Siebenzigstes Kapitel.

Marie und Clara.

[248] Ob das Erschrecken Arthurs bei ihrem Anblick oder das Erstaunen des jungen Mädchens größer gewesen, als Beide sich nun so auf einmal hier Auge gegen Auge gegenüber standen, ist wohl schwer anzugeben. Aus Beider Herzen stiegen seltsame Gedanken, aus dem seinen bittere, traurige, und auch ihre Ueberraschung war keine frohe zu nennen. – »Was macht er hier,« dachte sie, »in dem Hause, das ich nur scheu und zitternd betreten, einzig und allein in der edlen Absicht, der dahin geschiedenen Freundin den letzten Liebesdienst zu erzeigen?« Er biß heftig auf seine Lippen,[248] indem er zu sich sagte: »Ah! es ist Alles so, wie ich erfahren; sie geht hier ein und aus.«

Obgleich Madame Becker aus dem vorhergehenden Gespräch wohl entnommen, daß er ein Interesse an dem Mädchen nahm, so hatte sie doch keine Ahnung davon, wie genau Beide mit einander bekannt seien, und hielt es auf alle Fälle für schicklich, »den Herrn Baron – einen ihrer Bekannten« der Tänzerin vorzustellen.

Zuerst wollte Arthur gegen den Titel eines Bekannten protestiren und hätte es vor ein paar Tagen noch lachend und eifrig gethan, jetzt aber, von der Untreue und Schlechtigkeit Clara's überzeugt, dachte er: »Ei, das wird mich in ihren Augen nicht heruntersetzen, und es soll mir ganz gleichgiltig sein, ob ich auf diese Art vor ihr kompromittirt werde.«

Die Vorstellung der Madame Becker und der plötzliche Anblick Arthurs hier in diesem Hause hatten aber auf das junge Mädchen erschreckend gewirkt; sie war, jedoch unmerklich, zusammen gezuckt, ein tiefes, unerklärliches Weh durchzog ihr Herz, und ihr Gesicht, ohnedies heute nicht frisch und rosig wie sonst, sah bleich und erschreckt aus.

Ihm waren das Beweise ihrer Schuld, und wenn sich auch seine Hand unter dem Tische krampfhaft zusammenballte, so bezwang er sich doch, stand lächelnd auf und sagte, indem er eine leichte Verbeugung machte, es freue ihn sehr, die schöne Tänzerin, Fräulein Clara Staiger – hier so unverhofft zu sehen.

Dem Mädchen war dieser Ton und der kalte Blick, womit er begleitet war, freilich räthselhaft; daß er unter diesem Besuche hier im Hause etwas Anderes vermuthen könnte, fiel ihr gar nicht ein; sie begriff nicht, daß Arthur im Stande wäre, ihr reines Herz, das sie ihm so offen hingelegt, zu verkennen. Und da sie sich rein wußte, frei von jeder Schuld, so bezog sie ihrerseits wieder sein verändertes Benehmen auf seine Verlegenheit, daß sie ihn hier bei der Madame Becker gesehen; denn er hatte ihr ja nie[249] gesagt, daß er diese Frau kenne. Viel weiter dachte dieses reine, arglose Herz natürlich nicht.

Uebrigens war es für alle Drei ein peinlicher Moment; sogar Madame Becker hatte ihre gewohnte Sicherheit verloren und meinte ziemlich linkisch, der Herr Baron möchten doch nur Platz behalten und sich vor der Fräulein Clara gar nicht geniren. – »Ach!« seufzte sie und machte dazu einen neuen, aber gänzlich vergeblichen Versuch, ihren trockenen Augen einige Thränen zu entpressen, »sie war mit meiner armen Marie wie ein Leib und eine Seele.«

Arthur, der es nicht über sich vermochte, wie er es im ersten Augenblicke gewollt, das Zimmer schnell und stürmisch zu verlassen, wollte auch etwas sagen und erkundigte sich nach dem schrecklichen Vorfalle im Theater, von dem er ja selbst Zeuge gewesen und über welchen er von seinem Bruder die beste Auskunft erhalten hatte. Es war ihm auch ganz recht, als ihm Madame Becker ein Langes und Breites darüber erzählte, und wenn er dabei, scheinbar mit gespannter Aufmerksamkeit, an ihren Lippen hing, so zeigte doch sein mühsames, ungestümes Athemholen, sowie das Umherirren seiner Augen, daß sein Geist mit ganz anderen Sachen beschäftigt sei.

Clara fühlte das wohl und sie folgte angstvoll seinen wilden Blicken, und wenn hie und da einer derselben sie traf, so zuckte sie wiederholt zusammen und schlug ihre Augen nieder.

»Ja, Herr Baron,« sagte die Becker schluchzend, »so traf mich dieses entsetzliche Unglück. Hier aus dieser Stube ging das arme Mädchen heiter und wohl, in voller Gesundheit, und ein paar Stunden nachher brachten sie sie sterbend zurück. Du Gott im Himmel! womit habe ich das verdient!«

Arthur zuckte die Achseln und bat die Frau in der höflichsten Art, ihre Thränen gefälligst trocknen zu wollen und ihren Schmerz zu mäßigen. Er brachte auch allerlei Gemeinplätze vor, als: das Schicksal nehme nun einmal seinen traurigen Lauf, was beschlossen, sei nicht zu ändern, Alles in der Welt, selbst das Entsetzlichste, sei[250] am Ende doch zu etwas gut – und bei diesen letzten Worten blickte er nach Clara, die ihre Hände gefaltet hielt und leicht mit dem Kopfe schüttelte; denn so kalt hatte sie ihn nie sprechen gehört.

»Haben Sie die Marie gekannt?« fragte Madame Becker nach einer Pause, während welcher sie ihre Thränen getrocknet hatte.

»O ja, ich erinnere mich ihrer, ich sah sie häufig; es war ein schönes, blühendes Mädchen.«

»Das war sie,« sagte eifrig die Frau, »und jetzt, da sie todt daliegt, ach! ganz todt, ganz todt, sollte man das nicht glauben; man meint, sie schlafe nur. Wenn es Ihnen keinen Schauder macht, Herr Baron, etwas Todtes zu sehen, so sollten Sie wirklich hinein gehen und sich das arme Kind betrachten.«

»Warum sollte mir der Anblick von unser aller Ende unangenehm sein!« erwiderte der junge Mann mit leiser Stimme. »Wenn es Ihren Schmerz nicht zu sehr wieder aufregt, so würde ich Sie bitten, mich hinein zu führen.«

»Ach ja, es wird meinen Schmerz sehr aufregen,« versetzte die Frau mit affektirter Bewegung. »Ach! der Anblick des armen bleichen Gesichtes bringt mich noch unter den Boden!«

»Wenn es dem Herrn – – gleichgiltig wäre,« meinte schüchtern die Tänzerin, »so würde ich ihn zu Marie hinein führen.«

»Ah! das wollten Sie?« sagte Arthur mit einem schrecklichen, fast lustigen Tone. »Gewiß, ich nehme Ihre Begleitung an. Der Himmel soll mich bewahren, den Schmerz dieser unglücklichen Frau zu vergrößern!«

Clara neigte still ihr Haupt und schritt ohne ein Wort zu sprechen in das Nebenzimmer.

Arthur folgte ihr.

Es war dasselbe, aus dessen Fenstern in der gestrigen Nacht der schwache Lichtschimmer auf die Straße hinaus gezittert hatte; der Docht in der kleinen Lampe, welche ihn erzeugt, brannte auch heute noch; man hatte vielleicht vergessen, das Licht auszulöschen oder[251] man hatte sein mattes Aufflackern und ersterbendes Zusammensinken hier im Zimmer der Todten für passend erachtet. Auf einer Erhöhung am Boden lag die Leiche des jungen Mädchens, weiß gekleidet, die wachsbleichen Hände gefaltet; um den Kopf hatte sie einen Kranz von weißen Blüthen und rings um sie her lagen Blumen, bald einzeln, bald in Bouquets zusammen gebunden. Man hatte die arme Marie noch nicht in ihr letztes trauriges Haus gelegt, und wenn man sie so betrachtete, wie sie auf den weißen Kissen dalag, so hätte man auch der Frau draußen wirklich Recht geben können, als sie sagte, man glaube, das Mädchen schlafe nur. Obgleich ihr bleiches Gesicht schon jenen eigenthümlichen aschfarbenen Ton angenommen hatte, so war doch von der Röthe ihrer Wangen etwas übrig geblieben, ungefähr wie der leichte Schimmer inmitten einer weißen verwelkten Rosenknospe. Auch die Lippen sahen noch frisch und roth aus, und die Augenlider hatten nichts Eingefallenes und Starres; sie schienen leicht herabgesunken und zeichneten sich nur scharf ab durch die langen schwarzen, seidenartigen Haare der Wimpern.

Wenn auch Arthur durchaus von keinem Gefühl des Schauders ergriffen war, so zog sich doch sein Herz wie krampfhaft zusammen, als er neben der Mädchenleiche stand; ja, als er sah, wie sich Clara über sie niederbeugte und ihre kalte Stirn küßte, athmete er kürzer und immer kürzer, ein leichtes Frösteln überflog seinen Körper und demselben folgten wohlthätige heiße Thränen. Ja, heute waren sie für ihn wohlthätig und beruhigend, es waren ja nicht mehr die Thränen des Hasses und der Wuth, die er gestern Nacht geweint, auflösende Wehmuth und Trauer hatten sich seines Herzens bemächtigt, und wenn er auch ebenso tief fühlte, was er verloren, so dachte er weniger an seinen eigenen Verlust, als an das Verderben jener armen Seele.

Clara blickte zu ihm empor und sagte nach längerem Stillschweigen: »Ach! sie war sehr unglücklich geworden, die arme[252] Marie! er liebte sie so innig und sie sollte ihm nicht angehören dürfen.«

»Das ist allerdings sehr, sehr traurig,« versetzte Arthur kaum hörbar. »Aber warum durfte sie ihm nicht angehören.«

»Ich weiß das nicht so genau; aber ich glaube, ihre Tante wollte sie zwingen, gegen einen Andern freundlich zu sein.«

»Und sie ließ sich zwingen?«

»Ach! die Ueberredung.«

»Ja – richtig, die Ueberredung! – Und er hat es erfahren, daß sie ihm treulos geworden?«

»Ja, er hat es erfahren. Schwindelmann sagte es ihm; und der that sehr Unrecht, denn Marie dachte nicht daran, treulos zu werden. Wissen Sie aber wohl, Herr Erichsen, aller Schein war gegen sie und das ist sehr schlimm!«

»Herr Erichsen hat sie mich lange nicht mehr genannt,« dachte Arthur. – »Sehr schlimm,« versetzte er darauf.

»Es ist für ihn ein noch größeres Unglück, als für sie,« fuhr das Mädchen mit gefalteten Händen fort, indem sie einen Blick auf die Leiche warf; »sie ist ja todt und es kann sie Niemand mehr kränken oder foltern. Aber ihm geht das nach wie ein Gespenst; sie sagen auch, der Richard sei ganz tiefsinnig geworden, denn was man beim Theater munkelt, er habe das Tau absichtlich ausgleiten lassen, ist ihm zu Ohren gekommen.«

»Und was glauben Sie? Hat er es absichtlich gethan?«

»O gewiß nicht, Herr Erichsen; er war nur erschreckt, als ihm der Schwindelmann von ihrer Untreue erzählte. Ich glaube wohl, daß er da nicht mehr wußte, was er that, denn das muß ja schrecklich sein.«

»Meinen Sie das wirklich, Fräulein Clara?« fragte Arthur tief aufathmend.

»Warum nennt er mich Fräulein Clara?« dachte das junge Mädchen.[253]

»Sehen Sie,« fuhr er mit zitternder Stimme, aber deutlich betonend fort, »so etwas kommt im Leben häufig genug vor. – O um Gottes Barmherzigkeit willen, Clara, schauen Sie mich nicht so zweifelhaft an!« unterbrach er sich heftig – »häufig genug,« sprach er ruhiger; »Untreue bald von der, bald von der Seite. Aber nicht immer nimmt es ein so klägliches Ende wie hier. – Hören Sie mich deutlich an, Clara, denn ich spreche jetzt von Ihnen und nicht von der Todten; ich habe Ihnen absonderliche Dinge zu sagen.«

»Das habe ich Ihnen angesehen,« versetzte erschrocken das Mädchen.

»Ich kann mir denken, daß Sie es erwartet; aber es ist besser, wenn ich es Ihnen hier sage. Der Anblick des unglücklichen Geschöpfes da zwischen uns stimmt mich wehmüthiger und ruhiger; – sonst,« sprach er mit heftigem Tone, »müßte ich das, was ich Ihnen zu sagen habe, hinaus schreien mit lauter Stimme; wenn es in Ihres Vaters Hause geschähe, Clara – und geschehen muß es doch einmal – so müßte ich Ihren Vater bei der Hand fassen und ihn vielleicht mit verantwortlich machen, daß Sie mich – betrogen.«

»Herr Gott im Himmel!« schrie entsetzt die Tänzerin.

»Hier aber,« fuhr er mit weit aufgerissenen Augen fort, während seine Hände, die er gegen die Leiche ausstreckte, heftig erzitterten, »hier vor dieser da, muß ich mich bezwingen und darf nur flüstern. Aber Sie werden auch dieses Flüstern verstehen, Clara. – Ja,« sagte er nach einem tiefen Athemzuge, wobei er schmerzlich nach ihr hinblickte, »ja, Clara, du hast mich betrogen, entsetzlich betrogen. Weßhalb du es gethan – ich weiß es nicht. War es, weil dein Herz falsch ist, weil du mich nicht geliebt, war es eine Laune – Gott weiß es! Mir soll es, hoff' ich, ewig ein Geheimniß bleiben!«

Clara war neben der todten Marie auf die Kniee gesunken, blickte einen Augenblick entsetzt in die Höhe und verbarg ihr Gesicht in beide Hände.[254]

»Es ist,« fuhr er sanfter fort, »fast die gleiche Geschichte, wie mit dem armen Mädchen da, nur daß sie unschuldig ist. Aber als er von ihrer Untreue hörte, er, der sie gewiß nicht inniger liebte, als ich dich, er, der ihr kein besseres und glänzenderes Schicksal bereiten wollte, als ich dir – ließ er sie niederstürzen, wirklich niederstürzen, und sie zerschmetterte vor seinen Füßen. – Ich aber,« sagte er mit leiser, jedoch schrecklicher Stimme, »ich kann und will das Gleiche nicht thun, ich will dich nicht leiblich zu meinen Füßen niederstürzen sehen, kein Haar soll dir gekrümmt werden, nicht dein schönes Gesicht verunstaltet, kein Glied deines prächtigen Körpers beschädigt werden, obgleich du auch an mir hingst, von mir abhingst. – Aber auch ich zerreiße dies Band, auch ich lasse dich, wenn gleich im Geiste, zu meinen Füßen niederstürzen, und wenn ich mich von dir lossage, was hier feierlich vor dieser Todten geschieht« – dabei streckte er beide Hände weit von sich ab – »so wirst du vielleicht deinen Gott anflehen, er möge dir ein gleiches Schicksal zu Theil werden lassen, wie dieser da.«

Clara war unter der furchtbaren Last dieser Vorwürfe und entsetzlichen Reden mit dem Kopf auf die Leiche niedergesunken, und da es ihr unmöglich war, etwas zu antworten, so hatte sie nur flehend und wie schützend die Hände über ihr Haupt erhoben, als wolle sie dadurch den Fluch abwehren, den er auf dasselbe herabschleuderte. Als sie sich endlich wieder faßte, als sie rief: »Arthur! um Gotteswillen, Arthur!« und aufsprang, da war er verschwunden. Sie blickte zweifelnd in dem Zimmer umher, fuhr mit der Hand über die Augen und wollte sich einreden, sie habe hier bei der todten Marie einen schrecklichen Traum gehabt, und er sei in Wahrheit gar nicht da gewesen. – Oh! wenn dem so gewesen wäre!

Aber dem war nicht so. Madame Becker, die heftig erregt herein trat, sagte: »Hat sich die Leiche nicht bewegt, als Jener im Zimmer war? Das sollte so sein, wenn Gerechtigkeit wäre, sie hätte drohend die Hand gegen ihn aufheben sollen. O daß ich[255] ihn nicht früher gekannt, daß ich seinen Namen nicht gewußt! ich erfuhr ihn erst vorhin, als er wie toll zur Thüre hinaus stürzen wollte. – Clara, Clara!« wandte sie sich an diese, »nimm dich in Acht vor der Familie! Einer von ihnen ist schuld an dem Tode meiner Marie.«

»Und der Andere – wird schuld an dem meinigen sein!« seufzte das unglückliche Mädchen und legte ihr Gesicht auf die Hand der Todten, als suche sie hier Schutz und Trost.

Quelle:
Friedrich Wilhelm Hackländer: Europäisches Sklavenleben, 5 Bände, Band 4, in: F.W.Hackländer’s Werke. Stuttgart 31875, S. 248-256.
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