An Sangrich

[100] Noch wohnet Unschuld, die von der Marn' entfloh,

In deutschen Mädchen. Tugend und Sanftmuth blickt

Aus ihren großen blauen Augen,

Wo sich der Engel, die Seele, spiegelt.


Nicht Purpurrosen, welche die Schminke schafft,

Entknospen auf den Wangen der Mädchen sich;

Die mögen auf den Wangen Deiner

Töchter, Lutetien, sich entfalten!


Die süße Röthe schüchterner Sittsamkeit

Umströmt ihr Antlitz, wenn sich der Jüngling naht,

Den ihre Seelen lieben, und dann

Blicke den Blicken entgegenschmachten.


Ein freudenseelig Lächeln entschwebet oft

Den Grübchen ihrer Wangen und blitzet flugs

Ein Eden in die Brust – – O Wonne!

Wonne dem Sänger der deutschen Mädchen!


Sie lieben deutsche Lieder, beseelen oft

Klavier und Laute, gießen den Silberstrom

Des Zaubersangs darinn – – O Wonne!

Wonne dem Sänger der deutschen Mädchen!


Sey, Freund, ihr Sänger! Mutter Natur verlieh

Dir zart Gefühl und zaubernden Harfengriff;

Es wandeln sich ob Deinen Liedern

Stürme des Busens ins Westgesäusel.
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Besing die Wonnen, welche die Liebe giebt,

Der Tugend Schwester, wenn sich der Geist besäuft,

Durch tausend Irren schwankt, dem offnen

Himmel der Himmel entgegentaumelt.


Lobpreis' auch Unschuld, Unschuld, den Genius

Der deutschen Mädchen; Sänger, Dein süßes Lied

Soll einst das Mädchen wirbeln, das mich

Künftig, so flüstert mein Engel, liebet;


In Blüthenlauben wirbeln, wenn Dämmerung

Beströmt mit Röthe winket – – Wir kosen dann

Den Abendstern ins Meer hinunter,

Kosen von Dir und unsrer Freundschaft.
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Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 100-102.
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