Einladung

[239] Seinem Freund Neuffer


Dein Morgen, Bruder, ging so schön hervor,


Ein heitres Frührot glänzte dir entgegen,

Den wonnevollsten Lebenstag verheißend.

Die Musen weihten dich zu ihrem Priester,

Die Liebe kränzte dir das Haupt mit Rosen,

Und goß die reinsten Freuden in dein Herz.

Wer war wie du beglückt? Das Schicksal hat

Es anders nun gemacht; ein schwarzer Sturm

Verschlang des Tages Licht; der Donner rollte

Und traf dein sichres Haupt; im Grabe liegt,

Was du geliebt; dein Eden ist vernichtet.


O Bruder, Bruder, daß dein Schicksal mir


So schrecklichwahr des Lebens Wechsel deutet!

Daß Disteln hinter Blumengängen lauern,

Daß giftger Tod in Jugendadern schleicht,

Daß bittre Trennung selbst den Freunden oft

Den armen Trost versagt, den Schmerz zu teilen!

Da baun wir Plane, träumen so entzückt

Vom nahen Ziel, und plötzlich, plötzlich zuckt

Ein Blitz herab, und öffnet uns das Grab.

Ich sah im Geist dein Leiden all. Da ging

Ich trüben Blicks hinab am Maingestade,

Sah in die Wogen, bis mir schwindelte,

Und kehrte still und voll der dunkeln Zukunft,[240]

Und voll des Schicksals, welches unser wartet,

Beim Untergang der Sonn in meine Klause.


O Bruder, komm nach jahrelanger Trennung


An meine Brust! Vielleicht gelingt es uns,

Noch einen jener schönen Abende,

Die wir so oft am Herzen der Natur

Mit reinem Sinn und mit Gesang gefeiert,

Zurück zu zaubern, und noch einmal froh

Hinein zu schauen in das Leben! Komm,

Es wartet dein ein eigen Deckelglas,

Stiefmütterlich soll nicht mein Fäßchen fließen.

Es wartet dein ein freundliches Gemach,

Wo unsre Herzen liebend sich ergießen!

Komm, eh der Herbst der Gärten Schmuck verderbt,

Bevor die schönen Tage von uns eilen,

Und laß durch Freundschaft uns des Herzens Wunden heilen.


Quelle:
Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Stuttgart 1946, S. 239-241.
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