Minneglück

[114] Wie war ich doch so seldenreich,

Dem Kayser und dem König gleich,

In meinen Minnejahren,

Als Julie, das schönste Kind,

Schön, wie die lieben Engel sind,

Und ich beysammen waren.


Ich sah sie, wann die Vögellein

Dem Morgen trillerten im Hayn,

Ach Gott, mit welcher Freude,

Bald vor dem offnen Fenster stehn,

Bald durch den bunten Anger gehn,

Ach Gott, mit welcher Freude!


Ich sah sie, wann die Sonne floh,

Der linden Maienkühle froh,

In ihrem Blumengarten,

Gleich Even, vor dem Sündenfall,

Begrüßet von der Nachtigall,

Der jungen Blümchen warten.


Sie gab mir manchen Minneblick,

Zog niemahls ihre Hand zurück,

Wann ich die Hand ihr drückte,[114]

Sah immer aus wie Milch und Blut,

War immer froh und wohlgemuth,

So oft ich sie erblickte.


Wie war ich doch so seldenreich,

Dem Kayser und dem König gleich,

In meinen Minnejahren,

Als Julie, das schönste Kind,

Schön, wie die lieben Engel sind,

Und ich beysammen waren!
[115]

Quelle:
Ludwig Christoph Heinrich Hölty: Sämtliche Werke. Band 1, Weimar 1914, S. 114-116.
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