Maylied

[225] Tanzt dem schönen May entgegen,

Der des Waldes Haar verneut,

Roth und weiße Farbenbögen

Auf des Fruchtbaums Wipfel streut,

Mit dem goldverbrämten Schleier,

Wartende Gefilde deckt!

Singt ihm Hymnen in die Leyer,

Der den Schlaf der Freude weckt!


Tanzt daher, am Arm der Schöne,

Der ein treuer Busen fröhnt,

Menget Lieder ins Getöne,

Das die Morgenglocke tönt,

Ins Geschwirr der Espenblätter,

Und erweckt den Wiederklang!

Er, der Freund der Liebesgötter,

Heischet Opfer und Gesang.


Bringet ihm in grünen Schatten,

Eure Frühlingsopfer dar,

Junge neuvermählte Gatten,

Auf der Liebe Festaltar:

Küße, wenn des Hahns Drommete

Das umbüschte Dörfchen weckt,

Küße, wenn die Abendröthe

Jeden Baum mit Purpur deckt.


Flieht, ihr schönen Städterinnen,

Eurer Städte goldne Kluft,

Eurer Kerker hohe Zinnen,

Trinket frische Mayenluft![225]

Irrt, mit eurem Sonnenhütgen,

Auf die Frühlingsflur hinaus!

Singt ein frölich Mayenliedgen,

Pflücket einen Busenstraus!


Schmückt mit Kirschenblüthenzweigen

Euren grünen Sonnenhut,

Schürzt das Röckchen, tanzet Reigen,

Wie die Schäferjugend thut!

Gaukelt in der Kirschenblüthe,

Zephyrn, eure Flügel matt,

Haucht auf ihre Sonnenhüte

Manches weiße Blüthenblatt.
[226]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 225-227.
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