Hymnus an die Morgensonne

[44] Dämmrung kleidet den Hayn in ihr graues Gewand,

Und die Kerzen der Nacht, die den Himmel beglänzt,

Legen den Schleyer an, den der kommende Tag

Rings um alle Gestirne webt.


Schweigen herrschet umher, nur posaunet der Hahn

Seinen Morgengesang, und erwecket das Dorf,

Und erwecket den Tag, der sein graulichtes Aug

Schon allmählig zu öffnen beginnt.


Welche Nymphe besteigt itzt das rothe Gewölk,

Mit der Krone von Gold? Rosen bekränzen ihr Haar,

Wo die Göttliche geht, keimen Blumen hervor,

Füllen Balsamgerüche die Luft.


Sie bemahlet den Ost. Ists Aurora? Sie ists,

Sie, die Bothin des Tags! Freude tanzet ihr vor,

Heller wirbelt der Hayn, lauter gurgelt der Bach,

Durchs Gewinde des Veilchenthals.


Sie bestreuet die Bahn, welche die Sonne betritt,

Schon mit röthlichten und mit goldenen

Blumen, wandelt voran, mit dem Körbchen am Arm,

Den ihr Flora mit Rosen gefüllt.


Sonne, was harrest du? Wandle der Schwester nach,

Die ihr Körbchen bereits ganz von Blumen geleert,

Geh aus deinem Gezelt, Mutter des Tags! hervor,

Und befunkle den Silberbach.


Sie zerreißet den Schleyr, der ihr Auge verhüllt,

Zeigt die blitzende Stirn, hebt ihr funkelndes Haupt,

Welches die goldenen Locken umfliegen, empor,

Blicket Munterkeit über die Flur.
[44]

Heil dir, Mutter des Lichts! Sie beschimmert den Hayn,

Der, am Fittig des Winds, auf dem Gebirge nickt,

Prägt ihr lachendes Bild in den Spiegel des Bachs,

Röthet die Busen des Blumenvolks.


Wie der Puls der Natur itzt so jugendlich klopft!

Wie des Waldes Musik von den Wipfeln ertönt!

Wie die Blume stolziert, und ihr seidenes Kleid

In vergoldeten Purpur taucht!


Durch dein Lächeln erweckt, Wolkenbewandlerin!

Schreitet der rege Fleiß durch das Aehrengefild,

Mengt das Sichelgeräusch, und ein fröhliges Lied,

In das Morgengeflüster des Hayns.


Langsam wandelt der Hirt, und der Schäfer aufs Feld,

Über den Morgenthau, welcher den Blumen entrollt,

Spielt auf seiner Schalmey süße Zufriedenheit,

Und begrüßet den jungen Tag.


Fröhlich steht er am Bach. Um ihn tanzet die Ruh

Durch der Blumen Gewühl, hüpfet im Sonnenschein

Jedes zitternde Blat, welches Entzückung spricht,

Flüstert Vergnügen in seine Brust.


Wär ich Schäfer, wie er! könnt ich am Bache ruhn,

Wenn die Sonne dem Schoos rother Wogen entsteigt,

Und ihr funkelndes Bild in den Wellchen des Bachs,

In den Perlen der Wiese sehn!


Dir, o Mutter Natur, klänge mein Harfenspiel!

Seeliger wär ich dann, als ein Harpagon ist,

Dem ein Kasten voll Gold, und ein Busen voll Sturm,

Vom Geschicke zum Loose fiel.
[45]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 44-46.
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