Die Liebe

[141] Eine Schale des Harms, eine der Freuden wog

Gott dem Menschengeschlecht; aber der lastende

Kummer senket die Schale,

Immer hebet die andre sich.


Irren, traurigen Tritts wanken wir unsern Weg

Durch das Leben hinab, bis sich die Liebe naht,

Eine Fülle der Freuden

In die steigende Schale streut.


Wie dem Pilger der Quell silbern entgegenrinnt,

Wie der Regen des Mays über die Blüthen träuft,

Naht die Liebe; des Jünglings

Seele zittert, und huldigt ihr!


Nähm' er Kronen und Gold, mißte der Liebe? Gold

Ist ihm fliegende Spreu; Kronen ein Flittertand;

Alle Hoheit der Erde,

Sonder herzliche Liebe, Staub.


Loos der Engel! Kein Sturm düstert die Seelenruh

Des Beglückten! Der Tag hüllt sich in lichters Blau,

Kuß, und Flüstern und Lächeln

Flügelt Stunden an Stunden fort.


Herrscher neideten ihn, kosteten sie des Glücks,

Das dem liebenden ward; würfen den Königsstab

Aus den Händen, und suchten

Sich ein friedliches Hüttendach.


Unter Rosengesträuch spielet ein Quell, und mischt

Dem begegnenden Bach Silber. So strömen flugs

Seel' und Seele zusammen,

Wenn allmächtige Liebe naht.
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Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 141-142.
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