

Mit schwefelndem Rachen

Ins rauchende Dunkel

Den Vater, die Kinder,

Die Mutter, den Säugling,

In Wehegeröchel

Und Sterbegewinsel

Hinuntergurgelnd. –


Da steht geschrieben


Vatermord! Brudermord!

Säuglinge blaugewürgt!

Greulich! Greulich!

Um ein Linsengericht

Därmzerfressendes Gift

Dem guten, sicheren Freund gemischt. –

Hohlaugigte Krüppel,

Ihrer Onansschande

Teuflische Opfer –.[70]

Kannibalen

Von Menschenbraten gemästet –

Nagend an Menschengebein,

Aus Menschenschädel saufend

Rauchendes Menschenblut.

Wütendes Schmerzgeschrei

Der Geschlachteten über dem

Bauchzerschlitzenden Messer.

Des Feindes Jauchzen

Über dem Wohlgeruch,

Welcher warm dampft

Aus dem Eingeweid. –


Da steht geschrieben –

Die Verzweiflung schwarz

Am Strick um Mitternacht

Noch im quälenden Lebenskampf

Die Seel – am höllenahenden Augenblick.


Da steht geschrieben –


Der Vater verlassend

Weib und Kind im Hunger,

Zustürzend im Taumel

Dem lockenden süßlichen Lasterarm. –

Im Staub das Verdienst

Zurück von der Ehre

Ins Elend gestoßen

Vom Betrüger –

Im Lumpengewand

Einher der Wanderer,

Bettelnahrung zu suchen

Dem zerstümmelten Gliederbau.
[71]

Da steht geschrieben

Des heitern, rosigen Mädchens

Grabenaher Fieberkampf;

Der Mutter Händeringen,

Des donnergerührten Jünglings

Wilde stumme Betäubung.


(Eine Pause im Gefühl)


Furchtbarer, Furchtbarer!

Das all, all im Buche geschrieben,

Furchtbarer, Furchtbarer!


Ha die Greuel des Erdgeschlechts!

Richter! Richter!

Warum vertilgt mit dem Flammenschwert

All die Greuel von der Erde

Der Todesengel nicht?


Gerechter, sieh, die Gerichte

Treffen den Frommen, den Sünder,

Die Fluten, die Feuer,

Die Erdegerichte all.


Aber sieh, ich schweige –

Das sei dir Lobgesang!

Du, der du lenkst

Mit weiser, weiser Allmachtshand

Das bunte Zeitengewimmel.


(Wieder eine Pause)
[72]

Halleluja, Halleluja,

Der da denkt

Das bunte Zeitengewimmel,

Ist Liebe!!!

Hörs Himmel und Erde!

Unbegreiflich Liebe!


Es steht im Heiligtum ein Buch

Und im Buche geschrieben

All die Millionenreihen

Menschentage –


Da steht geschrieben


Jesus Christus Kreuzestod!

Des Sohnes Gottes Kreuzestod!

Des Lamms auf dem Throne Kreuzestod!

Selig zu machen alle Welt,

Engelswonne zu geben

Seinen Glaubigen. –

Der Seraphim, Cherubim

Staunende Still

Weit in den Himmelsgefilden umher –

Des Harfenklangs Verstummen,

Kaum atmend der Strom ums Heiligtum.

Anbetung – Anbetung –

Über des Sohnes Werk,

Welcher erlöst

Ein gefallen Greuelgeschlecht.


Da steht geschrieben –


Der gestorben ist,

Jesus Christus,[73]

Abschüttelnd im Felsen den Tod!

Heraus in der Gotteskraft Allgewalt!

Und lebend – lebend –

Zu rufen dereinst dem Staub:

Kommet wieder, Menschenkinder!

Jetzt tönt die Posaun

Ins unabsehliche Menschengewimmel

Zum Richtstuhl hinan! Zum Richtstuhl!

Zum Lohn, der aufstellt

Der Gerechtigkeit Gleichgewicht!


Jammerst du jetzt noch, Frommer?

Unter der Menschheit Druck?

Und, Spötter, spottest du

In tanzenden Freuden

Noch des furchtbarn Richtstuhls?


Da steht geschrieben –


Menschliches Riesenwerk,

Stattlich einherzugehn

Auf Meerestiefen!

Ozeanswanderer! Stürmebezwinger!

Schnell mit der Winde Fron

Niegesehene Meere

Ferne von Menschen und Land

Mit stolzen brausenden Segeln

Und schaurlichen Masten durchkreuzend.

Leviathanserleger

Lachend des Eisgebürgs,

Weltenentdecker

Niegedacht von Anbeginn.
[74]

Da steht geschrieben –


Völkersegen,

Brots die Fülle,

Lustgefilde

Überall –

Allweit Freude

Niederströmend

Von der guten

Fürstenhand.

Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 68-75.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon